Êzîd*innen und das 73. Massaker

Ein Volk, der Sonne zugewandt

Botan Gulan

Als ISIS Irak und Syrien terrorisierte und Mûsil (Mosul) von der irakischen Armee okkupierte, war das von Êzîd*innen dicht besiedelte Zentrum von Şengal (Sindschar) mit fast 77 kleineren und größeren êzîdischen Dörfern um das Şengalgebirge herum eines der damals meistgefährdeten Gebiete. Nach der Besetzung Mûsils und Tal Afars kamen auch die turkmenischen und arabischen Schiit*innen ins Stadtzentrum. Sie und all diejenigen, die Zuflucht im Heiligen Land der Êzîd*innen suchten, die in ihrer Geschichte kein anderes Volk tyrannisiert haben, waren mit der durch den ISIS-Terror verursachten Gefahr konfrontiert. Bis zum 3. August 2014 besetzte ISIS vor den Augen der Welt die Gebiete Mûsil und Tal Afar, also einen Großteil der irakischen Provinz Ninive (Ninawa), und bereitete sich auf den Angriff auf Şengal vor.Tausende auf der Flucht vor dem Islamischen Staat IS | DIHA

Das 73. Massaker, wie Êzîd*innen es nennen, begann am 3. August nachts gegen zwei Uhr mit dem ISIS-Angriff auf die êzîdischen Dörfer Sîba Şêx Xidir und Til Izer im Kreis Tal Afar. Hier leisteten anfangs manche Peschmergakräfte gemeinsam mit Êzîd*innen fast drei Stunden lang Widerstand, aber dann zogen sich Peschmerga, Soldaten und Polizisten der irakischen Armee zurück und überließen die Êzîd*innen ihrem Schicksal. Aus diesem Grund entwickelte sich das 73. Massaker zu einem menschlichen Drama mit tragischen und schwerwiegenden Folgen. Im 21. Jahrhundert, in dem alle Werte der Menschheit und der Demokratie an Bedeutung gewinnen, wird eine Volksgruppe wegen ihres Glaubens ihrem Schicksal überlassen und wird zum Ziel der Auslöschung durch die Daaisch-(ISIS/IS-)Banden.

Nach dem Verrat, wie Êzîd*innen ihn nennen, also, nachdem sie »betrogen« worden waren, als sich Peschmergakräfte, die sie beschützen sollten, zurückgezogen hatten, verloren die Êzîd*innen ihre Kampf- und Widerstandskraft und waren gezwungen, in die Berge zu fliehen. Hunderttausende Êzîd*innen und Schiit*innen flohen um ihr Leben und in Panik aus der Stadt am Westhang der Şengalberge und aus Dutzenden Dörfern dieses Gebietes in Richtung Gebirge, das sie seit Hunderten von Jahren beschützt. Um sicheres Terrain zu erreichen, waren sie tagelang unterwegs. Das Ausmaß dieser Tragödie erfuhren wir erst dann, als wir das Şengalgebirge erreichten. Hunderttausende Êzîd*innen kämpften auf ihrem schweren Weg in die Berge tagelang mit Hunger und Durst, mindestens dreihundert Kinder und alte Frauen und Männer verloren deshalb ihr Leben. Mindestens dreitausend mit dem Rückzug der Peschmergakräfte wehrlos Zurückgelassene wurden von den Daaisch-Banden ermordet, mindestens fünftausend Frauen, junge Mädchen und Kinder entführt, in von ihnen kontrollierte Gebiete wie Mûsil und Tal Afar gebracht und auf dem Markt als Sklav*innen verkauft. Die genannten Zahlen sind zwar ungesichert, zeigen aber das Ausmaß dieser Tragödie.

Für Êzîd*innen, das einzige Volk, das sich am 3. August 2014 der Sonne zuwandte, die Hände öffnete und die Sonne anbetete, ging aber keine Sonne auf. Hunderttausende gingen fort. Êzîd*innen, die eigentlich nur in Freiheit ihren Glauben leben wollten, stand nach dieser Katastrophe eine schwere Belagerung auf den Bergen Şengals bevor. Die Daaisch-Banden wandten sich auch dem Şengalgebirge zu, um die in Şengal, der êzîdischen Pilgerstadt, Lebenden auszulöschen oder einen Genozid an ihnen zu begehen. Die Peschmergakräfte, mehrere Tausend, konnten den Daaisch-Banden nichts entgegensetzen und sieben Guerillas der Volksverteidigungskräfte (HPG) mussten einen außerordentlichen Kampf führen.

Diese Guerillas verhinderten das Eindringen der Daaisch-Banden in das Şengalgebirge und retteten somit einerseits Hunderttausende Êzîd*innen und Schiit*innen vor dem Genozid, andererseits gewannen sie dadurch das Vertrauen des êzîdischen Volkes und eroberten ihre Herzen. Wenn Êzîd*innen aus Şengal immer noch über dieses Blutbad und das 73. Massaker sprechen, dann äußern sie sich dankbar über die Guerilla, die den Daaisch-Banden den Weg versperrte und Hunderttausende rettete. Sie sagen, dass nicht alle Êzîd*innen in die Hände von Daaisch gefallen sind, hätten sie der PKK zu verdanken.

Da sowohl der Westen als auch der Norden der Şengalberge in der Hand der Daaisch-Banden waren, leisteten kurdische Êzîd*innen und arabische und turkmenische Schiit*innen, etwa 300 000, hartnäckigen Widerstand, als sie tagelang unter schwersten Bedingungen um ihr Leben kämpften. Vor allem für Kinder und Frauen war es ein großes Problem, dass es keinen Brunnen auf den Bergen gab und akuter Mangel an Wasser und Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Brot herrschte. In manchen Dörfern vorhandener Weizen wurde mit bloßer Hand verteilt. Die Frauen kochten ihn auf und fütterten damit ihre Kinder, damit sie nicht verhungerten. Die Schafe auf den Bergen wurden großzügig verteilt, geschlachtet, auf kleinem Feuer gebraten, halbroh verspeist, ohne Salz und ohne Brot, manche Menschen bekamen tagelang keinen Bissen zu essen. Diese Maßnahmen wurden getroffen, nur um sich auf den Beinen halten zu können und vor allem, damit die Kinder nicht vor Hunger starben. Außerdem müssen die pralle Wüstenhitze ohne jeglichen Schatten am Tage und die sehr kalten Nächte ohne die Möglichkeit, sich zudecken zu können, berücksichtigt werden. Die Êzîd*innen, froh darüber, ihr Leben gerettet zu haben, betrauerten stattdessen, dass sie manche Verwandte nicht mit auf die Berge nehmen konnten und Tausende, die sie nicht retten konnten, zurücklassen mussten. Es gibt Hunderte solcher undokumentierter Vorfälle und Erlebnisse. Êzîd*innen erlebten im tiefsten Innern, wie in größter Angst und Panik über sämtliche Berge hinweg sicheres Gebiet erreicht werden konnte.

Diese am 3. August begonnene Katastrophe dauerte an bis zur Eröffnung des von den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) aus Rojava errichteten Fluchtkorridors. Dann konnte den Menschen zumindest etwas die Angst genommen und neue Hoffnung geweckt werden, da die Guerillakräfte nach Erreichen des Şengalgebirges über den Fluchtkorridor manche Grundversorgung heranschaffen konnten.

Vom 7. bis zum 8. August wurden über den Korridor Hunderttausende Êzîd*innen vom Şengalgebirge nach Rojava auf sicheres Gebiet gebracht. Am ersten Tag nach der Eröffnung des Korridors flüchteten fast sechstausend Menschen zum Dorf Dugire am Westhang der Berge. Sie waren dann gezwungen, die Strecke von Dugire bis zu den sicheren Gebieten in Rojava und Cezaa zu Fuß zurückzulegen. Die Zurückgebliebenen mussten in Höhlen und Gebüschen um den Berg herum übernachten und ohne Essen und Trinken die etwa elfstündige Strecke bis zu den sicheren Gebieten in Rojava zu Fuß bewältigen. Dieses Bild von den Êzîd*innen und den Staubwolken, die sie auf diesem schwierigen Weg hinterließen, erinnerten mich an die Massaker vor hundert Jahren, vor allem an das Massaker von Dêrsim. Nur Ort und Zeit unterschieden sich. Nachdem die Fahrzeuge der Regierung und der Bevölkerung aus Rojava auf diese Weise die Berge erreicht hatten, begannen der Transport und die Evakuierung der Menschen, die bis zum 15./16. August andauerten. Täglich wurden Zehntausende nach Rojava und von dort aus in andere sichere Gebiete gebracht.

Nachdem Hunderttausende Êzîd*innen in sichere Gebiete gelangt waren, blieben etwa zehntausend auf den Bergen von Şengal zurück und kämpften weiterhin um ihr Leben. Sie sagten: »Wir verlassen unsere heiligen Orte nicht. Êzîd*innen und Şengal können nicht voneinander getrennt werden, sie sind unzertrennlich.«

Über Rojava gelangten einige Lebensmittel zu den auf den Şengalbergen Verbliebenen, doch die Daaisch-Banden, die den Fluchtkorridor angegriffen hatten, verursachten bereits nach kurzer Zeit dessen Sperrung. Somit unterlagen die Menschen aus Şengal auf dem Berg einer Blockade. Sie kämpften unter widrigen Bedingungen und mit wenigen Lebensmitteln trotz der winterlichen Verhältnisse vier Monate lang weiter. Êzîd*innen, über die große Heldensagen erzählt werden, schrieben ein neues Kapitel in ihrer Geschichte und verließen trotz allem nicht das Şengalgebirge mit seinen Grabdenkmälern Cilmera, Şêbil Qasim, Pirexa und Şerefedin.

Nach dieser Erhebung läuft die am 19. Dezember gestartete Operation gegen die ISIS-Kräfte nun seit einem Monat. Das Gebiet »Altes Şengal«, die Altstadt Şengals, ist vollständig unter der Kontrolle von HPG/YJA Star/YBŞ/YPG und Peschmerga­kräften. Während der Krieg andauert, setzen die Êzîd*innen infolge der Auswirkungen des 73. Massakers und der daraus gezogenen Lehren Meilensteine auf dem Weg der Geschichte.

Aus diesem Grund ist das 73. Massaker für sie ein Wendepunkt. Denn einerseits hatte es gravierende und tragische Folgen und andererseits begannen sie aufgrund der gezogenen Lehren und Auswirkungen, Widerstand zu leisten und sich zu organisieren. Sie dachten primär, Widerstand würde ihr Leben verändern, und leisteten daher Widerstand in den Bergen. Und tun es weiterhin.
Sekundär waren sie von der Notwendigkeit überzeugt, sich zu verteidigen. Die Êzîd*innen aus Şengal sahen den Ausweg, den Massakern zu entkommen, darin, sich in die Berge zurückzuziehen, dort zu leben, und zogen es vor, sich zu verteidigen, bis im Jahre 1975 das Baath-Regime alle Êzîd*innen in den Wohngebieten im Tal des Şengal einquartierte. In diesem Zeitraum wurden Hunderte, gar Tausende aufsässige und hartnäckige Êzîd*innen getötet oder inhaftiert und in den Dörfern des Tales untergebracht. So wurde ihr Widerstand gegen die Massaker gebrochen und gezähmt.

Eigentlich haben sie das bereits in den ersten Momenten des 73. Massakers festgestellt. Während die mehrere Tausende zählenden Peschmerga sich zurückzogen, war es für die Êzîd*innen das Schwerste, nichts für ihre Bevölkerung tun und sie nicht schützen zu können. Der Aufstand in Şengal und der Schutz Şengals und der Menschen, die in den Bergen Zuflucht suchten, begannen damit, dass die sieben Guerillas die Berge beschützten, für die Hunderttausenden und diejenigen, die ständig dort lebten, und damit, dass Hunderte junger Êzîd*innen sich unter dem Dach der Widerstandseinheiten von Şengal (YBŞ) organisierten und ihnen unter Eid beitraten, um das heilige, alte Land des Şengals zu schützen. Das Bewusstsein für die Verteidigung war eine der fundamentalen Auswirkungen des Massakers. Heute betrachten Hunderte, gar Tausende junger Êzîd*innen die YBŞ als die Basis der Verteidigung Êzdixans und des Heiligen Landes Şengal und schließen sich ihnen an.
Als Drittes kommt die Tifaq genannte Organisation und Vereinigung der Êzîd*innen hinzu. Seit der Zeit des für sie bedeutungsvollen Şex Hadi wird der Begriff tifaqa Êzîdiyan in allen Gebeten, Qewl und Bait [religiösen Ritualen] für die Solidarität und Einheit der Êzîd*innen verwendet. Die in ihrer Geschichte mit 72 Massakern konfrontierten Êzîd*innen sehen einen festen Zusammenhalt und das Leben in nah beieinanderliegenden Wohngebieten als einen Ausweg, dem Massaker zu entkommen.

In diesem Zusammenhang war eine der fundamentalen Lehren, welche die êzîdische Gemeinschaft aus dem 73. Massaker zog, sich zu organisieren. Auch wenn die Solidarität und das Teilen in den Grundsätzen des êzîdischen Glaubens einen hohen Stellenwert haben, verhinderte die Politik der Baath-Regierung und der lokalen Regierung in Şengal diese Organisierung. Die êzîdische Gemeinschaft wurde ständig von anderen gelenkt und verwaltet. Während in zahlreichen Staaten der Erde lokale und ortsansässige Regierungen gebildet werden, wurde den Êzîd*innen mit ihren religiösen wie gesellschaftlichen Eigenheiten diese Chance nicht gegeben und sie fielen manchem politischen Interesse zum Opfer.

Daher wurde, um die Gemeinschaft zu verbünden und zu organisieren, wieder ein wichtiger Schritt unternommen. An einem für die Êzîd*innen heiligen Mittwoch trafen sich ihre über das gesamte Gebiet Kurdistans verteilten Vertreter*innen am Fuße der Şengalberge und erörterten die Gemeinschaft, die Probleme bei der Organisierung und eine selbstständige Verwaltung der êzîdischen Gesellschaft. Sie bereiteten den Weg dafür, den neuen Status von Şengal von allen diskutieren zu lassen.

Natürlich geht es nicht, ohne dabei die Rolle der êzîdischen Frauen zu erwähnen. Die am stärksten vom 73. Massaker Betroffenen sind die Frauen. Aus genau diesem Grund sind sie auch diejenigen, die besonders auf Organisierung und Verteidigung angewiesen sind. Widerstandleistende Frauen wie Xanê spielen in der Geschichte der Êzîd*innen eine bedeutende Rolle, doch in der jüngeren Geschichte erhielten die êzîdischen Frauen nicht den ihnen gebührenden Platz in der Politik. Auch sie haben heute ihre Positionen in dieser Organisierung eingenommen. Nach dem 73. Massaker nahmen sie die Waffe in die Hand und begannen, sich an den Fronten der YBŞ zu verteidigen, und sie wählten die Organisierung für frauenspezifische Verteidigung unter dem Namen YPJ Şengal (Frauenverteidigungseinheiten von Şengal). Daneben besetzen sie eine wichtige Position im zwischenzeitlich gegründeten Parlament und bilden ihre eigene originäre Organisation.

Êzîd*innen, die sich, statt sich zu verstecken, das Teilen als Grundsatz angeeignet haben, wenden jeden Mittwoch ihr Gesicht zur Sonne, öffnen ihre Hände und beten Xwede an. An diesem heiligen Mittwoch gehört Şengal ihnen, die ihr Gesicht zur Sonne wenden und zur Sonne beten. Êzîd*innen ohne Şengal gibt es nicht. Sie wären ohne Şengal keine Êzîd*innen. »Es kann keine*n Besitzer*in dieser alten Religion geben« – so wurde ein Parlament gegründet, das alle Êzîd*innen aus Şengal zusammenbringt, organisiert und vereint. Mit diesem Gründungsparlament unternahmen sie einen kleinen, aber historischen Schritt auf dem Wege, die Êzîd*innen zusammenzubringen, und dafür, im neuen Şengal eine organisierte und selbstverwaltete Gemeinschaft zu bilden, die sich auch verteidigt. Sie sind der Meinung, das 73. Massaker, dem sie ausgesetzt waren, könne nur durch Organisierung überstanden werden. Êzîd*innen, die sagen: »Daaisch dachte sich, uns durch dieses Massaker auszulöschen, wir werden aber noch stärker und noch organisierter nach Şengal zurückkehren«, kehren zu ihren Wurzeln zurück.

Botan Gulan ist weiterhin als Journalist im Şengalgebirge und im Zentrum von Şengal tätig.