Wie bewertet die KCK den »Prozess«, die anstehende Parlamentswahl sowie die Perspektiven für den Kampf danach, die Zukunft von Rojava und ihr Verhältnis zur Linken in der Türkei?

Der »Geist von Gezi« und die Volksaufstände in Kurdistan ...

Sabri Ok, Kandil, sendika.org, April 2015

Mit freundlicher Genehmigung von sendika.org veröffentlichen wir leicht gekürzt das am 4. und 6. April erschienene zweiteilige Interview mit dem Mitglied des KCK-Exekutivrats Sabri Ok. Darin wird auch auf die Hauptkritik an der kurdischen Bewegung eingegangen, die laut sendika.org insbesondere in folgenden Aspekten besteht: die Beziehungen der kurdischen Bewegung zu den USA, ihre Sichtweise auf den Laizismus und die Grundlagen der Gespräche mit dem türkischen Staat bzw. der AKP.

Sabri Ok, Mitglied des KCK-ExekutivratsDas Newrozfest in diesem Jahr ist vorbei, das von Ihnen zuvor als gegen den Prozess gerichtet definierte Sicherheitspaket von der AKP im Parlament verabschiedet. Auch die Möglichkeit der Leitung geheimdienstlicher Aktivitäten durch Erdoğans Präsidialamt wurde im Parlament verabschiedet, ebenso die Internetzensur. In derselben Phase äußert Erdoğan »eine Beobachtungsdelegation und die Sitzung in Dolmabahçe sind nicht richtig« und vor den Fernsehkameras entstehen Spannungen zwischen ihm und der Regierung. Wie bewerten Sie in einem solchen Prozess die Haltungen Erdoğans und der Regierung sowie die aufgetretenen Spannungen?

Die Erklärung von Dolmabahçe1 war wichtig. Unseres Erachtens waren die der Öffentlichkeit vorgestellten zehn Punkte im Rahmen der Verhandlungen eine Erklärung, die auf die Demokratisierung der Türkei abzielt. Im Kern geht es um eine neue demokratische Verfassung. Es war eine Erklärung, welche die AKP in diesem Sinne an den Punkt zu Verhandlungen zieht, den Weg für eine Demokratisierung der Türkei und eine Lösung der kurdischen Frage freimacht. Wie Sie wissen, folgte daraufhin die Newroz-Erklärung in Form einer Deklaration des Vorsitzenden Öcalan.2 Doch direkt danach hat sich die Front der AKP angesichts der Äußerungen Erdoğans gegensätzlich positioniert. Statt Fortschritten im Prozess, statt Verhandlungen über diese zehn Punkte hat Erdoğan mit seinen Erklärungen eine Haltung eingenommen, mit der er vieles verwirft. Mit Aussagen wie der bereits erwähnten, dass er nichts von der Beobachtungsdelegation gewusst habe, die Dolmabahçe-Erklärung nicht richtig sei – oder mit Äußerungen wie »solche Haltungen legitimieren Imralı« ...

Eigentlich war er gezwungen, vieles, was bisher nicht öffentlich gewesen war, mit der Öffentlichkeit zu teilen. Nun gibt es das Sicherheitspaket. Dazu sind noch gesetzliche Neuerungen für Erdoğan selbst gekommen, die eine noch stärkere Hinwendung zu Autorität und Diktatur bedeuten. Ein spezieller Geheimdienst, ein spezielles Budget ... Das sind alles Sachen, die Diktatoren tun. Sie bilden spezielle Institutionen und Organisationen für sich. Auch Erdoğan versucht dies zu tun. Eine AKP, die wirklich einen Fortschritt in diesem Prozess will, muss von solchen Aussagen und Haltungen Abstand nehmen. Wenn sie wirklich die Entwicklung eines demokratischen Prozesses wollen, wo soll dann dieses Sicherheitspaket verortet werden?

Von Zeit zu Zeit waren sie zu solchen offenen Aussagen gezwungen; die Hauptabsicht dieses Sicherheitspakets ist es, den demokratischen, revolutionären Bewegungen in der Türkei und ihren Massenaktionen den Raum zu nehmen. Hierbei ist Gezi von großer Bedeutung. Denn es hat die AKP und Erdoğan sehr erschreckt. Dazu entwickelten sich in Kurdistan vom 6. bis 8. Oktober 2014 Serhildans. Das hat sie ebenfalls sehr beunruhigt. Das Paket soll dem den Raum nehmen. Was zeigt das? In der Türkei wird die öffentliche Sicherheit, die Stabilität über noch faschistoidere, unterdrückerischere Gesetze aufrechterhalten werden. Es gibt weltweit Beispiele: Diktatorische Regime sprechen am meisten von Stabilität und Ordnung. Es soll Stabilität herrschen; neue Herrschaften und Mächte sollen ruhig bleiben, keine Reaktion soll sich entwickeln. Das ist Stabilität in ihrem Sinne. In der Türkei will Erdoğan das. Was dafür nötig ist, versucht er mit Vorbereitungen auf rechtlicher Grundlage durchzusetzen. Das ist die Absicht des Sicherheitspakets.

Auf der anderen Seite behauptet Erdoğan, dass es keine kurdische Frage gebe. Es ist ein großer Widerspruch zu versuchen, ein Problem zu lösen, es aber andererseits nicht anzuerkennen. Doch das ist im Falle Erdoğans natürlich nichts Neues. Wenn Sie sich daran erinnern, hatte Erdoğan früher auch mal gesagt: »Wenn man nicht daran denkt, existiert das Problem auch nicht.« Und gegenüber den demokratischen, revolutionären Bewegungen und der kurdischen Demokratiebewegung empfand er eine große Wut. Dies liegt seiner Mentalität zu Grunde. Es soll Stabilität herrschen, neue Mächte sollen in Ruhe gelassen werden, es soll sich keine Reaktion entwickeln. Er sieht sich selbst als ein neoosmanischer Nachfolger. Mit einer solchen Mentalität, einer solchen Annäherungsweise ist die Demokratisierung der Türkei, die Verwirklichung von Verhandlungen äußerst schwierig. Es versteht sich von selbst, dass sie versuchen, solche Diskussionen von vornherein nicht zuzulassen.

Der Vorstoß Öcalans hat die inneren Widersprüche der AKP hervorgebracht

Das ist unseres Erachtens wichtig; die Erklärung von Dolmabahçe und die Newroz-Botschaft waren eigentlich eine Intervention des Vorsitzenden Öcalan in die politische Agenda der Türkei. Davor war mehr über das Sicherheitspaket diskutiert worden, also Themen, die von der AKP gesetzt wurden. Doch mit der Erklärung von Dolmabahçe und der Newroz-Botschaft hat sich die Tagesordnung verändert. Was wurde diskutiert? Die inneren Probleme der AKP wurden aufgedeckt, das erste Mal auf einer solchen Ebene. Die Regierung auf der einen Seite, Erdoğan auf der anderen, so haben beide widersprüchliche Erklärungen abgegeben. Darüber hinaus sind zwischen Gökçek und Bülent Arniz Konflikte aufgekommen. Und das ist eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt auch noch Dinge, die nicht an die Öffentlichkeit gekommen sind. Die AKP hat innerlich gekocht. Im Grunde sind mit unseren aufgezwungenen Verhandlungen und dem Prozess zur Demokratisierung der Türkei und zur Lösung der kurdischen Frage Widersprüche zutage getreten, die sie bisher zu verdecken versucht hatten. Warum? Sie haben verstanden, dass sie nicht mehr mit Demagogie vorankommen werden. Das hat den Spielraum der AKP eingeengt. Bisher sah es so aus, dass alles wie geplant verläuft. Die Regierungsvertreter erklärten immer wieder: »Der Friedensprozess schreitet voran.« Doch diese Manöver haben sich ins Innere der AKP verkehrt, das hat ihr wahres Gesicht zum Vorschein gebracht.

Was kann nun passieren? (...) In diesem Prozess, der unserer Meinung nach am Gefrierpunkt angelangt ist, versuchen die Regierung und Erdoğan, eine politisch-psychologische Atmos­phäre zu schaffen. Sie könnten auch noch einen Schritt weiter gehen. Wenn die AKP sieht, dass sie sich bei den Wahlen schwertun wird, könnte sie Provokationen forcieren. Entwicklungen gegen die kurdische legale Politik, die demokratische Politik, gegen die revolutionäre Bewegung in der Türkei oder die Guerilla in Kurdistan, die den Prozess auf den Kopf stellen könnten, sind möglich. (...)

Insbesondere in ihrer Anfangszeit hatte die AKP in der Gesellschaft eine Sichtweise auf den »Friedensprozess« schaffen wollen: Ohne die AKP wird dieser Prozess nicht weitergehen. Sie kritisierte immer wieder die Annäherungsweise der kurdischen Bewegung, aber auch anderer Akteure in der herrschenden politischen Ordnung wie der CHP. Der Widerstand von Kobanê, die Stärkung der internationalen Legitimität der kurdischen Bewegung, die Veränderungen des regionalen Gleichgewichts und der gleichzeitige Niedergang der AKP-Außenpolitik und die Debatte über die Zuverlässigkeit der AKP auf internationaler Ebene haben Diskussionen auf die Tagesordnung gebracht, ob die kurdische Bewegung auf die AKP überhaupt angewiesen ist. Zuvor hatte es in Erklärungen aus Kandil geheißen, dass die AKP versuche, den [Verhandlungs-]Tisch aufzulösen und die kurdische Bewegung dafür verantwortlich zu machen. Nun sagen Sie, die AKP sei am schwinden. Was böte nach einem Abgang der AKP Sicherheit für einen Erhalt dieses »Tisches«? Gibt es solche Sicherheiten?

Wir sind Zeugen dessen geworden, dass die AKP die stärkste Phase ihrer 13-jährigen Macht in diesem Prozess erlebt hat. Ich kann sagen, dass es in den letzten acht Jahren kontinuierlich direkte oder indirekte Gespräche mit unserer Bewegung gegeben hat. Es gab Gespräche mit unserem Vorsitzenden, in Oslo und weitere. Man sieht klar und deutlich, wo wir mit diesen Gesprächen stehen. Hätte die AKP in ihrer stärksten Phase dieses Problem gelöst, hätte sie natürlich Vorteile gehabt. Im Parlament war sie stark und auch in der Öffentlichkeit gab es Unterstützung. Doch diese Kraft hat sie nicht dazu genutzt, das Problem zu lösen und die Türkei zu demokratisieren, sondern für den Ausbau einer noch stärkeren repressiven Autorität und Monopolisierung. Folglich hat sich bestätigt, dass eine starke AKP dieses Problem nicht lösen wird.

Sie werden sagen: »Wenn das so ist, warum seid Ihr dann mit ihnen in Kontakt getreten?« Das ist ebenso ein Kampf. In der Gesellschaft wird eine Sensibilität, eine politische Bewusstwerdung aufgebaut. Du kannst die AKP an einen bestimmten Punkt ziehen; das ist möglich. Es ist nicht falsch, das zu versuchen, sich dem verantwortungsvoll anzunähern. Aber das bisher Erlebte hat gezeigt, dass eine starke AKP nicht an eine Lösung herangeht.

Garantie für eine Lösung ist nicht die AKP, sondern der Kampf der Gesellschaften in der Türkei

Nun, was ist mit einer AKP, die an Kraft verliert? Es wird nach den Wahlen von einer Regierungskoalition gesprochen; davon, dass die AKP nicht allein an der Macht stehen wird. Was wird dann folgen? Wir denken nicht, dass die AKP die Garantie und Sicherheit für die Lösung dieses Problems ist. Wir sind davon überzeugt, dass es mit dem demokratischen Willen und dem Widerstand der Gesellschaften [der Gesellschaftsgruppen] der Türkei, der revolutionär-sozialistischen Kräfte, der antikapitalistischen und antimonopolistischen Kräfte gelöst werden wird.

Wir wissen aber auch, dass die AKP, wenn sie an der Macht ist und sich in Richtung einer Lösung bewegt, dies nicht ohne den Druck der revolutionären, demokratisch-sozialistischen Kräfte tun wird. Das heißt, die linke Bewegung in der Türkei, die demokratischen Kräfte und die kurdische Bewegung haben die AKP noch nicht an diesen Punkt bringen können oder noch nicht genug Druck erzeugt. Aus diesem Grund hat sich die AKP nicht in Richtung einer Lösung bewegt. Folglich haben wir schon immer gedacht, dass eine Lösung mit der AKP weniger aufgrund eines tiefgreifenden Mentalitätswandels zustande kommt als eher aufgrund des Drucks, der sie zu einer Lösung zwingt.

Auch ohne die AKP werden wir natürlich den Kampf der kurdischen Bewegung mit den revolutionären Kräften der Türkei, der sozialistischen Bewegung und den demokratischen Kräften zusammen weiter entwickeln und stärken. Wir werden unserer Verantwortung nachkommen, die Öffentlichkeit der Türkei für eine Lösung zu sensibilisieren, und wenn möglich weiter mit demokratischer, friedlicher Politik zu einer Lösung zu kommen versuchen. (...)

Die Armee der Türkei ist eine NATO-Armee. Sie steht im Zentrum der Konterguerilla der NATO/USA. Denken Sie angesichts der verschiedenen Kritikpunkte der USA gegen Erdoğan, dass die Armee in diesem Kontext eine einflussreiche Rolle spielt? Wie spiegelt sich die Beziehung zwischen Armee und AKP wider?

Die Türkei ist für die USA wichtig. Die Türkei liegt sowohl geographisch als auch geopolitisch an wichtiger Stelle und ist ein großer Markt. Die Türkei ist nicht nur die AKP oder Erdoğan. Tatsächlich gibt es in letzter Zeit gegenüber Erdoğan einige Reaktionen vonseiten der USA und Europas. Doch es ist wichtig zu verstehen, was dies für den militärischen Bereich, die NATO-Politik für Auswirkungen hat. Ich denke, keine großen. Die NATO ist etwas anderes. Die Beziehungen zwischen türkischer Armee und NATO stehen über der ganzen Politik. In gewissem Sinne denken sie: »Die Politik soll reden und spielen; wir wissen, was wir zu tun haben.« Es ist in gewisser Weise wirklich so. Zweitens ist anzumerken, dass die Beziehungen zwischen der NATO und der türkischen Armee sehr alt, sehr tief und sehr strategisch sind. Politische Engpässe spielen keine bedeutende Rolle. Die Armee steht an ihrem Platz und an ihrer Beziehung zur NATO ist nicht leicht zu rütteln.

Die Wahl 2015 ist aus der Perspektive sowohl der herrschenden politischen Akteure als auch der gesellschaftlichen Opposition sehr kritisch. In der letzten Wahlerklärung der AKP kommen Erdoğans Ziele der Präsidentschaft und einer neuen Verfassung für den eigenen Machterhalt zum Ausdruck. Aus dieser Sicht steht die Wahl für die gesellschaftliche Opposition an einem kritischen Punkt. Der Entschluss der HDP, als Partei anzutreten, lässt ihr im Hinblick auf die Zusammensetzung des künftigen Parlaments eine Schlüsselrolle zukommen. Zu dieser kritischen Wahl werden kontinuierlich verschiedene Szenarien beschrieben. Was kommt auf die Türkei zu, wenn die HDP nicht die Wahlhürde schafft? Was für eine politische Landschaft wird sich herausbilden, wenn sie die Hürde nehmen sollte? Was sind Ihre Einschätzungen für diese beiden Situationen?

Aus unserer Sicht waren der Zehn-Punkte-Verhandlungsrahmen unseres Vorsitzenden in Dolmabahçe sowie die Newroz-Botschaft sehr wichtig. Hätte die AKP einen tiefgreifenden Mentalitätswandel erlebt, dann hätte der Druck der Gesellschaft und revolutionärer Kräfte sie dazu gezwungen gehabt ... Ich dachte, dies wäre von großer Wichtigkeit. Das war auch ein Akt des Widerstands. Doch die jetzige Mentalität der AKP sieht nicht danach aus.

Die HDP wird im Parlament mit dem Bewusstsein ihrer Wählerschaft Politik machen

ie Rolle der HDP bei der Wahl ist wirklich sehr wichtig. Denn ob die CHP 25 oder 30 % bekommt, die AKP bleibt trotzdem an der Macht. Es wird keine Änderung geben. Das gilt auch für einen möglichen Zuwachs der Stimmen für die MHP. Doch wenn die HDP die Wahlhürde überwindet, dann ändert sich auch das Schicksal der AKP. Ein starkes Abschneiden der AKP bei der Wahl oder der Verlust der alleinigen Macht, alles ist vom Ergebnis der HDP abhängig. Aus diesem Grund ist die Wahl so wichtig. Aus Sicht der demokratischen Kräfte und der sozialistischen Bewegung in der Türkei können sich Bereiche des Widerstands auftun, das Selbstvertrauen der Gesellschaft wird steigen und es können sich demokratischere Rahmenbedingungen für den Kampf entwickeln.

Wir sehen die Türkei heute nicht als ein Feld der demokratischen Politik. Kontinuierlicher Druck, Festnahmen, das Sicherheitspaket ... Der Einzug der HDP ins Parlament ist auch für den Weg zur demokratischen Politik von Bedeutung. Wenn die HDP die Hürde überwindet, wird sie natürlich eine widerständige Haltung einnehmen. Das wissen die Teile der HDP selbst. Doch für uns wird sie mit dem Bewusstsein Politik machen, das aus den Gesellschaftsteilen kommt, die sie ins Parlament wählen. Die HDP wird für Demokratie, für die Werktätigen kämpfen. Die Repräsentation der Frau wird bei der HDP hoch sein. Sie wird für die Freiheit der Frau, die Ökologie und Freiheit kämpfen. Sie kann qualitativ eine sehr aktive Politik im Parlament verfolgen. Das ist wichtig.

Ich werde das nicht idealisieren: Der Einzug der HDP ins Parlament bedeutet nicht Demokratie und Sozialismus für die Türkei oder Freiheit für alle. Aber er ist eine wichtige Etappe. Er ist ein Erfolg für die Gesellschaften der Türkei, für die revolutionär-sozialistischen Kräfte. Die HDP kann mit der Verantwortung gegenüber allen Kreisen, die sie ins Parlament gewählt haben, mit einer sehr breiten Perspektive, mit Radikalität und Prinzipientreue einen Kampf für Demokratie führen. Sie kann die Lügen der AKP aufdecken, die Verstöße öffentlich machen und erklären, woher die Probleme der Türkei eigentlich kommen. Sie kann die Haltung des türkischen Staates, die Chauvinismus, Rassismus und Faschismus produziert, erklären. Aber am wichtigsten ist die Organisierung und Bildung der Gesellschaft, ihr im Parlament eine Stimme zu geben, den Frauen, Jugendlichen, verschiedenen Glaubensrichtungen und Kulturen, allen ...

Wie wird das den Prozess beeinflussen? Das ist abhängig davon, was für ein Ergebnis die AKP im Parlament erzielen wird. Es hängt davon ab, wie sie dann weiter verfahren wird. Doch ich sage offen: Die kurdische Frage hat nicht die AKP geschaffen; es ist eine seit 100 Jahren währende Frage. Folglich gibt es keinen Zwang, mit der AKP die kurdische Frage zu lösen. In ihrer 13-jährigen Regierungszeit hat sich gezeigt, dass sie die kurdische Frage nicht lösen wird, obwohl sie in einer vorteilhaften Situation war. Folglich wird der Kampf im Parlament für eine Demokratisierung der Türkei, für eine neue demokratische Verfassung wichtig sein. Das ist ein Kampf, ein Prozess.

Doch wenn die revolutionär-sozialistische und die kurdische Bewegung in der Türkei ihre Kraft und Chancen zusammenbringen und einen gemeinsamen Kampf entwickeln, wird sich der Weg für die Lösung der kurdischen Frage öffnen. Das Parlament wird angesichts des Demokratiekampfes der Gesellschaft dazu gezwungen werden. Dafür muss gekämpft werden.

Aber sagen wir, die HDP wird die Wahlhürde nicht schaffen. Dann wird wohl jeder seinen eigenen Weg weitergehen. Die kurdische Bewegung wird ihren Widerstand, den sie für richtig hält, fortsetzen. Die AKP oder der türkische Staat werden ihre eigene Politik weiterführen.

Wir werden dann weiter zusammen mit der revolutionär-sozialistischen Bewegung in der Türkei einen revolutionären, strategischen gemeinsamen Kampf führen – unsere große Sehnsucht, die wir bisher aus verschiedenen Gründen nicht entwickeln konnten.

Wir haben unsere Selbstkritik zu Gezi geleistet; in dieser Phase blieb der Bereich Kurdistan schwach

Ein Beispiel: In den 90er Jahren haben die kurdische Bewegung und die Gesellschaft große Schmerzen erlitten und großen Widerstand geleistet. Die revolutionären Kräfte in der Türkei bekamen große Aufmerksamkeit, aber ihre Organisierungsstufe konnte nicht auf die Entwicklungen in Kurdistan reagieren. Jetzt gibt es dafür die Grundlage und die Möglichkeiten. Beispielsweise ist der Geist von Gezi wichtig. Er ist dort hervorgetreten, ein Widerstand hat sich entwickelt. Doch in dieser Zeit ist Kurdistan schwach geblieben. Das haben wir selbstkritisch bewertet. Von nun an müssen die revolutionäre Bewegung in der Türkei und die kurdische Freiheitsbewegung Seite an Seite den Widerstand zu gemeinsamen Themen in Kurdistan und der Türkei verstärken.

Wir haben zwei Ziele: die Demokratisierung der Türkei und die Freiheit der kurdischen Gesellschaft. Wir sehen zwischen beiden Zielen ein dialektisches Verhältnis. Wir denken nicht, dass die kurdische Frage gelöst wird, während in der Türkei die faschistische Repression andauert. Und auch nicht umgekehrt: Die Türkei wird sich demokratisieren, aber die kurdische Frage ungelöst bleiben. Beides hängt voneinander ab. Es sind zwei Probleme, die gleichzeitig gelöst werden; die Demokratisierung der Türkei und ein Status für die kurdische Gesellschaft. Es ist inakzeptabel, dass die Kurden im 21. Jahrhundert noch immer ohne Freiheit und irgendeinen Status leben.

Wir haben für die Freiheit und einen Status der kurdischen Gesellschaft immer zwei Möglichkeiten für uns gesehen. Erstens mit Verhandlungen und Gesprächen mit dem türkischen Staat dieses Problem zu lösen, und wenn dies nicht passiert, wird die kurdische Gesellschaft mit ihrem eigenen demokratischen und revolutionären Willen und Widerstand ihren eigenen Status durchsetzen.

Im Falle des Scheiterns der Verhandlungen wird die kurdische Gesellschaft auf jeder Ebene für ihre Freiheit und ihren Status kämpfen
Eigentlich stehen wir in dieser Frage an einem Scheideweg. Wir versuchen dieses Problem gegenwärtig über Verhandlungen und Gespräche auf einem politischen Weg zu lösen. Doch wenn sich die AKP dem nicht annähert, wird die kurdische Gesellschaft nach der Wahl natürlich ihre Freiheit und einen Status erkämpfen und durchsetzen. Wenn die HDP es nicht ins Parlament schafft, müssen wir in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft einen noch radikaleren Widerstand entwickeln. Und das wird zusammen mit der revolutionären Bewegung in der Türkei Schulter an Schulter geschehen. Wenn sich der Widerstand auf der Straße nicht vereinigt, wird sich mit ein paar Abgeordneten nicht viel verändern.

Wir haben gesagt, dass die HDP bei den Parlamentswahlen 2015 im Hinblick auf die Zusammensetzung des Parlaments eine bedeutende Rolle spielt. Mit dem durch den Juni-[Gezi-]Aufstand entstandenen politisierten Raum, dem Widerstand von Kobanê oder dem allgemeinen Ziel, die AKP zurückzudrängen, ist eine stärkere Unterstützung für die HDP bei der Wahl zu beobachten. Doch es gibt auch folgende Realität: ein parlamentarisches System, das mit neoliberaler Politik die [Menschen in der] Gesellschaft vereinzelt, sie aus der Politik wirft, mit dem gegenwärtigen Verständnis einem Theater gleicht und in der Hand eines Machtmonopols mit Technokraten und neoliberaler Politik funktioniert. Andererseits erleben wir, wie der Innenminister in seiner Parlamentsrede verkündet, er erkenne die Verfassung nicht an, und Erdoğan das parlamentarische System als »Wartezimmer« bezeichnet. Wir haben eine HDP-Praxis im Parlament erlebt, die darin bestand, dass sich die unabhängigen Abgeordneten als Gruppe zusammengeschlossen haben. Zuletzt haben diese Abgeordneten bei den Gesprächen zum Sicherheitspaket Widerstand geleistet, Parolen gerufen und wurden sogar verprügelt. Doch dieser Widerstand, der sich nicht auf der Straße wiederfand, konnte das Durchlaufen des Pakets nicht verhindern. Auch wenn die HDP bei der Wahl die Hürde nimmt und so die bisherige Zusammensetzung des Parlaments verhindern kann und die AKP/Erdoğan die Verfassung nicht mehr [allein] ändern können, so können Letztere mit ihrer Ankündigung, die Verfassung nicht anzuerkennen, ein De-facto-Präsidialsystem aufzwingen. Die kurdische Bewegung schöpft ihre eigentliche Kraft nicht aus dem Parlament, doch innerhalb der sozialistischen Bewegung in der Türkei ist die Tendenz zur repräsentativen Demokratie, die politische Linie nach dem Parlament auszurichten, relativ stark. Wie viel Sinn kann man in einer solchen Landschaft einem Erstarken im Parlament geben? Was hat dabei die Arbeit der gesellschaftlichen Opposition auf den Straßen für eine Bedeutung?

Ohne Zweifel wird sich mit ein paar Abgeordneten im Parlament nicht viel ändern, wenn die gesellschaftlichen Kräfte und revolutionären, demokratischen Bewegungen nicht den Kampf der Gesellschaft auf den untersten Ebenen, den Straßen und Plätzen vereinigen und entwickeln. Das Parlament ist ein Mittel, ein Kampfterrain. Vielleicht kann mit bestimmten Mitteln manches aufgedeckt, öffentlich gemacht oder die Tagesordnung mitbestimmt werden, doch grundlegend ist die demokratische und organisierte Kraft die Gesellschaft. Die AKP ist klar eine diktatorische, eine autoritäre Bewegung. Wenn sie es für nötig hält, wird sie die Verfassung beiseiteschieben und tun, was sie will. Gegen diese Mentalität braucht es Widerstand.

Gegen das Sicherheitspaket war der Widerstand ungenügend

(...) Wäre die Gesellschaft zum Beispiel bei der Diskussion um das Sicherheitspaket aufgestanden und hätte sich wie bei Gezi etwas entwickelt, hätte die AKP sich nicht so frei bewegen können. Die Tagesordnung wird etwas verspätet beobachtet und auch die Prioritäten werden zu schnell geändert. Das ist eine Schwäche. Das war auch an unserer Front zu sehen. Vielleicht haben die Kurden mit einigen Demonstrationen und Protesten versucht, Reaktion zu zeigen; doch es gab keine Kontinuität und Tiefe. Auch in der Türkei war dies sehr begrenzt. Die AKP konnte so mit Leichtigkeit das Sicherheitspaket durch das Parlament bringen.

Gegen eine solche faschistoide Haltung, Politik und Gesetzesänderungen muss die Gesellschaft eigentlich aufstehen. Die revolutionären Kräfte spielen dabei die Vorreiterrolle. Sie müssen die Tagesordnung bestimmen. Gegen jede repressive und falsche Haltung ist ein demokratischer Aktivismus, ein Serhildan nötig. Das hat in diesem Prozess gefehlt. Doch wir sprechen dabei von der Türkei. Die Türkei hat sehr große ungelöste Probleme, die Grund genug für tägliche Aktionen und Kämpfe wären. Wir dürfen nicht in Selbstzufriedenheit, Trägheit und Passivität verfallen.

Die Türkei braucht eine tiefgreifende Revolution und Transformation. In welchen Bereich des Lebens Sie schauen, sehen Sie diese Notwenigkeit. Jeden Tag werden Frauen ermordet. Die Frauen werden in der Mentalität der AKP immer noch nicht akzeptiert und sind von der Gesellschaft ausgeschlossen und in den Hintergrund gedrängt. Dann der Bereich der Arbeit und Werktätigen. Angesichts der Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel in Soma oder bei anderen Arbeitsunfällen, oder des Kampfes um die Löhne gibt es sehr viele Gründe für einen organisierten gewerkschaftlichen Kampf. Die Jugend wird in die Fänge des Kapitalismus getrieben und dem Liberalismus überlassen. Sie ist hilflos und steht ohne Lösung da, birgt aber ein enormes Potential. Hier ist auch die kurdische Frage zu verorten. (...)

Ein Aspekt des Kampfes zwischen den Gesellschaften der Türkei und der AKP ist der Laizismus. Es gibt heftige Reaktionen auf den religiösen Konservatismus der AKP und ihre Bestrebungen, mit religiösen Reformen eine gesellschaftliche bzw. öffentliche Ordnung zu schaffen. Auf der anderen Seite breitet sich der Konservatismus des IS über den Mittleren Osten aus. Die AKP unterstützt nicht nur die Dschihadisten im syrischen Bürgerkrieg, sondern gibt auch konservativen, religiösen Gruppen in der Türkei den Raum, sich zu stärken, und stellt den Konfessionalismus in den Vordergrund. Nachdem die ehemaligen Verteidiger des Laizismus – Armee und CHP – gebrochen worden waren, hat diese Thematik mit dem Gezi-Widerstand, dem Kampf der Gesellschaft von unten eine Hauptforderung mit neuer Bedeutung bekommen. Mit dem Widerstand in Kobanê wurde der Kampf gegen den Konservativismus des IS wirkungsvoll. Doch es gibt noch einige Kritik. Insbesondere die im Kontext der nationalen Bewegung entwickelten Strategien wie die Demokratische Islam-Konferenz oder die Bündnisse mit islamischen Kreisen rufen Fragen hervor. Wie definiert die kurdische Bewegung, während über eine neue Verfassung, eine neue gesellschaftliche Perspektive diskutiert wird, das Verhältnis zwischen der AKP-Macht und dem religiösen Konservatismus?

Dass die AKP Organisationen wie IS oder Al-Nusra auf einer strategischen Ebene unterstützt, ist eine gefährliche Tatsache. Wir haben das bei ihrer Politik gegenüber Rojava, Syrien, dem Irak und dem Mittleren Osten im Allgemeinen gesehen; die AKP ist so machtfokussiert, dass sie Bewegungen mit salafistischer Ideologie und selbst den IS unterstützt. Im Mittleren Osten ist das natürlich gefährlich.

An diesem Punkt müssen wir verstanden werden. Nach unserer Überzeugung kann keine revolutionäre Bewegung ohne eine korrekte Haltung gegenüber dem Glauben eine gesunde Entwicklung vorantreiben. Wir haben das in der realsozialistischen Praxis beobachten können. Schaut auf die alten realsozialistischen Gebiete; die Kirchen, Moscheen und Stätten des Gottesdienstes sind alle voll. Und sie hatten gedacht, das »gelöst« zu haben. Den Glauben vollständig abzulehnen, ist nicht möglich. Es ist eine Kultur. Wenn die Menschen so glauben, dann sollen sie auch so leben. Das ist ihr demokratisches Recht.

Doch eine Verbindung mit Macht, eine Verwandlung in Politik oder ein Machtelement ist gefährlich. Es ist möglich, einen demokratischen Islam und eine demokratische Glaubenskultur zu entwickeln. Wie das? Es ist möglich, sowohl deinen eigenen Glauben als auch die Demokratie zu leben bzw. zu befürworten. Das ist beispielsweise in der Gesellschaft in Nordkurdistan von der Mehrheit akzeptiert. Das ist die Realität des kurdischen Potentials, auf das sich die PKK, die HDP stützen. Es ist eine gläubige Gesellschaft, aber nicht gegen den Sozialismus oder gegen die Demokratie. Das ist sehr schwer, muss aber an einem Ort wie dem Mittleren Osten umgesetzt werden. Es ist politisch falsch, Religion gegen Religion aufzubringen. Und einen historischen Glauben, eine historische Tradition und Kultur kann man nicht verleugnen. Das wäre eine Respektlosigkeit gegenüber den Gesellschaften, denn sie glauben daran.

Wenn die Religion ein Machtelement wird, ersticken sich die Gesellschaften gegenseitig

Folglich muss für eine demokratische Transformation und um zu verhindern, dass die Religion zum Machtelement wird, ein guter Widerstand geleistet werden. Beispielsweise unser Demokratischer Islam-Kongress, vielleicht in Zukunft ein Demokratischer Kongress der Aleviten ... Das alles, damit die gläubigen Menschen ihren eigenen Glauben leben – nicht gegen die Demokratie gerichtet, sondern für sich ... Glaube und Ideologie wurden nach ihrer Umwandlung in Macht zu etwas Schlechtem. Das gilt sowohl für den Islam als auch für das Christentum. Nach ihrer Machtwerdung wurden sie unterdrückerisch. Wir sagen deswegen, sie sollen zu ihrem Anfang, ihrem Ursprung zurückkehren. Wenn sie an ihrem Ursprung von Gerechtigkeit, Frieden und Liebe predigten, dann muss es auch heute so sein. Wenn sie sich mit Macht vermischen, ein Machtelement werden, dann ist der heutige Zustand des Mittleren Ostens ein Beispiel dafür. In Kriegen im Namen von Konfession und Glauben ersticken sich die Völker und Kulturen gegenseitig. Das muss verhindert werden. Der Weg dorthin sind Akzeptanz und Respekt vor dem kulturellen Islam, dem kulturellen Alevitentum und der Kultur der anderen Glaubensrichtungen. (...)

Sie so anzunehmen, wie sie sind, ist auch nicht richtig, denn sie alle sind zu Werkzeugen der Macht geworden. Das Richtige ist, die Religionen unter den gegenwärtigen Bedingungen angesichts ihrer Geschichte richtig zu bewerten, ihre Kultur zu respektieren, sie alle mit der Demokratie zu vereinen und so eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen.

Wir versuchen das beispielsweise in der Türkei zu verwirklichen, damit es sich auch im Mittleren Osten ausbreitet. Es wurde zum Beispiel in Rojava aufgebaut. Assyrer, Armenier, Êzîden, Kurden und Araber leben zusammen und das auf demokratische Art und Weise. Demokratische Autonomie ist die Organisierung der Gesellschaft und der Demokratie im Lokalen. All diese Glaubensrichtungen nehmen die Freiheit der Frau an. Sie nehmen an, dass sie die Leitung der Verwaltung stellt und an den Entscheidungsprozessen partizipiert. Wir denken, das zu verwirklichen, ist möglich.

Es ist nicht so, dass »die PKK mit ihrer Herangehensweise irgendeinen Glauben stärken und morgen für die demokratischen und laizistischen Kreise Probleme geschaffen haben« wird. Das ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Gegen diese falschen Anschuldigungen versuchen wir im Mittleren Osten, der heute zur Plage der Menschen geworden ist, ein demokratisches Bewusstsein zu entwickeln. Wir versuchen die Kultur der Religionen zu entwickeln. Und meiner Meinung nach sind das die Stufen, die zur Demokratie und eigentlich zum Sozialismus führen. Zum Sozialismus wird niemand gelangen, wenn diese Stufen übersprungen werden. Es wurde so propagiert, doch so hat es nicht funktioniert. Du wirst dahin gelangen, indem du sie akzeptierst und respektierst, sie aber innerhalb der Demokratie transformierst. (...)

In Kobanê haben wir eine Phase des Widerstands erlebt. Der Krieg in Rojava und in Syrien allgemein dauert weiter an. Das Assad-Regime schützt seine Existenz und das Kräftegleichgewicht ändert sich ständig. Wenn wir auf der anderen Seite den Mittleren Osten betrachten, dehnen sich die Kriege und Konfessionskonflikte weiter aus, das letzte Beispiel haben wir im Jemen erlebt. Eine Interventionsphase wurde begonnen, die auch Erdoğan unterstützt, die Truppen der Arabischen Liga wurden gegründet. Was denken Sie über die Kriegsrealität im Mittleren Osten und darin über die Zukunft Rojavas? Zweitens, wie wird der Wiederaufbau von Kobanê organisiert? Was erwarten Sie von der sozialistischen Bewegung und den Demokratiekräften der Türkei? Was kann zusammen gemacht werden?

Der Widerstand und der Sieg in Kobanê sind eigentlich nicht nur ein Sieg der Kurden, sondern aller Revolutionäre, Sozialisten, Frauen. Wir glauben an diese Realität. Wie bei der Revolution in Vietnam wurde die Entwicklung in Kobanê zum Anknüpfungspunkt für weltweite revolutionäre, sozialistische und Widerstandsbewegungen. Aus diesem Grund wurde der 1. November als weltweiter Aktionstag für Kobanê verkündet. Keine revolutionäre Kraft, die sich nicht für Kobanê interessiert hätte. Das war eine enorm große moralische Stärke. Auch die revolutionär-sozialistische Bewegung, die Jugendbewegung, die Frauenbewegung, die Aleviten und andere Kräfte aus der Türkei zeigten sehr großes Interesse. Das war sehr wertvoll und in diesem Sinne ist Kobanê wirklich ein Sieg aller. Nun ist Kobanê ein Trümmerhaufen. Es wird neu aufgebaut werden, und das muss die Aufgabe von allen sein. In der Stadt liegen immer noch viele Leichen und auch Minen, sonstige Sprengfallen gibt es. Ich denke, ein kleiner, besonders von Zerstörung betroffener Teil wird als Museum erhalten bleiben und der Rest vollständig wieder aufgebaut werden.

Nicht das Kapital, sondern die Völker müssen Kobanê wieder aufbauen

Unsere Perspektive ist: In den Neuaufbau von Kobanê dürfen sich keine Monopole und auch nicht das Kapital der Bauindustrie einmischen. Sie dürfen gar nicht reingelassen werden. Kobanê muss mit der Sichtweise der demokratischen Zivilisation, dem Ökologieverständnis und der Lebensperspektive des demokratischen Kommunalismus wieder aufgebaut werden. Dabei müssen besonders die Volksgruppen, die Arbeiter, Revolutionäre und die kurdische Gesellschaft auf ihre eigene Kraft vertrauen und so die Stadt aufbauen. Sie müssen zeigen, dass es möglich ist. Sie müssen zeigen, dass auch etwas jenseits von Kapital und Monopol aufzubauen möglich ist. Dabei ist die Unterstützung von NGOs, solidarischen Institutionen und revolutionär-sozialistischen Kräften von großer Bedeutung. Die Bevölkerung von Kobanê erwartet das natürlich. Wahrscheinlich wird eine Gruppe von Architekten und Ingenieuren die Planung skizzieren. In diesen Tagen findet zu diesem Thema in Amed eine Konferenz statt. Dann ist Kobanê natürlich offen für Hilfe und Unterstützung, physische, finanzielle und materielle ... In diesem Sinne wird Kobanê von Neuem aufgebaut werden. Wie beim [militärischen] Sieg muss sich auch jeder am Aufbau beteiligen.

Der Krieg in Rojava ist nicht zu Ende, er geht weiter. In Kobanê wurde der Sieg errungen, aber der IS und andere Gruppen haben etliche ihrer Kräfte vom Irak nach Syrien verlagert. Wie Sie wissen, ist Rakka ihr Zentrum. Diese Kräfte wollen als Reaktion auf ihre Niederlage in Kobanê den Krieg mehr in die Region Cizîrê verlagern und einen Sieg in Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) und Til Temir (Tel Tamer). Der Krieg dauert also an. Der Unbesiegbarkeitsmythos des IS wurde in Kobanê zerstört. Die politische, militärische und geistige Vorreiterrolle haben die Kräfte der YPG/YPJ inne. Trotz der Errungenschaften hält der Krieg an. Wir denken, wenn kein demokratisches Syrien geschaffen wird, werden die Schwierigkeiten, Probleme und Gefechte in Kobanê immer andauern. Folglich muss das Leben in Kobanê nach den andauernden Kriegsbedingungen ausgerichtet werden. Die Selbstverteidigung und auch die Ökonomie müssen sich danach richten. Nur wenn Syrien demokratisiert wird, wird Rojava frei atmen können. Für die demokratische Neuordnung Syriens wird Rojava eine moralische Vorreiterrolle spielen. (...)

Die kurdische Bewegung trägt eine historische Verantwortung. Am Beispiel Rojavas muss gezeigt werden, dass im Mittleren Osten ein demokratisches Zusammenleben verschiedener Glaubensrichtungen und Kulturen möglich ist.

In der Newroz-Erklärung Abdullah Öcalans gibt es die Formulierung: »Die Brutalität des Islamischen Staates ist die Folge des Beharrens der imperialistischen Mächte auf ihren Interessen im Mittleren Osten.« Nach dem Irak und Afghanistan haben die USA mit dem IS wieder eine Legitimation für eine Intervention in die Region gefunden. Im Krieg in Kobanê soll ihr Engagement gegen die IS-Kräfte begrenzt geblieben sein und nicht das Niveau erreicht haben, sie völlig zu zerstören. In der Region halten die Diskussionen über die sunnitische Achse weiter an; mit dem Krieg im Jemen hat sich Obama nach längerer Zeit wieder mit Erdoğan getroffen. Wie bewerten Sie das Verhältnis zwischen den USA und dem IS, die Existenz des IS und die Politik des US-Imperialismus in der Region? Das ist wichtig, denn im Hinterfragen der kurdischen Bewegung und in der Kritik an ihr spielt die Koalition in Kobanê, und damit das Verhältnis zwischen den USA und der Bewegung, eine Rolle. Diese Kritik wird mit der Betonung auf Antiamerikanismus und Antiimperialismus geübt. Was ist Ihre Antwort darauf?

Bei genauerer Betrachtung der ideologischen Grundhaltung der PKK-Bewegung kann ich sagen, dass sie ausgeprägt antikapitalistisch und antimonopolistisch ist. Das ist in all unseren Perspektiven und den Verteidigungsschriften des Vorsitzenden Öcalan präsent. Der Kampf gegen das kapitalistische und neoliberale Verständnis, die kapitalistische Lebensart und Kultur ist sehr klar. Doch wir hören und registrieren im Mittleren Osten natürlich auch Kritik und manche Zweifel an der kurdischen Bewegung, die sie nicht verdient hat. Also zum Punkt ihrer Beziehungen zu den USA oder anderen Kräften.

Die kurdische Bewegung mit ihrem Widerstand ist heute ein Element, das die Politik und die Völker im Mittleren Osten beeinflusst. Sie ist ein wichtiges Element für das nationale, kulturelle Erwachen der Völker und für die Entwicklung ihres Widerstands. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Bewegung, die im Mittleren Osten selbst beeinflusst wird. Und was ganz wichtig ist: Es handelt sich um eine Bewegung, die sich auf ihre eigene Kraft, die Kraft ihrer Gesellschaft stützt und auf eigenen Beinen steht. Das ist im Mittleren Osten keine einfache Sache. Wir sprechen vom dritten Weg, der Linie des demokratischen Sozialismus; weder der nationalstaatlichen noch der Linie der kapitalistischen Moderne. Wir sprechen von der demokratischen Linie der Völker, die auf die eigene Kraft baut, und damit leisten wir Widerstand. Wir haben damit viele Probleme erlebt, doch unseren Widerstand dagegen entwickelt. Das war auch in Kobanê der Fall. Mit der Perspektive und dem Paradigma des Vorsitzenden Öcalan tun wir das auch weiterhin.

Man wollte die Kurden dahin bringen, dass sie um Hilfe von außen betteln

Doch in Kobanê waren die Kurden in ihrem Widerstand mit der Plage des IS konfrontiert. Wann hat die internationale Koalition jedoch mit den Bombardements auf den IS begonnen? Das war in der Phase, in der eine baldige Niederlage vorhergesagt wurde. Sie haben bis zu dem Punkt gewartet, an dem die Kurden um Hilfe betteln. Diese Politik des Imperialismus ist sehr deutlich und hat immer die Eigenschaft, Krisen zu erzeugen und zu steuern. Der IS ist nicht vom Himmel gefallen. Lassen wir die historischen, gesellschaftlichen Gründe mal beiseite, es gab Kräfte, die ihn organisiert und auf die Völker losgelassen haben. Denn sie wollen im Mittleren Osten kein der Demokratischen Moderne entsprechendes Modell. Niemand wollte dies; weder die primitiven nationalistischen Kurden noch der türkische Staat noch die internationalen Kräfte. Es ist also als ein dritter Weg entstanden, der so, wie er die Völker in Erregung versetzt hat, andere beunruhigt hat. Sie wollten ihn im Keim ersticken. Und dann kam der IS.

In Kobanê wurde eine Öffentlichkeit geschaffen und der Widerstand wurde fortgesetzt. Es zeigte sich, dass Kobanê nicht so einfach fallen würde. Dann haben die Koalitionskräfte bombardiert. Ihre Bombardements hatten aber nicht das Ziel, den IS zu zerstören, sondern folgten der Maxime »schießen, ohne zu vernichten«. Sie haben angefangen zu bombardieren, um ihn in einem gewissen Rahmen kontrollieren zu können. Ich kann nicht sagen, was sie jetzt tun werden, denn der IS hat seine Grenzen überschritten.

Die kurdische Bewegung stützt sich auf die eigene Kraft, sie kämpft seit 35 Jahren gegen die NATO

Die kurdische Bewegung ist an diesem Punkt konsequent und prinzipientreu. Sie stützt sich auf ihre eigene Kraft, auf die Kraft der Gesellschaften und leistet so Widerstand. Sie folgt weder der Linie der regionalen, nationalstaatlichen Kräfte noch derjenigen der internationalen Kräfte. Es kann Beziehungen geben, doch muss das im Zusammenhang mit den konjunkturellen und aktuellen Bedingungen bewertet werden. Es muss als richtig und angemessen bewertet werden, doch das Wichtigste ist: Gibt es ein Abweichen von den Prinzipien? Die kurdische Bewegung ist an diesem Punkt äußerst ernsthaft und verstärkt ihren Widerstand in Verbindung mit ihren Prinzipien.

Die von Ihnen angesprochenen Zweifel an der PKK sind völlig unangebracht. Denn die PKK hat im Grunde 35 Jahre gegen die NATO gekämpft. Das ist eine Tatsache. Das weiß auch die NATO ganz genau. Die türkische Armee hat mit dem NATO-Geheimdienst und NATO-Technik gegen uns gekämpft. Wir wissen, dass die türkische Armee mit Unterstützung der NATO, der internationalen Kräfte der kapitalistischen Moderne die Existenz der Kurden verleugnet und vernichtet hat. Wir wissen, dass sie dieses Problem mit vielen Dimensionen geschaffen und so für viel Leid gesorgt hat.

Deutlicher wird dies auch bei der entscheidenden Rolle der USA und anderer Kräfte bei der Verschleppung des kurdischen Repräsentanten, unseres Vorsitzenden Öcalan. Wir wissen, aus welchen Gründen dies getan wurde. Denn er war es, der sich niemals auf den Kapitalismus eingelassen hat. Deshalb wollten sie ihn liquidieren. Damit wollten sie eine kapitalismuskonforme Linie in Kurdistan durchsetzen. Das war ein Teil ihres Kalküls. Unser Kampf gegen den Kapitalismus ist intensiv und ideologisch unendlich. Das ist unser Grundprinzip. Wir sind überzeugt davon, dass wir den stärksten antikapitalistischen und antiimperialistischen Widerstand leisten. Beispielsweise stellt sich der IS gegen die US-Politik und die US-Jets bombardieren den IS, doch beide sind zwei Seiten derselben Medaille, die sich gegenseitig brauchen und befördern. Auch der Iran wirkt gegen die USA gerichtet, aber beide bedingen und fördern sich gegenseitig. Die Realität sieht also anders aus. Doch die antikapitalistische und antiimperialistische Haltung der PKK und ihr Kampf für den demokratischen Sozialismus müssen als wertvoll angesehen werden. (...)


Fußnoten:
1. http://civaka-azad.org/offizielle-erklaerung-zum-verhandlungsbeginn-zwischen-der-tuerkei-und-der-pkk/
2. http://civaka-azad.org/der-kampf-fuer-demokratie-freiheit-geschwisterlichkeit-und-einen-wuerdevollen-frieden-steht-an-einer-historischen-schwelle/