Der Wahlerfolg der HDP

Allen Angriffen zum Trotz

Mako Qoçgirî

Der Hohe Wahlausschuss der Türkei (YSK, trk.: Yüksek Seçim Kurulu) hat zwar die offiziellen Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 7. Juni noch nicht veröffentlicht (Stand 11.06.), doch es steht außer Frage, dass es vor allem eine Gewinnerin gibt: die Demokratische Partei der Völker (HDP).

Mit etwas mehr als 13 % hat die HDP den Einzug ins türkische Parlament geschafft. Die Zehnprozentwahlhürde, ein Überbleibsel der faschistischen Verfassung der Militärdiktatur von 1982, um die Kurdinnen und Kurden des Landes aus dem Parlament zu halten, wurde deutlich genommen. Der Einzug der HDP bedeutet für die Türkei, dass nicht nur die KurdInnen den Eintritt in das parlamentarische System des Landes geschafft haben, sondern auch die VertreterInnen verschiedener anderer ethnischer und religiöser Gruppen, die bislang nicht die Möglichkeit hatten, ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig hat es mit der HDP eine linke und sozialistische Opposition ins Parlament geschafft; Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialistischer Parteien standen auf ihren vorderen Listenplätzen. Auch die Stimme der Frauen wird durch den HDP-Erfolg im neuen Parlament in Ankara lauter zu hören sein. 32 der voraussichtlich 80 Abgeordneten der HDP sind Frauen. Insgesamt haben 97 Frauen den Einzug ins Parlament geschafft, doch während der Frauenanteil der anderen Fraktionen nicht mehr als 15 % beträgt, erfüllt die HDP die sich selbst auferlegte 40%-Geschlechterquote.Wahlergebnisse in Nordkurdistan

Während die HDP als klare Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorgegangen ist, kann die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), trotz ihrem Stimmenanteil von mehr als 40 %, als Wahlverliererin bezeichnet werden. Die türkische Regierungspartei war mit dem Ziel einer verfassungsändernden Parlamentsmehrheit angetreten, um nach dem 07.06. ihr viel propagiertes Präsidialsystem für Staatspräsident Erdoğan einführen zu können. Dafür wären mindestens 367 Abgeordnete notwendig gewesen. Kurz vor der Wahl hatte sie ihr Mindestziel allerdings auf mindestens 330 Abgeordnete herunterkorrigiert. Mit dieser Anzahl hätte sie immerhin einen Verfassungsänderungsentwurf per Referendum bestätigen lassen können. Doch das schlussendliche Ergebnis stellt die Regierungspartei vor eine völlig andere Realität. Sie verfügt voraussichtlich über 258 Sitze und kann damit noch nicht einmal allein die Regierung stellen. Derzeit laufen die Diskussionen um mögliche Koalitionspartner. Weder ein Bündnis mit der Republikanischen Volkspartei CHP noch mit der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP scheint ausgeschlossen. Für die Regierungsbildung haben die Parteien nach der Wahl eine 45-tägige Frist. Kommt es binnen dieser zu keiner Koalitionseinigung, dürften noch im November Neuwahlen stattfinden.

Der Wahlerfolg der HDP macht deutlich, dass die AKP ihren Zenit überschritten hat. Besonders in den kurdischen Gebieten musste die Partei um Ministerpräsident Davutoğlu und Staatspräsident Erdoğan große Einbußen hinnehmen. Die HDP ist in insgesamt 14 Provinzen stärkste Kraft, aber auch im Westen der Türkei hat sie große Erfolge verbuchen können. So wurden in 10 Provinzen, in denen die Vorgängerparteien der HDP bislang nach keiner Wahl Abgeordnete hatten stellen können, dieses Mal HDP-KandidatInnen von der Bevölkerung ins Parlament entsandt. Das Ergebnis demonstriert, dass alle Versuche der AKP, die HDP unter die Wahlhürde zu drücken – denn die Regierungspartei war sich dessen durchaus bewusst, dass der Einzug der Demokratischen Partei der Völker ins Parlament ihren eigenen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen würde –, nicht nur gescheitert sind, sondern die HDP womöglich weiter gestärkt haben.

Die AKP hatte vor der Wahl gnadenlos auf Eskalation gesetzt und wollte geradezu einen BürgerInnenkrieg provozieren. Ziel dieser Taktik sollte es sein, der HDP das Image des »verlängerten Arms des Terrorismus« zu verleihen, um ihr so insbesondere im Westen der Türkei die Sympathien zu verscherzen. Trotz bestehenden Waffenstillstandes wurden zunächst die Militäroperationen der türkischen Armee verstärkt. Überall sollten bewaffnete Auseinandersetzungen mit der PKK provoziert werden. Den Höhepunkt der Militäraktionen stellte eine Operation Mitte April in der kurdischen Provinz Agirî (trk. Ağrı) dar. Dort wurden türkische Soldaten auf Befehl des Innenministeriums geradezu in den Tod geschickt. Nur ein Eingreifen der Zivilbevölkerung, die sich als lebende Schutzschilde in das Kampfgebiet bewegten, führte dazu, dass die Opferzahlen dieser Operation begrenzt blieben.

Auf die Militäroperationen folgten direkte Angriffe auf die HDP. In Adana und Mersin explodierten Mitte Mai Bomben in HDP-Büros. Nur durch Zufall kam es dabei zu keinen Toten. In Çewlîg (Bingöl) wurde Anfang Juni ein Wahlkampfmitarbeiter der HDP von sogenannten »unbekannten Tätern« mit dreißig Kugeln durchsiebt. Kurz darauf wurde in Erzirom (Erzurum) ein Wahlkampfauto der HDP niedergebrannt, aus dem sich der Fahrer in letzter Sekunde retten konnte, und ebenfalls in Erzirom wurde eine Wahlkampfveranstaltung der HDP von hunderten Faschisten angegriffen, während die Polizei sich, gelinde ausgedrückt, zurückhaltend verhielt. Schließlich gingen zwei Tage vor dem Wahltag auf der letzten HDP-Wahlkampfveranstaltung in Amed (Diyarbakır), an der hunderttausende Menschen teilnahmen, zwei Bomben hoch. Es kamen vier Menschen ums Leben und hunderte wurden verletzt.

Allen Angriffen zum Trotz rief die HDP ihre AnhängerInnenschaft stets zur Besonnenheit auf. Ziel dieser Angriffe war es, eine BürgerInnenkriegsatmosphäre zu schaffen, die bei der Bevölkerung das Bedürfnis nach einer starken Regierungspartei hervorrufen sollte. Doch die Reaktion der HDP und ihrer AnhängerInnen ließ auch diesen letzten Plan der AKP scheitern: »Auf keine Provokation einlassen und die Antwort am Wahltag geben« – das war die Devise der HDP und 13 % Stimmenanteil sprechen dafür, dass die Bevölkerung ihrer Aufforderung gefolgt ist und der AKP die richtige Antwort gegeben hat.

HDP: Der Weg zu einem freien Leben hat sich geöffnet

Nach dem Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrem Einzug ins türkische Parlament ist ihr Parteirat am 10. Juni zusammengekommen, um die Wahlergebnisse und die Provokationen in Kurdistan zu bewerten. Er verabschiedete die aus 15 Artikeln bestehende Abschlussresolution zum Wahlerfolg:

Die HDP ist in einer kritischen Phase als Partei zur Wahl angetreten und hat trotz der Zehnprozenthürde, ungleicher Wahlkampfbedingungen, einer Vielzahl von Angriffen, Bombenattentaten, versuchten Massakern gegen die Partei und ihre AnhängerInnen und Wahlmanipulationen mehr als 6 Mio. Stimmen erhalten; sie hat ihren Stimmenanteil gegenüber den letzten Parlamentswahlen im Juni 2011 um 100 Prozent gesteigert und somit einen großen Erfolg errungen. Mit diesem Erfolg ist die Hoffnung auf eine demokratische, gleichberechtigte und freiheitliche Türkei von Neuem erblüht.

Mit der Überwindung der Wahlhürde durch die HDP am 7. Juni wurden zugleich die Hoffnungen Erdoğans begraben, ein Präsidialsystem zu errichten. Dadurch wurde der Übergang zu einem autoritären Regime vorerst gestoppt. Die AKP hat wesentlich an Kraft verloren und bekam nicht die Unterstützung der Bevölkerung, um allein eine Regierung zu bilden. Somit wurde ihre 13-jährige Alleinherrschaftszeit beendet. Im Gegenzug hat sich der Weg zu einem freien Leben geöffnet.

Diese Wahl ist gleichzeitig der Beweis für das Scheitern einer nach Hegemonie strebenden, expansionistischen und auf konfessioneller Spaltung aufbauenden Nah- und Mittelostpolitik der Regierungspartei. Die Errungenschaften der HDP mit dem Wahlsieg sind nicht nur ein Gewinn für die Völker der Türkei, sondern für alle Völker in der Region und im Mittleren Osten, die für Frieden, Demokratie, Gleichheit und Freiheit kämpfen. Mit der Revolution in Rojava und den Wahlerfolgen von SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien ist die Hoffnung der Werktätigen und der Unterdrückten gestiegen.

Die AKP, die den Lösungsprozess eingestellt hat und das Beharren unserer Völker auf einem nachhaltigen Frieden ausnutzt, hat in Provinzen wie Amed (Diyarbakır), Wan (Van), Agirî (Ağrı) und Colemêrg (Hakkâri) schwere Niederlagen erlitten. So wurde der AKP-Behauptung »Wir sind die politischen VertreterInnen der kurdischen Gesellschaft, nicht die HDP« eine Abfuhr erteilt. Die kurdische Gesellschaft hat bekräftigt, dass die HDP ihre politische Vertreterin im Parlament für ihren seit 35 Jahren andauernden Kampf um Gleichheit, Frieden und Freiheit ist.

Der »Lösungsprozess« hat nicht nur in den Provinzen Amed, Wan, Agirî, Colemêrg, sondern auch in großen westlichen Provinzen wie İstanbul, İzmir, Ankara, Antalya, Kocaeli und Bursa großen Anklang gefunden. Der Ruf nach Frieden ist vom Osten bis in den Westen, vom Süden bis in den Norden in allen Provinzen der Türkei erklungen. So wurde nochmals der Wille der Völker in der Türkei nach einem gemeinsamen Zusammenleben auf dem Boden der Werte der »großen Menschlichkeit« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] betont und der Weg für eine Lösung auf parlamentarischer Grundlage eröffnet.
In diesem Zusammenhang rufen wir als Parteirat der HDP den Staat und die neue Regierung, aus welchen Parteien sie auch immer bestehen sollte, dazu auf, den »Lösungsprozess« an dem Punkt fortzusetzen, an dem er gestoppt wurde. Wir fordern, die Isolation Herrn Öcalans sofort aufzuheben und die Gespräche mit dem Architekten des »Lösungsprozesses«, der in allen kritischen Zeiten auf dem Frieden beharrt und dem »Lösungsprozess« den Weg weist, wieder aufzunehmen. Wir bekunden, dass die HDP in diesem Punkt bereit ist, die ihr zufallende politische Verantwortung zu tragen.
Es ist von größter Bedeutung, dass 40 Prozent der aus der HDP-Liste Gewählten 32 Frauenabgeordnete sind. Für diesen großen Wahlerfolg der HDP waren die Frauen entscheidend und sind als treibende Kraft im Kampf um Gleichheit und Freiheit hervorgetreten. Der Aufruf zu einem »neuen Leben« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] hat gefruchtet und die Frauen haben ihr Gesicht der HDP und ihren Rücken Erdoğan zugewendet. Doch die Tatsache, dass lediglich die 40-prozentige Untergrenze der Geschlechterquote erreicht werden konnte, wird von der HDP selbstkritisch bewertet. Ziel wird es sein, den Anteil der Frauen unter den Abgeordneten in Zukunft auf 50 Prozent zu steigern.

Die Wahl vom 7. Juni hat keiner Partei das Mandat zur alleinigen Regierungsbildung verliehen und macht die Bildung einer Koalitionsregierung notwendig. Die HDP wird bei der Arbeit zur Bildung einer neuen Regierung ihren Versprechungen im Wahlkampf treu bleiben und eine konstruktive Politik verfolgen. Jede Arbeit für eine Regierungsbildung, die im Sinne der Völker der Türkei ist und den politischen Prinzipien der HDP entspricht, wird von uns unterstützt. In diesem Rahmen sind wir auch bereit, unserer politischen Verantwortung gerecht zu werden. Aus diesem Anlass rufen wir auch Staatspräsident Erdoğan dazu auf, die Entscheidung der Völker zu respektieren und sich im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Grenzen zu bewegen, um die Atmosphäre im Land zu »normalisieren«.
Das neue Parlament und die neu zu bildende Regierung sollten ohne Zeitverzug die Arbeit für eine pluralistische, multikulturelle, multilinguale und multikonfessionelle sowie demokratische, freiheitliche, gleichberechtigte, soziale und ökologische Verfassung in Angriff nehmen.

Wir gedenken in allen Ehren all unserer Geschwister, die vor und nach der Wahl bei den durch die feindselige Rhetorik der AKP und des Staatspräsidenten angestachelten Angriffen gegen unsere Partei ihr Leben lassen mussten.

Obwohl die Wahl vorüber ist, werden wir Zeuge von Provokationen auf den Straßen Ameds und von politischen Morden, die an die 90er Jahre erinnern. Wir denken, dass diese Provokationen, Morde und versuchten Massaker durch die Hände einer »Spezialorganisation« verübt werden, um den Wahlerfolg der HDP zu schmälern. Ziel ist es, die Bevölkerung Ameds auf die Straßen zu treiben und somit »Chaos« zu schaffen, das einen Schatten auf die Legitimität der Wahlergebnisse werfen soll.

Ebenso wie die Bevölkerung von Amed vor der Wahl sich bei den Bombenanschlägen mit ihrem Leben gegen die Fallen und Provokationen stellte und trotz der Toten und hunderter Verletzter ihre aufrichtige Haltung wahrte, genauso wird sie sich auch nach der Wahl gegen die Provokationen stellen und ihre Haltung wahren.

Wir rufen den Staatspräsidenten und den Ministerpräsidenten auf, die andauernden Provokationen und Morde sofort zu stoppen, die Versuche, Chaos im Land zu erzeugen, zu beenden und das Land zu normalisieren. Auf der anderen Seite rufen wir alle ArbeiterInnen- und Massenorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Intellektuellen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, AkademikerInnen und alle, die für Frieden stehen, dazu auf, sich gegen diese Versuche zu positionieren.

Als Parteirat bedanken wir uns bei allen, die während der Wahl mit der HDP Bündnisse schlossen, den Wahlkampf unterstützten, materielle und immaterielle Unterstützung leisteten und sich solidarisch zeigten. Wir bedanken uns bei allen, die uns aus welchen Gründen auch immer ihre Stimme gegeben haben. Wir bedanken uns auch bei allen, die uns vielleicht nicht ihre Stimme gegeben, aber dennoch mit uns gefühlt und am Wahlabend mitgezittert haben. Wir begrüßen als HDP nochmals den Widerstand von Gezi und von Kobanê, der uns bei unserer Wahlkampfarbeit große Kraft und Motivation gegeben hat, und gedenken aller Gefallenen dieses Widerstands.

Mit dem Wahlerfolg der HDP wurde der Weg zu einem freien Leben eröffnet, das auf den Werten der »großen Menschlichkeit« aufbauen wird. Es ist nun an der Zeit, diesen Weg zu verbreitern, die Zahl der Menschen, die auf diesem Weg gehen, zu vermehren, die Einheit der Demokratie-, Friedens- und ArbeiterInnenkräfte der Türkei zu entwickeln und mit klaren Schritten in Richtung des Ziels einer demokratischen Herrschaft der Völker zu schreiten.

Der Hohe Wahlausschuss der Türkei (YSK, trk.: Yüksek Seçim Kurulu) hat zwar die offiziellen Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 7. Juni noch nicht veröffentlicht (Stand 11.06.), doch es steht außer Frage, dass es vor allem eine Gewinnerin gibt: die Demokratische Partei der Völker (HDP).

Mit etwas mehr als 13 % hat die HDP den Einzug ins türkische Parlament geschafft. Die Zehnprozentwahlhürde, ein Überbleibsel der faschistischen Verfassung der Militärdiktatur von 1982, um die Kurdinnen und Kurden des Landes aus dem Parlament zu halten, wurde deutlich genommen. Der Einzug der HDP bedeutet für die Türkei, dass nicht nur die KurdInnen den Eintritt in das parlamentarische System des Landes geschafft haben, sondern auch die VertreterInnen verschiedener anderer ethnischer und religiöser Gruppen, die bislang nicht die Möglichkeit hatten, ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig hat es mit der HDP eine linke und sozialistische Opposition ins Parlament geschafft; Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialistischer Parteien standen auf ihren vorderen Listenplätzen. Auch die Stimme der Frauen wird durch den HDP-Erfolg im neuen Parlament in Ankara lauter zu hören sein. 32 der voraussichtlich 80 Abgeordneten der HDP sind Frauen. Insgesamt haben 97 Frauen den Einzug ins Parlament geschafft, doch während der Frauenanteil der anderen Fraktionen nicht mehr als 15 % beträgt, erfüllt die HDP die sich selbst auferlegte 40%-Geschlechterquote.
Während die HDP als klare Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorgegangen ist, kann die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), trotz ihrem Stimmenanteil von mehr als 40 %, als Wahlverliererin bezeichnet werden. Die türkische Regierungspartei war mit dem Ziel einer verfassungsändernden Parlamentsmehrheit angetreten, um nach dem 07.06. ihr viel propagiertes Präsidialsystem für Staatspräsident Erdoğan einführen zu können. Dafür wären mindestens 367 Abgeordnete notwendig gewesen. Kurz vor der Wahl hatte sie ihr Mindestziel allerdings auf mindestens 330 Abgeordnete herunterkorrigiert. Mit dieser Anzahl hätte sie immerhin einen Verfassungsänderungsentwurf per Referendum bestätigen lassen können. Doch das schlussendliche Ergebnis stellt die Regierungspartei vor eine völlig andere Realität. Sie verfügt voraussichtlich über 258 Sitze und kann damit noch nicht einmal allein die Regierung stellen. Derzeit laufen die Diskussionen um mögliche Koalitionspartner. Weder ein Bündnis mit der Republikanischen Volkspartei CHP noch mit der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP scheint ausgeschlossen. Für die Regierungsbildung haben die Parteien nach der Wahl eine 45-tägige Frist. Kommt es binnen dieser zu keiner Koalitionseinigung, dürften noch im November Neuwahlen stattfinden.

Der Wahlerfolg der HDP macht deutlich, dass die AKP ihren Zenit überschritten hat. Besonders in den kurdischen Gebieten musste die Partei um Ministerpräsident Davutoğlu und Staatspräsident Erdoğan große Einbußen hinnehmen. Die HDP ist in insgesamt 14 Provinzen stärkste Kraft, aber auch im Westen der Türkei hat sie große Erfolge verbuchen können. So wurden in 10 Provinzen, in denen die Vorgängerparteien der HDP bislang nach keiner Wahl Abgeordnete hatten stellen können, dieses Mal HDP-KandidatInnen von der Bevölkerung ins Parlament entsandt. Das Ergebnis demonstriert, dass alle Versuche der AKP, die HDP unter die Wahlhürde zu drücken – denn die Regierungspartei war sich dessen durchaus bewusst, dass der Einzug der Demokratischen Partei der Völker ins Parlament ihren eigenen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen würde –, nicht nur gescheitert sind, sondern die HDP womöglich weiter gestärkt haben.

Die AKP hatte vor der Wahl gnadenlos auf Eskalation gesetzt und wollte geradezu einen BürgerInnenkrieg provozieren. Ziel dieser Taktik sollte es sein, der HDP das Image des »verlängerten Arms des Terrorismus« zu verleihen, um ihr so insbesondere im Westen der Türkei die Sympathien zu verscherzen. Trotz bestehenden Waffenstillstandes wurden zunächst die Militäroperationen der türkischen Armee verstärkt. Überall sollten bewaffnete Auseinandersetzungen mit der PKK provoziert werden. Den Höhepunkt der Militäraktionen stellte eine Operation Mitte April in der kurdischen Provinz Agirî (trk. Ağrı) dar. Dort wurden türkische Soldaten auf Befehl des Innenministeriums geradezu in den Tod geschickt. Nur ein Eingreifen der Zivilbevölkerung, die sich als lebende Schutzschilde in das Kampfgebiet bewegten, führte dazu, dass die Opferzahlen dieser Operation begrenzt blieben.

Auf die Militäroperationen folgten direkte Angriffe auf die HDP. In Adana und Mersin explodierten Mitte Mai Bomben in HDP-Büros. Nur durch Zufall kam es dabei zu keinen Toten. In Çewlîg (Bingöl) wurde Anfang Juni ein Wahlkampfmitarbeiter der HDP von sogenannten »unbekannten Tätern« mit dreißig Kugeln durchsiebt. Kurz darauf wurde in Erzirom (Erzurum) ein Wahlkampfauto der HDP niedergebrannt, aus dem sich der Fahrer in letzter Sekunde retten konnte, und ebenfalls in Erzirom wurde eine Wahlkampfveranstaltung der HDP von hunderten Faschisten angegriffen, während die Polizei sich, gelinde ausgedrückt, zurückhaltend verhielt. Schließlich gingen zwei Tage vor dem Wahltag auf der letzten HDP-Wahlkampfveranstaltung in Amed (Diyarbakır), an der hunderttausende Menschen teilnahmen, zwei Bomben hoch. Es kamen vier Menschen ums Leben und hunderte wurden verletzt.

Allen Angriffen zum Trotz rief die HDP ihre AnhängerInnenschaft stets zur Besonnenheit auf. Ziel dieser Angriffe war es, eine BürgerInnenkriegsatmosphäre zu schaffen, die bei der Bevölkerung das Bedürfnis nach einer starken Regierungspartei hervorrufen sollte. Doch die Reaktion der HDP und ihrer AnhängerInnen ließ auch diesen letzten Plan der AKP scheitern: »Auf keine Provokation einlassen und die Antwort am Wahltag geben« – das war die Devise der HDP und 13 % Stimmenanteil sprechen dafür, dass die Bevölkerung ihrer Aufforderung gefolgt ist und der AKP die richtige Antwort gegeben hat.

HDP: Der Weg zu einem freien Leben hat sich geöffnet

Nach dem Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrem Einzug ins türkische Parlament ist ihr Parteirat am 10. Juni zusammengekommen, um die Wahlergebnisse und die Provokationen in Kurdistan zu bewerten. Er verabschiedete die aus 15 Artikeln bestehende Abschlussresolution zum Wahlerfolg:

  1. Die HDP ist in einer kritischen Phase als Partei zur Wahl angetreten und hat trotz der Zehnprozenthürde, ungleicher Wahlkampfbedingungen, einer Vielzahl von Angriffen, Bombenattentaten, versuchten Massakern gegen die Partei und ihre AnhängerInnen und Wahlmanipulationen mehr als 6 Mio. Stimmen erhalten; sie hat ihren Stimmenanteil gegenüber den letzten Parlamentswahlen im Juni 2011 um 100 Prozent gesteigert und somit einen großen Erfolg errungen. Mit diesem Erfolg ist die Hoffnung auf eine demokratische, gleichberechtigte und freiheitliche Türkei von Neuem erblüht.
  2. Mit der Überwindung der Wahlhürde durch die HDP am 7. Juni wurden zugleich die Hoffnungen Erdoğans begraben, ein Präsidialsystem zu errichten. Dadurch wurde der Übergang zu einem autoritären Regime vorerst gestoppt. Die AKP hat wesentlich an Kraft verloren und bekam nicht die Unterstützung der Bevölkerung, um allein eine Regierung zu bilden. Somit wurde ihre 13-jährige Alleinherrschaftszeit beendet. Im Gegenzug hat sich der Weg zu einem freien Leben geöffnet.
  3. Diese Wahl ist gleichzeitig der Beweis für das Scheitern einer nach Hegemonie strebenden, expansionistischen und auf konfessioneller Spaltung aufbauenden Nah- und Mittelostpolitik der Regierungspartei. Die Errungenschaften der HDP mit dem Wahlsieg sind nicht nur ein Gewinn für die Völker der Türkei, sondern für alle Völker in der Region und im Mittleren Osten, die für Frieden, Demokratie, Gleichheit und Freiheit kämpfen. Mit der Revolution in Rojava und den Wahlerfolgen von SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien ist die Hoffnung der Werktätigen und der Unterdrückten gestiegen.
  4. Die AKP, die den Lösungsprozess eingestellt hat und das Beharren unserer Völker auf einem nachhaltigen Frieden ausnutzt, hat in Provinzen wie Amed (Diyarbakır), Wan (Van), Agirî (Ağrı) und Colemêrg (Hakkâri) schwere Niederlagen erlitten. So wurde der AKP-Behauptung »Wir sind die politischen VertreterInnen der kurdischen Gesellschaft, nicht die HDP« eine Abfuhr erteilt. Die kurdische Gesellschaft hat bekräftigt, dass die HDP ihre politische Vertreterin im Parlament für ihren seit 35 Jahren andauernden Kampf um Gleichheit, Frieden und Freiheit ist.
  5. Der »Lösungsprozess« hat nicht nur in den Provinzen Amed, Wan, Agirî, Colemêrg, sondern auch in großen westlichen Provinzen wie İstanbul, İzmir, Ankara, Antalya, Kocaeli und Bursa großen Anklang gefunden. Der Ruf nach Frieden ist vom Osten bis in den Westen, vom Süden bis in den Norden in allen Provinzen der Türkei erklungen. So wurde nochmals der Wille der Völker in der Türkei nach einem gemeinsamen Zusammenleben auf dem Boden der Werte der »großen Menschlichkeit« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] betont und der Weg für eine Lösung auf parlamentarischer Grundlage eröffnet.
  6. In diesem Zusammenhang rufen wir als Parteirat der HDP den Staat und die neue Regierung, aus welchen Parteien sie auch immer bestehen sollte, dazu auf, den »Lösungsprozess« an dem Punkt fortzusetzen, an dem er gestoppt wurde. Wir fordern, die Isolation Herrn Öcalans sofort aufzuheben und die Gespräche mit dem Architekten des »Lösungsprozesses«, der in allen kritischen Zeiten auf dem Frieden beharrt und dem »Lösungsprozess« den Weg weist, wieder aufzunehmen. Wir bekunden, dass die HDP in diesem Punkt bereit ist, die ihr zufallende politische Verantwortung zu tragen.
  7. Es ist von größter Bedeutung, dass 40 Prozent der aus der HDP-Liste Gewählten 32 Frauenabgeordnete sind. Für diesen großen Wahlerfolg der HDP waren die Frauen entscheidend und sind als treibende Kraft im Kampf um Gleichheit und Freiheit hervorgetreten. Der Aufruf zu einem »neuen Leben« [Slogan aus dem HDP-Wahlkampf] hat gefruchtet und die Frauen haben ihr Gesicht der HDP und ihren Rücken Erdoğan zugewendet. Doch die Tatsache, dass lediglich die 40-prozentige Untergrenze der Geschlechterquote erreicht werden konnte, wird von der HDP selbstkritisch bewertet. Ziel wird es sein, den Anteil der Frauen unter den Abgeordneten in Zukunft auf 50 Prozent zu steigern.
  8. Die Wahl vom 7. Juni hat keiner Partei das Mandat zur alleinigen Regierungsbildung verliehen und macht die Bildung einer Koalitionsregierung notwendig. Die HDP wird bei der Arbeit zur Bildung einer neuen Regierung ihren Versprechungen im Wahlkampf treu bleiben und eine konstruktive Politik verfolgen. Jede Arbeit für eine Regierungsbildung, die im Sinne der Völker der Türkei ist und den politischen Prinzipien der HDP entspricht, wird von uns unterstützt. In diesem Rahmen sind wir auch bereit, unserer politischen Verantwortung gerecht zu werden. Aus diesem Anlass rufen wir auch Staatspräsident Erdoğan dazu auf, die Entscheidung der Völker zu respektieren und sich im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Grenzen zu bewegen, um die Atmosphäre im Land zu »normalisieren«.
  9. Das neue Parlament und die neu zu bildende Regierung sollten ohne Zeitverzug die Arbeit für eine pluralistische, multikulturelle, multilinguale und multikonfessionelle sowie demokratische, freiheitliche, gleichberechtigte, soziale und ökologische Verfassung in Angriff nehmen.
  10. Wir gedenken in allen Ehren all unserer Geschwister, die vor und nach der Wahl bei den durch die feindselige Rhetorik der AKP und des Staatspräsidenten angestachelten Angriffen gegen unsere Partei ihr Leben lassen mussten.
  11. Obwohl die Wahl vorüber ist, werden wir Zeuge von Provokationen auf den Straßen Ameds und von politischen Morden, die an die 90er Jahre erinnern. Wir denken, dass diese Provokationen, Morde und versuchten Massaker durch die Hände einer »Spezialorganisation« verübt werden, um den Wahlerfolg der HDP zu schmälern. Ziel ist es, die Bevölkerung Ameds auf die Straßen zu treiben und somit »Chaos« zu schaffen, das einen Schatten auf die Legitimität der Wahlergebnisse werfen soll.
  12. Ebenso wie die Bevölkerung von Amed vor der Wahl sich bei den Bombenanschlägen mit ihrem Leben gegen die Fallen und Provokationen stellte und trotz der Toten und hunderter Verletzter ihre aufrichtige Haltung wahrte, genauso wird sie sich auch nach der Wahl gegen die Provokationen stellen und ihre Haltung wahren.
  13. Wir rufen den Staatspräsidenten und den Ministerpräsidenten auf, die andauernden Provokationen und Morde sofort zu stoppen, die Versuche, Chaos im Land zu erzeugen, zu beenden und das Land zu normalisieren. Auf der anderen Seite rufen wir alle ArbeiterInnen- und Massenorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Intellektuellen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, AkademikerInnen und alle, die für Frieden stehen, dazu auf, sich gegen diese Versuche zu positionieren.
  14. Als Parteirat bedanken wir uns bei allen, die während der Wahl mit der HDP Bündnisse schlossen, den Wahlkampf unterstützten, materielle und immaterielle Unterstützung leisteten und sich solidarisch zeigten. Wir bedanken uns bei allen, die uns aus welchen Gründen auch immer ihre Stimme gegeben haben. Wir bedanken uns auch bei allen, die uns vielleicht nicht ihre Stimme gegeben, aber dennoch mit uns gefühlt und am Wahlabend mitgezittert haben. Wir begrüßen als HDP nochmals den Widerstand von Gezi und von Kobanê, der uns bei unserer Wahlkampfarbeit große Kraft und Motivation gegeben hat, und gedenken aller Gefallenen dieses Widerstands.
  15. Mit dem Wahlerfolg der HDP wurde der Weg zu einem freien Leben eröffnet, das auf den Werten der »großen Menschlichkeit« aufbauen wird. Es ist nun an der Zeit, diesen Weg zu verbreitern, die Zahl der Menschen, die auf diesem Weg gehen, zu vermehren, die Einheit der Demokratie-, Friedens- und ArbeiterInnenkräfte der Türkei zu entwickeln und mit klaren Schritten in Richtung des Ziels einer demokratischen Herrschaft der Völker zu schreiten.