Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

im Laufe unserer Redaktionsarbeiten zu dieser Ausgabe erreichen uns erfreuliche Nachrichten aus verschiedenen Teilen Kurdistans, die ohne Zweifel positive Rückwirkungen auf die gesamte Region des Mittleren Ostens haben werden.

In der Türkei und in Nordkurdistan hat die HDP die 10-Prozent-Hürde überwunden und ist mit 80 Abgeordneten, die ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt darstellen, ins türkische Parlament eingezogen. Verschiedene Aspekte dieses historischen Erfolgs der Demokratiebewegung in der Türkei und der kurdischen Freiheitsbewegung werden in diversen Artikeln dieser Ausgabe beleuchtet. Damit geht in der Türkei und in Nordkurdistan eine intensive mehrere Monate andauernde Phase des Wahlkampfs zu Ende. Die kurdische Freiheitsbewegung rückt den Lösungs(Friedens)prozess und die Haftbedingungen der kurdischen Freiheitspersönlichkeit Abdullah Öcalan wieder in den Fokus, der seit dem 5. April erneuter Isolation ausgesetzt ist. Der Lösungsprozess in der Türkei und die HDP/der HDK als breite Demokratiefront sind vor allem ein Ergebnis des Beharrens von Öcalan auf der demokratischen Politik. Mit dem HDP-Wahlerfolg gewinnt seine Erklärung, die auf dem Newrozfest in Amed verlesen wurde, eine neue Bedeutung: »Der Kampf für Demokratie, Freiheit, Geschwisterlichkeit und einen würdevollen Frieden, den wir für die Völker unseres Landes geführt haben, steht heute an einer historischen Schwelle.«

Neben diesen Errungenschaften in der Türkei/Nordkurdistan dauert der Krieg in Rojava gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) weiter an. In den Abendstunden des 15. Juni vermeldeten die Kämpferinnen und Kämpfer der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) die Befreiung der Stadt Girê Spî (Tall Abyad). Damit ist der Korridor von Cizîrê nach Kobanê erkämpft, Cizîrê und Kobanê sind vereint worden. Neben diesen und noch anderen militärischen Erfolgen dauert der (Wieder-)Aufbau von Kobanê weiter an. Wir geben mit einigen Artikeln einen Eindruck von der Lage vor Ort, von möglichen Hilfsleistungen und den Diskussionen, die unter anderem auf der ersten Konferenz zum Wiederaufbau der zerstörten Stadt Anfang Mai in Amed geführt wurden, wieder.

Und was macht die deutsche Politik? Die Repressionen gegen AktivistInnen der kurdischen Demokratie- und Freiheitsbewegung, die immer mehr zum Symbol einer wirklichen Alternative für den gesamten Mittleren Osten wird, dauern hier auf der Grundlage des bestehenden PKK-Verbots weiter an. Während die Gesellschaften in der Türkei mit der HDP für einen demokratischen Wandel gestimmt haben, besteht vonseiten Deutschlands weiterhin kein Interesse an einem konstruktiven Beitrag zur politischen Lösung der kurdischen Frage. Das Gegenteil ist der Fall, wie ein erneuter Prozess nach §129b vor dem OLG in Hamburg zeigt. Die außenpolitische Positionierung der Bundesrepublik wird auch in diesem Verfahren deutlich.

Auch wenn wir anfangs von »erfreulichen« Nachrichten sprechen und ein wichtiger Durchbruch z. B. in der Türkei und in Rojava erzielt worden ist, dürfen wir nicht vergessen, dass für diese und weitere Erfolge viele Menschen, Freundinnen und Freunde, ihr Leben geben.

Ihre Redaktion

Nach dem Tod von Ferînaz Xosrewanî

Ein Funke aus Kobanê flog nach Mehabad

Anja Flach

Anfang Mai kam es in der Stadt Mehabad in Rojhilat (kurd.: Osten; Iranisch- oder Ostkurdistan) zu einem Serhildan (Volksaufstand). Ein Zimmermädchen war von einem Staatsbeamten in den Tod getrieben worden, offensichtlich war dieser Vorfall wie der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Mehabad ist eine 280 000-EinwohnerInnen-Stadt mit einer besonderen Geschichte. Vor siebzig Jahren hatte in der Region für elf Monate die »Republik Kurdistan« bestanden. Für Ölkonzessionen wurde sie von der schutzgebenden Sowjetunion geopfert. Die kurzlebige Volksrepublik von Mehabad wurde zum Symbol kurdischer Selbstverwaltung und ist es bis heute geblieben.Auch in Bakûr (Nordkurdistan) kam es nach dem Tod von Ferînaz Xosrewanî zu vielen Protesten. | Foto: ÖG

In Mehabad war Anfang Mai die 24-jährige Informatikerin Ferînaz Xosrewanî in einem Hotel, in dem sie als Zimmermädchen arbeitete, um ihre Familie zu unterstützen, in den Tod getrieben worden. Nach Informationen von Rojhelat Info strebte der Besitzer des Hotels Taha eine Hochstufung seines Hauses von vier auf fünf Sterne an. Ein Geheimdienstoffizier soll ihm den fünften Stern versprochen haben. Als Gegenleistung verlangte er ein Treffen mit Ferînaz. Am 4. Mai schloss der Besitzer die junge Frau in einem Hotelzimmer ein. Sie versuchte, durch das Fenster zu fliehen, stürzte ab und starb. Die Nachricht über ihren Tod verbreitete sich über soziale Netzwerke und führte dazu, dass sich am 7. Mai eine protestierende Menschenmenge vor dem Hotel versammelte und es schließlich anzündete.

Gegen die Protestdemonstration setzten die die lokalen Sicherheitskräfte unterstützenden Revolutionsgarden laut Rojhelat Info Tränengasgranaten und scharfe Munition ein. Zwei Menschen starben, 27 Menschen wurden verletzt. Kurdish Question berichtete von 700 Festnahmen. Viele Menschen wurden in Krankenhäusern verhaftet, wo sie ihre Schusswunden behandeln lassen wollten. Über Mehabad und alle anderen kurdischen Städte wurde der Ausnahmezustand verhängt, Internet und Mobilfunknetze wurden abgeschaltet.
In den nächsten zwei Wochen wurden ca. 200 Menschen in Mehabad, Sine (Sanandadsch) und Serdeşt verhaftet, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist. Nach Informationen der Familien der Verhafteten wurden sie wahrscheinlich nach Urmîye und Nexede (Naghadeh) gebracht; wie einige Freigelassene erklärten, werden sie dort gefoltert. Nach unbestätigten Berichten kam es auch in nichtkurdischen Städten zu Demonstrationen.

Kurdische Frauenverbände verglichen Ferînaz‘ Freitod mit dem Tod von Bêrîtan (Gülnaz Karataş), die sich während des Krieges der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und der türkischen Armee gegen die PKK 1992 (»Südkrieg«) von einem Felsen gestürzt hatte, um nicht in die Hände der feudalistischen PDK zu fallen.

Immer wieder kommt es zu Angriffen staatlicher Vertreter auf Frauen. »Frauen müssen wissen, dass das nicht der Angriff eines einzelnen Mannes, sondern ein systematischer staatlicher Angriff ist. Bis dieses Denksystem nicht bekämpft wird, wir uns organisieren und bilden, die kollektiven Verteidigungskräfte entwickeln, ist unser aller Leben in Gefahr und jeden Tag wird eine andere Frau dran sein. Wie die Frauen in Afghanistan für Ferxunde1 eingestanden sind und die Stimme ihrer Unzufriedenheit erhoben haben, müssen die kurdischen Frauen mit ihrer Haltung die Vorhut bilden und sich stärken. Jede Person, Gesellschaft, Frauen, Männer, gemeinsam, wenn sie nicht mit der Vergewaltigungskultur leben wollen, müssen sie diesen Vorfällen entgegenstehen: ›Êdî bese! Es reicht!‹ Damit Vergewaltiger geahndet werden und unsere Haltung ihnen als Warnung gilt, muss jede Form des Widerstandes geleistet werden«, erklärte der Frauen-Dachverband KJAR (Gemeinschaft der Freien Frauen von Rojhilat) zu den Ereignissen.2

Die Geschehnisse in Mehabad fallen fast mit dem Jahrestag der Hinrichtung der kurdischen AktivistInnen Şirîn Elemhuli, Ali Hayderyan, Ferzad Kemanger und Ferhad Vekili am 9. Mai 2010 zusammen. Die vier waren Mitglieder der kurdischen Organisation PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan).

Die Zahl der Hinrichtungen im Iran war nach der heftigen Kritik durch den UN-Reporter Ahmed Şahin und Amnesty International für eine Weile zurückgegangen, stieg aber nach dem Abkommen mit den internationalen Mächten über das Atomprogramm wieder an. Am 13. April wurde die erste Massenexekution nach der Vereinbarung von Lausanne vom 2. April durchgeführt. Seit Anfang April sollen im Iran 25 Personen hingerichtet worden sein. Es wird berichtet, dass seit Anfang des Jahres an die 260 Hinrichtungen stattgefunden hätten.

Die Ereignisse in Mehabad, die Hinrichtungen, die Wut über ein rassistisches System des Unrechts, der staatlichen Morde und sexueller Angriffe auf Frauen, all das deutet auf eine äußerst angespannte Situation in Rojhilat hin. Im gesamten Mittleren Osten hat der Sieg in Kobanê zu großen Hoffnungen geführt, auch in Rojhilat, die Zahl der Beitritte zur PJAK soll sich vervierfacht haben, berichtet Al Monitor. Es fanden zahlreiche Demonstrationen in kurdischen Städten, aber auch in Teheran (dort auch vor dem Gebäude der Vereinten Nationen), Maschhad und anderen Städten Irans in Solidarität mit Kobanê statt.

Vor allem junge Frauen haben sich in den letzten Jahren den Guerillakräften angeschlossen, weil sie ein freies Leben Polygamie, Zwangsheirat und weiteren bedrückenden Verhältnissen vorziehen.

Während der letzten vier Jahre bestand ein Waffenstillstand zwischen der YRK-Guerilla (Ostkurdische Verteidigungseinheiten) und der iranischen Armee. Letztere hatte das Abkommen jedoch mehrmals verletzt. Militärstationen wurden errichtet, Oppositionelle gefoltert und hingerichtet.

Am 20. Mai fanden Militäroperationen in Merîwan (Marivan) und am 21. in Ciwanro (Javanrud) statt, wobei drei Mitglieder der Sepah-Militäreinheiten getötet wurden. Am 23. Mai kam es zu einem Gefecht, in dem wiederum ein Soldat getötet wurde, zwei Guerillas kamen ums Leben. Die YRK kündigten Vergeltung an.

Es sieht so aus, als sei ein Funke von Kobanê übergesprungen, von Rojhilat werden wir in nächster Zeit noch hören.


Fußnoten:

1) Die afghanische junge Frau namens Ferhunde wurde in Kabul gesteinigt und anschließend verbrannt. Angeblich soll sie einen Koran verbrannt haben. Ihre Leiche wurde von Frauen würdevoll zu Grab getragen.

2) http://ceni-kurdistan.com/index.php/de/pressemitteilung/43-erklaerung-von-kjar-gemeinschaft-der-freien-frauen-ostkurdistans-fuer-ferinaz-einstehen-bedeutet-fuer-die-eigene-wuerde-einzustehen

Aktuelle Bewertung

Ein Volk ohne Namen schreibt Geschichte

Nilüfer Koç

Es hat wenig Sinn, sich im Mittleren Osten auf die Tagespolitik zu konzentrieren oder sie zu interpretieren. ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) und alle anderen barbarischen Gruppen machen weiterhin Schlagzeilen mit ihren Gräueltaten, auf der anderen Seite bereden die einzelnen Staaten ihre Bekämpfung. Deren verschiedenen Interessenlagen geschuldete Differenzen im Hinblick auf die richtige Taktik für diese Bekämpfung bestimmen den anderen Teil der Politik. Eine Lösung für Syrien und Irak ist daher bislang nicht in Sicht. Während sich die betroffenen Staaten (Syrien und Irak) in der Defensive befinden, agiert ISIS offensiv. Die Armeen können trotz ihrer militärischen Ausrüstung nicht standhalten. ISIS ist in der Offensive, weil seine Kämpfer eine ideologische Überzeugung, einen Glauben haben, wofür sie zu sterben bereit sind. Die Armeen sind in der Defensive, weil die Glaubwürdigkeit ihrer Regierungen und Führungen infrage steht. Korruption, diktatorische Machtausübung führen zum Verlust des erforderlichen Patriotismus. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Fragestellung, für wen ihre Regierungen kämpfen. Im Falle Iraks und Syriens wird die Frage gestellt, ob für sich selbst oder für die Interessen Irans, der gegenwärtig mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten über die Expansion des Schiismus eine große Präsenz in dieser Region zeigt.

Die kurdische Offensive

Die andere offensive Haltung ist bei den Kurden zu finden. Genauso wichtig wie die militärische Offensive ist die politische und gesellschaftliche. Zwar ist in den Mainstream-Medien die Rede von den militärischen Erfolgen der westkurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) in Rojava, weniger aber von den soziopolitischen. Der Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) am 7. Juni in Nordkurdistan und der Türkei allerdings wird zukünftig viel mehr dazu anregen, die gesellschaftspolitische Offensive der Kurden zum Gegenstand der Diskussion zu machen. Für den Frieden in der Region ist daher nunmehr eine andere Betrachtung der Kurden unumgänglich. Das merkwürdige Beharren der westlichen Welt darauf, die Kurden nur als großartige Kämpfer und Kämpferinnen (YPG/YPJ, HPG/Yekitîya Star, YBŞ/YPJ Şengal etc.) im Krieg gegen den ISIS sehen zu wollen, ist angesichts der immer kritischer werdenden Lage in der Region kontraproduktiv. Dieser Blickwinkel verhindert, dass das Bemühen der Kurden um einen politischen und gesellschaftlichen Frieden nicht gesehen wird. Die Region als Schlachtfeld zwischen dem ISIS, den Staaten und den Kurden darzustellen, verleugnet die andere Wahrheit. Dass nämlich die Kurden ihre Friedenspolitik durchaus mit Erfolg entwickeln. Ihre Alternative mit den betreffenden Völkern teilen, sie einbeziehen, mit ihnen zusammen eine friedliche Zukunft entwickeln. Das Modell demokratischer Selbstverwaltung in Rojava und zuletzt der Wahlerfolg der HDP zeigen die andere Seite der Kurden.

Das Problem des Westens

Wenn vom Westen die Rede ist, dann auch von der Interpretation der Politik anhand von Fakten, Daten etc. Dabei bietet Kurdistan in Rojava und Bakûr (kurd.: Westen und Norden) unzählige neue und sehr konkrete Fakten. Die Frage, warum sie dennoch nicht gesehen werden, muss hier gestellt werden. Es ist wichtig, dass vor allem die westliche Welt darauf antwortet. Aus kurdischer Sicht liegt die Antwort in der Geschichte Kurdistans. Der Geschichte eines Volkes, das sehr lange vergessen worden war. Eines Volkes, dessen Freiheitskampf in­strumentalisiert wurde. Eines Volkes, das auf die internationale Agenda kam, wenn die Interessen es erforderten. Eines Volkes, dessen Parteien in die Terror-Listen aufgenommen und kriminalisiert wurden.

Angesichts dieser Fragestellung wird hier auf die Vorstellung der Kurden als neue und alternative Akteure des Mittleren Ostens hingewiesen. Ohne die politische und gesellschaftliche Veränderung der Kurden zu sehen, kann heute keine produktive Politik im Mittleren Osten für den Frieden gemacht werden. Denn mit der Veränderung der Kurden sind die Staaten (Türkei, Iran, Irak und Syrien) gezwungen, auch sich zu ändern.

Aufgrund der in diesem Zusammenhang sowohl geostrategisch als auch diplomatisch viel engeren Bündnispolitik der Türkei mit dem Westen ist es wichtig, sie in den Vordergrund zu stellen. Nicht zuletzt aufgrund des historischen Sieges der HDP, die Zehnprozenthürde übersprungen zu haben. Den Kurden ist es gelungen, die eigentliche Hürde in der Türkei zu überspringen, nämlich die Hürde zur Freundschaft und Solidarität mit den Türken und allen anderen Identitäten im Land.

Die Stunde der Kurden hat nach Rojava auch in Bakûr geschlagen. In Bakûr, in dem seit 1978 ununterbrochen für Freiheit gekämpft worden ist. In Bakûr, in dem die PKK seit ihrer Gründung 1978 bis heute 24 Regierungen, 13 Generalstabs­chefs, 8 Staatspräsidenten überwunden hat. Sie alle wollten die Kurden loswerden. Nun aber wollen die Kurden, Türken, Azeris, Assyrer, Araber, Pontus-Völker, Armenier, Aleviten, Sunniten, Êzîden, Frauen, Akademiker etc. gemeinsam diejenigen loswerden, die mit der Unterdrückung weitermachen wollen. Mit diesem Versprechen hat die HDP überzeugt und gewonnen. Die HDP entwickelt sich weiter in einer kampferfahrenen Widerstandstradition der Kurden, was auch zu einer neuen Hoffnung für die Türkei geworden ist.

Als Fortsetzung der 92-jährigen Staatstradition der türkischen Republik hat die Regierungspartei AKP alles unternommen, um die Kurden davon abzuhalten, die Momente im politischen Vakuum des Mittleren Ostens für sich zu gewinnen. Sie hat über die Unterstützung von ISIS und Al-Nusra den brutalen Krieg gegen die Kurden in Rojava geführt. Sie hat viel Geld in kurdische Städte investiert und geglaubt, die Kurden kaufen zu können. Bei der jüngsten Wahl haben aber die Kurden klar und deutlich geantwortet. In der Stadt Colemêrg (Hakkâri) hatte Erdoğan eine Woche vor dem Wahltermin den Flughafen auf den Namen des Kurden Salhaddini Eyyubi eröffnet. In Colemêrg haben dann 87 % für die HDP gestimmt. Ähnlich war es in anderen Städten in Bakûr. Die Botschaft war klar: Wir sind nicht käuflich, sondern wollen Freiheit anstatt Geld und Investitionen.680x680nc btm 08 06 15 batman hdp kutlama3

Demokratie in Rojava und der Türkei kann auch Iran verändern

Ein demokratischer Wandel in der Türkei kann auch Iran zu einem politischen Wandel im Hinblick auf die Kurden in Rojhilat (kurd.: Osten) verleiten. Immerhin stecken die in Syrien und Irak jetzt nach der Wahl in der Türkei in einem Prozess, mit dem sie die Staaten zur Demokratie zwingen. Die Kurden in Iran verstärken den Druck auf die kurdische Politik vor allem seit dem Kampf um und dem Sieg von Kobanê. Sie wollen kämpfen und sind bereit dazu. Nicht zuletzt verdeutlichten sie diese Botschaft nach dem Fall Ferînaz Xosrawis, die sich aufgrund des Vergewaltigungsversuchs von Mitgliedern des iranischen Geheimdienstes selbst getötet hat. Binnen weniger Stunden gingen die Menschen in Rojhilat auf die Straßen. Obwohl ihnen bewusst ist, dass das iranische Regime die Todesstrafe praktiziert und in den Gefängnissen brutal foltert [s. S. 19].

Die Kurden in Rojhilat geben deutliche Signale an die kurdische Politik, dass sie bereit sind für einen Aufstand gegen das Regime. Die kurdische Politik ist aber bemüht, den politischen Weg einzuschlagen, da Iran im Gegensatz zu der Türkei, Irak und Syrien nach den Grundprinzipen des Machiavelli sehr flexibel sein kann. Ohnehin hatte Nizam al-Mulk bereits lange Zeit vor Machiavelli das Buch »Die Staatskunst. Grundprinzipen des Staates« verfasst. Ein Grundprinzip ist es, zugunsten der Staatsinteressen flexibel sein zu können.

Gegenwärtig läge es auch nicht im Interesse Irans, einen Krieg mit den Kurden anzufangen. Zum einen, da die iranische Strategie die Richtung verfolgt, Iran von Konflikten fernzuhalten, indem Konflikte außerhalb vertieft, erzeugt werden. Überdies ist Iran außer in Irak und Syrien auch in Jemen und anderen Golfstaaten in Konflikten und Kriegen äußerst aktiv. Ein Krieg in Iran mit den Kurden läge gegenwärtig nicht in seinem Interesse. Dafür aber kämpft er gegen die Kurden in Rojava und der Türkei. Im Falle der Kurden in Syrien und in der Türkei wirkt Iran daran mit, dass es zu keinem Frieden kommt. Indem er einerseits in Syrien das Baath-Regime gegen die Kurden provoziert, in Bakûr durch die Unterstützung der kurdischen Hizbullah (Hüda-Par) zu Provokationen gegen die HDP anstachelt. Andererseits bombardiert er die PKK-Stellungen in den Medya-Verteidigungsgebieten und sendet der AKP ein Signal der Solidarität. Fest steht aber, Iran will keinen Krieg im eigenen Haus. Die Kurden in Iran wollen aber den Stand der Kurden in Rojava, Bakûr und Başûr (kurd.: Süden; Irakisch-Kurdistan) erreichen und das Mullah-Regime loswerden.

Die Vergessenen melden sich zu Wort

Für nicht existent wurden die Kurden in den letzten neunzig Jahren erklärt. In internationalen politischen Institutionen vertreten waren sie durch die Türkei, Iran, Irak und Syrien. Weder in den UN noch im Europäischen Rat noch in asiatischen Zusammenschlüssen existiert dieses Volk. Verfassungsrechtlich waren die Kurden in den erwähnten Staaten nicht existent. Selbst im Post-Saddam-Irak ist ihre Existenz fraglich.

Internationale Bedingung für eine Anerkennung ist entweder, einen Staat zu haben, oder in bestimmten politischen Fällen, wie zum Beispiel die Palästinenser, einen Sonderstatus zu erhalten.

Ohne jeglichen Status waren die Kurden Freiwild für die einzelnen Staaten. Zahlreiche Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Menschenrechtsverletzungen wurden in Kurdistan durch die Türkei, Iran, Irak und Syrien begangen. Der Rechtsweg war den Kurden versperrt, da sie ein Volk ohne Staat waren.
Mit Beharrlichkeit haben die Kurden aber nicht aufgegeben, sondern Widerstand geleistet. Jeder Aufstand war Reaktion auf die Politik der Negation.
Das letzte Glied der Widerstandskette bildet die kurdische Freiheitsbewegung unter der Führung von Abdullah Öcalan und seiner Partei, der PKK. Sie ist das kritische und selbstkritische Resultat aller kurdischen Aufstände.

Wenn heute der Revolution in Rojava oder dem Wahlerfolg in der Türkei vom 7. Juni applaudiert wird, dann ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass sie die Folge einer langen Widerstands­tradition sind, für die unzählige Kurden mit ihrem Leben bezahlt haben. Ob Sieg oder Niederlage, die Kurden haben nie aufgehört zu kämpfen. Ob sie negiert wurden oder aufgrund kurzfristiger politischer Ereignisse mit den Versprechen auf Freiheit betrogen, sie haben nie aufgehört, für die Freiheit zu kämpfen.

Schwächung der AKP ist Verringerung der Aggression im Mittleren Osten

Dieses vergessene Volk schreibt nun Geschichte. Und zwar nicht nur die eigene, sondern die Geschichte einer Region, die Geschichte des Mittleren Ostens. Denn in dieser Region haben in den letzten hundert Jahren die Machthabenden die Geschichte der Völker bestimmt und sie ihnen vorgeschrieben. Die Männer dieser Region haben auf der anderen Seite die Geschichte der Frauen bestimmt. Auch die Gründung der Nationalstaaten Türkei, Iran, Irak und Syrien war kein Rezept für die Türken, Araber und Perser. Heute fürchten diese Staaten um ihre Existenz. Ihre Bürger stellen sie infrage.

Syrien und Irak sind in einem kritischen Zustand. Iran und die Türkei sind in der Defensive und versuchen über externe Intervention in Syrien und Irak ihre Lebensdauer zu verlängern. Die Türkei war mit der AKP bemüht, das Land seit dem Syrienkrieg immer mehr in eine Diktatur umzugestalten. Den Höhepunkt erreichte die AKP mit der Forderung nach Alleinherrschaft für Erdoğan. Die Forderung der AKP nach dem neuen Präsidentenamt war die Forderung nach der absoluten Macht. Symbolisch wurde diese Botschaft mit dem neuen Palast Erdoğans illustriert. Im Land selbst hatte Erdoğan die Zivilrechte der Bürger immer weiter eingeschränkt. Die AKP intervenierte in alle Lebensbereiche der Bürger. Alle islamischen Konfessionen und Glaubensrichtungen sollten zur Hanafi-Lehre des sunnitischen Islam assimiliert werden. Die Hanafi-Rechtsschule war fast 700 Jahre lang das religiöse Merkmal des Osmanischen Reiches. Außer dass die Türkei die zweitgrößte NATO-Armee stellt, hat die AKP zusätzlich noch einen Polizeistaat geschaffen.
Nicht nur in der Innen-, auch in der Außenpolitik sieht die AKP ihren Nährboden im Erzeugen von Konflikten und in Krieg. Durch die Unterstützung für ISIS, Al-Nusra und weitere barbarische Gruppen führt sie Krieg in Syrien. Vor allem gegen die Kurden. In arabischen Ländern förderte sie Gruppen der Muslimbruderschaft. So hatte sie den zur Todesstrafe verurteilten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi unterstützt und mit ihm große Visionen wie den Aufbau einer »islamischen« Armee. Dies unter anderem führte zu noch mehr Feinden gegen Mursi. Auch die sunnitische Bündnispolitik der AKP in Irak vertiefte die ohnehin bestehende Krise. So hat die AKP versucht, von der wirtschaftlichen Notlage der Kurden in Irakisch-Kurdistan zu profitieren. Während sie den Erdölverkauf über die Türkei erlaubte, förderte sie auch den Konflikt zwischen Bagdad und Hewlêr (Arbil). Zudem war sie maßgeblich am Schüren eines innerkurdischen Konflikts zwischen PKK und PDK (Demokratische Partei Kurdistans) beteiligt.

Kurzum, die AKP ist nach 12 Jahren mit dem Projekt des gemäßigten Islam für den Mittleren Osten gescheitert.

Sie hat seit der Syrienkrise keine internationale Warnung ernst genommen, auch nicht die international geübte und offene Kritik an der Unterstützung von ISIS, Al-Nusra etc. Sie hat sich als NATO-Partnerin nicht an Abkommen zur Bekämpfung von ISIS beteiligt. Aufgrund seiner Unterstützung von ISIS war sich Erdoğan sehr sicher, dass Kobanê fallen würde. Ohnehin ging es der Türkei in der Syrienfrage zum einen um die Verhinderung einer Autonomie für die Kurden. Zum anderen sah sie in der Schwächung des syrischen Regimes die Möglichkeit, es zu okkupieren.

Öcalan leistete die Vorarbeit für den HDP-Sieg

Innenpolitisch war die AKP bemüht, den Störfaktor Kurden ruhigzuhalten. Sowohl bei den Oslo-Verhandlungen als auch über den politischen Lösungsprozess mit dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan seit Anfang 2013 war sich die AKP sicher, die Kurden hinhalten zu können. Die Diplomatie der ungewöhnlichen Kompromissbereitschaft Öcalans stellt eine außerordentliche Herausforderung für die AKP und Erdoğan dar. Öcalans Äußerungen und Vorschläge wurden durch die PKK praktiziert. Im Dialog Öcalans mit der sogenannten staatlichen Delegation fanden sich Wort und Tat im Einklang. Das wurde in der Politik in der Türkei von breiten Gesellschaftsgruppen positiv aufgenommen. Im Gegensatz dazu war die AKP weder im Wort noch in der Tat ernsthaft mit dem Frieden. Zuletzt hatte Öcalan einen weit umfangreicheren Vorschlag unterbreitet: Würde die Türkei eine Beobachtungskommission einberufen, welche die Einhaltung der am 28. Februar zwischen der HDP und der AKP-Regierung gemeinsam in einer Pressekonferenz veröffentlichten Zehnpunktedeklaration begleitet, so würde er die PKK zu einem Kongress aufrufen, auf dem der Krieg für beendet erklärt werden könnte. In seiner diesjährigen Newroz-Grußbotschaft wiederholte Öcalan seine Bereitschaft, einen noch größeren Schritt für den Frieden zu unternehmen.

Die Friedenspolitik Öcalans und der PKK fand in der Türkei positive Resonanz und führte zugleich auch zum Hinterfragen der Absichten Erdoğans und der AKP.
Kurz nach Newroz machte Erdoğan eine 180-Grad-Wendung und stellte alles infrage, was zwischen Öcalan, HDP und AKP vereinbart worden war. Erneut erklärte er, es gäbe keine kurdische Frage in der Türkei. Auf diese Strategie aufbauend beteiligte er sich als Staatspräsident der Türkei, obwohl verfassungswidrig, im Wahlkampf persönlich an Kampagnen gegen die HDP. Es ging um seine absolute Macht. Nur in der HDP sah er eine ernsthafte Konkurrentin. Er ging so weit, die HDP als eine von externen Kräften eingesetzte Feindin darzustellen.

Rojavas Revolution hat auch die Türkei überzeugt

Öcalans politische Analyse des Mittleren Ostens bot den Kurden die Möglichkeit, auf alle Eventualitäten in der politischen Krisenregion vorbereitet zu sein. Seine Theorie, dass die Ära der Nationalstaaten in der Region am Ende sei, wurde durch die Schwächung Syriens und Iraks bestätigt. Er sah im Vorfeld auch die Türkei in dieser Kategorie. Ebenso Iran. Er schlug in seinen Veröffentlichungen den Kurden daher die Ära der Völker vor, allen durch die ethnisch fundamentierten Staaten Türkei, Syrien, Iran, Irak diskriminierten und unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen, sich zusammenzuschließen. Weil die Kurden keine ethnisch basierte Staatlichkeit erfahren hatten, sondern deren Opfer waren, waren sie wenig von der Krankheit des Nationalismus und Rassismus infiziert. Sie eigneten sich daher am besten als diejenigen, die die Hand zu Frieden und Freundschaft ausstreckten. Die Einheit der Vielfalt war und ist Öcalans Grundprinzip. Als Kriterium für innergesellschaftliche Demokratisierung und Frieden für jede der Gesellschafts- und Volksgruppen sieht er die Frage der Frauenfreiheit als ausschlaggebend an.

Ein gewichtiger Grund, warum auffallend viele Menschen in der Türkei für die HDP gestimmt haben, war die kurdische Ernsthaftigkeit bei der Völkerfreundschaft. Die YPG/YPJ waren und sind nicht nur eine Guerillaarmee, die Kurden vor ISIS schützt, sondern auch alle anderen Volksgruppen in Rojava.

Die Wahlen als Fortsetzung der Friedensstrategie

In seinen Gesprächen mit der HDP-Imralı-Delegation, die zwischen ihm, der AKP und der PKK vermittelte, hatte Öcalan die HDP beharrlich zu überzeugen versucht, nicht mit unabhängigen Kandidaten, wie es die Kurden seit 1991 gemacht hatten, sondern als Partei, als HDP zur Wahl anzutreten. Er war sich sicher, dass der Zerfallsprozess bei der AKP eingetreten war und dass die Türkei vor einer neuen Diktatur stand. Aus diesem Grund hatte er sich in den Monaten vor der Wahl auch um Überzeugungsarbeit bei der HDP bemüht. Im März 2015 prognostizierte er auch, dass die HDP mehr als 12 % der Stimmen bekommen würde. (Das machte der Sprecher der HDP-Imralı-Delegation, Sirri Süreyya Önder, vor einigen Tagen in einer Livesendung des türkischen CNN öffentlich.) Öcalan war und ist sich sicher, dass der Werdegang der türkischen Republik in den Händen der Kurden liegt. Er hatte auch darauf hingewiesen, dass nach dem Wahlerfolg Vorbereitungen auf staatliche Racheakte getroffen werden sollten. Alle HDP-Kandidaten hatte er im Voraus gewarnt, sich gegen eventuelle Anschläge zu schützen. Zu gut kannte er die türkische Geschichte im Umgang mit Aufständen. Auch war und ist er sicher, dass die Lösung der kurdischen Frage das Schicksal des Landes bestimmt. Und weil die AKP Öcalan gut verstanden hatte, isolierte sie ihn in der Zeit der Wahl von der Außenwelt. Nach dem 5. April hat Öcalan bis heute keine Besuche mehr erhalten. Er wurde bestraft, weil er die HDP zur Kandidatur als Partei motiviert hatte. Er wurde mit Isolation bestraft, weil er die Friedensstrategie entworfen hatte, die die HDP hervorragend praktiziert hat.

Rojava versus Zentralstaat

Das Beispiel des baathistischen Syrien, das den Staat als arabische Republik definierte und daher alle anderen Komponenten außerhalb der Araber entrechtete, ist im Zerfall begriffen. Das Beispiel Rojava in Nordsyrien dagegen stellt die Alternative eines Vielvölkerstaats Syrien mit verschiedenen Glaubensbekenntnissen dar. Rojava zeigt, dass ein anderes, nämlich demokratisches Syrien mit allen Identitäten existieren kann. Die Kurden haben hier gemeinsam mit Arabern, Assyrern, Tschetschenen ein demokratisches Modell entwickelt, das auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung, allen voran zwischen Männern und Frauen und Volksgruppen, basiert. Außer dass sie immer mehr Selbstvertrauen entwickelten, haben sie auch die anderen Volksgruppen ermutigt, Vertrauen aufzubauen. Nicht nur im politischen, sozialen, wirtschaftlichen Bereich, auch bei der Verteidigung agieren die verschiedenen Gruppen zusammen. So befreiten die Kurden gemeinsam mit den Arabern und Assyrern in einer Großoffensive die 85 km lange Abdulaziz-Bergkette vom ISIS, während in Syrien das Regime trotz erheblicher Hilfe aus Iran, Russland und China die Städte Idlib und Tedmur (Palmyra) an ISIS verlor. Im selben Zeitraum konnte die irakische Armee auch mit 6 000 Soldaten die Stadt Ramadi nicht gegen 200 ISIS-Kämpfer verteidigen. Obwohl Kurden, Araber und Assyrer militärtechnisch dem ISIS unterlegen sind, so haben sie doch nicht nur die Bergregion um Abdulaziz, sondern auch die ISIS-Hochburg Girê Spî (Tal Abyad) zwischen den Kantonen Cizîrê und Kobanê erkämpft. Die stärkste Waffe der arabischen, kurdischen und assyrischen Kämpfer und Kämpferinnen ist ihre Überzeugung von einer gemeinsam gestalteten demokratischen und friedlichen Zukunft. Es ist auch wichtig, die Unterstützung der internationalen Koalition, vor allem der US-Luftwaffe, die in Rojava militärische Hilfe leisten, nicht zu vergessen. Doch diese Hilfe leisten die USA auch in Irak.

Das neue Bild der Kurden

Das Bild der Kurden im 20. Jahrhundert war immer geprägt vom Opfer-Täter-Muster. Opfer waren die Kurden, Täter die jeweiligen Staaten und indirekt deren Bündnispartner.
Im 21. Jahrhundert allerdings hat sich dieses Muster gewandelt. Die Kurden sind keine Opfer mehr. Weil sie auch die Staaten nicht kopieren, lehnen sie es ab, Täter zu werden. Sie machen es anders.

Die politische Umwälzung bietet den Kurden viel mehr Möglichkeiten, sich mit ihrem Modell der Demokratie zu entwickeln und zu entfalten. Den Staaten wie Iran, Irak, Syrien und Türkei als Tätern geht es allerdings sehr schlecht. Sie haben unglaubliche Schwierigkeiten, aus ihrer Täterrolle herauszukommen. Die Kurden sind jetzt nach erkämpften Siegen viel stärker in ihrem Selbstbewusstsein. Aber auch in ihrer Verantwortung. Die Erfolge haben ihnen auch großartige Freundinnen und Freunde geschaffen. Viele Menschen aus aller Welt kommen und kämpfen mit ihnen. Nicht nur, dass die Kurden aus ihrer Opferrolle geschlüpft sind, sie ermutigen auch andere dazu. Wie es heißt, Tropfen für Tropfen entsteht das Meer!

Ähnlich verlief auch der innerdemokratische Prozess in Kurdistan. Nachdem Öcalan die Frauen zum autonomen Frauenkampf für ihre eigenen Rechte ermutigt hatte, haben sie die Opferrolle abgelegt. Das führte dazu, dass die Täter, also die Männer, entblößt dastanden. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich zu ändern, ihre Gesinnung zu demokratisieren. Es wird auch den Staaten nichts anderes übrig bleiben, als sich zu ändern, sich zu demokratisieren.

Nun, dieses Volk schreibt jetzt Geschichte.

Überlegungen zum Wesen der globalen Bewegungsfreiheit

Is Freedom of Movement Everybody’s Right?!

Kardelen Sürgün

Is Freedom of Movement Everybody’s Right?!Während wir auf der einen Seite mit der Tatsache konfrontiert sind, dass Menschen im Mittelmeer sterben oder auf dem Landweg durch Osteuropa enorm gequält werden, erleben wir auf der anderen Seite einen bereits etablierten Umgang mit diesem politischen Thema. Die angepasste Akzeptanz der Grausamkeiten erkennen wir an der mittlerweile entstandenen Routine der Berichterstattung über das Massensterben im Mittelmeer oder andere Skandale.

Migrationsbewegungen haben schon immer stattgefunden, in den verschiedensten Epochen und aus verschiedensten Gründen. Was wir heute in und um Europa erleben jedoch, erscheint so manchen wie ein Ausnahmezustand. In der Tat hören wir von enorm hohen statistischen Zahlen, die stetig steigen, wenn es um Migrierende und Geflüchtete geht. Ein Nährboden für stereotype Argumentationen in der »Angst-vor-Überfremdung-Gesellschaft«, die ihren Höhepunkt zurzeit in PEGIDA und Co. erleben. Doch wenn wir hinter die Fassade der Statistik-Kultur schauen, dann müssen wir uns eine Frage stellen: Wie definiert sich in diesem Zusammenhang Migration? Wer legt die Definition fest und erhält sie aufrecht?

Wir sprechen nicht von Migrant*innen, wenn Deutsche auswandern, denn diese werden als »Auswander*innen« klassifiziert, was sie von dem Bild »Migrant*in« abgrenzt. Wenn Deutsche diesen Nationalstaat verlassen, dann sind sie wagemutig und auf der Suche nach einem Abenteuer oder Erfahrungen. So ist es fast schon maßgeblich, während oder nach der Schulzeit für kurze Zeit ins Ausland zu gehen, um mal was »Gutes« zu tun und sich dabei selbst zu entdecken. Später in der Studienzeit können oder sollten wir für eine weitere Zeile im Lebenslauf die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern stärken. In dieser Hinsicht sprechen wir nicht gern von Migrationsbewegungen. Für uns sind diejenigen Migrant*innen, die nach Deutschland kommen, gekommen sind und kommen werden, um zu bleiben. Wir werden überschüttet mit Bildern von Booten voller schwarzer Menschen. Die einzige Information, die am Ende hängen bleibt, besagt, ob sie diesmal gestorben sind oder es geschafft haben. In den Medien wird das Bild der afrikanischen Geflüchteten gerne benutzt, um bestimmte rassistische Bilder zu reproduzieren, wobei das »afrikanisch« auch gar nicht genauer bestimmt werden muss.

Können wir in der heutigen Zeit überhaupt noch in derartigen abgegrenzten Kategorien denken, wenn sich doch aufgrund der sogenannten Globalisierung alles stetig bewegt? Wir können günstig reisen und an wichtigen Ereignissen von Familie und Freund*innen teilhaben, wie das zum Beispiel für viele Menschen in Deutschland ist, die regelmäßig in die Türkei oder nach Kurdistan reisen. Wir skypen mit Menschen, die uns zeitlich sieben Stunden vorauseilen, und verfolgen in sozialen Netzwerken, was sich auf der anderen Seite der Welt abspielt. Wir reisen, wenn wir es wollen und weil wir es können, solange die Staatsangehörigkeit passt. Beziehungen sind über Länder hinweg miteinander verbunden, weil Menschen irgendwann den Ort verlassen haben, an dem sie geboren wurden. Sei es vom Dorf in die Stadt oder in das nächstbeste Land. Wir sind flexibel, wenn es um Studienorte oder Berufsperspektiven geht, solange das unserer Karriere guttut. Umzuziehen und große Distanzen zurückzulegen, temporär oder auch dauerhaft, erscheint uns folglich auch völlig legitim, doch dieses Verständnis von Bewegungsfreiheit endet schlagartig, wenn es um die Einreise bestimmter Menschen geht.

Obwohl Migrationsbewegungen überall auf der Welt stattfinden, zum Beispiel zu großen Teilen innerhalb Asiens oder Afrikas oder nach Australien und in die USA, ist Bewegungsfreiheit ein Privileg für Menschen mit Pässen aus Industriestaaten. Vor allem also für weiße Menschen.

Ein kleiner Teil der migrierenden Menschen kommt auch nach Europa, weil sich hier Perspektiven erhofft werden oder es einfach geographisch nahe liegt. Sie kommen wie so üblich zum Reisen, Studieren oder Arbeiten, aber vielen anderen Menschen wird das Visum verwehrt, obwohl sie es sich leisten könnten, sei es wirtschaftlich oder zeitlich. Ein junger Mensch aus Ghana beispielsweise, der oder die nach Deutschland möchte, bekommt ohne genauere Erklärungen eine Absage. Ist es also so abwegig, von Rassismus zu sprechen, wenn es darum geht, was weißen Passprivilegierten gewährt, jedoch Menschen aus dem globalen Süden verwehrt wird? Bewegungsfreiheit ja, aber nur für bestimmte Menschen. Für Menschen, die zufälligerweise das Glück hatten, in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union geboren zu sein. Das Privileg selbst jedoch hat eine lange Geschichte, warum es gewissermaßen so erstrebenswert geworden ist oder gemacht wird.

In der Tat erhält die Geschichte hinter den medial vorherrschenden und rassifizierten Migrationsbewegungen viel zu wenig Beachtung, obwohl sie doch ein so wichtiger Grund dafür ist, warum viele Menschen migrieren. Dass die Europäer*innen ausströmten, um andere Länder auszubeuten und zu kolonialisieren, wird viel zu wenig in Zusammenhang mit den Zuständen heute gebracht. Migrationsbewegungen vom globalen Süden zum globalen Norden maßgeblich als Resultate kolonialer Geschichte zu sehen, erscheint in der Realität nicht nennenswert oder als kein Rechtfertigungsgrund für Akzeptanz von Migration nach Europa. Die ehemaligen und weiterhin bestehenden Ausbeutungsverhältnisse, welche die westlichen Industriestaaten reich machten und weiterhin profitieren lassen, führen beispielsweise immer noch zu Krieg und Armut, was wiederum in den schlimmsten Fällen die Menschen dazu zwingt zu flüchten. Viele ressourcenreiche Länder sind gefangen in diesen wirtschaftlich hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen, die ihnen ihre Ressourcen wegnehmen, um sie andernorts teuer zu verkaufen. Menschen flüchten auch, weil sie verfolgt werden aufgrund ihrer politischen Einstellung oder sexuellen Orientierung, und oftmals sehen sie keine andere Lösung, als in einen dieser Staaten zu gehen, die so gern mit ihrer Demokratieliebe und ihren Menschenrechten prahlen.

Ihre Verzweiflung oder Perspektivlosigkeit wird dann aber ausgenutzt, um die Machtverhältnisse der Einreisestaaten klarzustellen. Indem sie entscheiden, wer bleiben darf, sitzen sie am längeren Hebel, denn hier zu sein, ist mit gewissen privilegierten Rechten bestückt, die nicht jeder Person vergönnt sind. Wäre die EU heute das politische System in seiner jetzigen Form, wenn sie nicht stets bemüht wäre, sich mit dieser wortwörtlichen Abgrenzung als Einheit zu verfestigen? Die Einreisebedingungen materialisieren sich an den Außengrenzen, die das Bild eines festen Europas schaffen. Die EU zieht ihre Grenzen und erschwert die Einreise, zum Beispiel nach Deutschland, auf allen Wegen, um den Menschen vor den Toren Europas zu zeigen, dass sie ausgewählt werden müssen, weil die Einreise nur für manche bestimmt ist. Nämlich für diejenigen, die ökonomisch wertvoll sind. So kann sich die »Festung Europa« eher als Sieb vorgestellt werden, denn das Grobe wird selektiert. Es wird von illegaler Einreise gesprochen, wenn Menschen trotz fehlender »Gründe« wagen, auf ihrem Einreiserecht zu bestehen und die Grenze zu einem EU-Staat zu passieren. Somit ist die Kriminalisierung ein weiteres Mittel, um die Menschen zu selektieren, die nach Europa kommen. Die Papierlosigkeit und die damit verbundene Illegalität erweist sich wirtschaftlich als sinnvoll, um bestimmte Jobs mit den billigsten Arbeitskräften abzudecken. Das sind dann diejenigen, die aufgrund ihrer Illegalität ihre Arbeitsressourcen dem Kapitalismus nicht anders zur Verfügung stellen können. Der Kreislauf der Migrant*innen nimmt seinen Lauf, denn Länder wie Deutschland vor allem benötigen billige Arbeiter*innen, die seit jeher angeschafft werden müssen.

Obwohl und weil sich Europa so abschottet, nutzen Menschen trotzdem lebensgefährliche Wege nach Europa. Die Tatsache der Migration wird mit Mitteln bekämpft, die keine Auswirkungen auf die realen Situationen der Weltordnung haben. So ändern sich die Ausbeutungsverhältnisse zwischen Industriestaaten und Ländern des globalen Südens nicht, wenn die Grenzen um Europa dichter gemacht werden. Der Wunsch oder der Zwang, nach Europa zu kommen, bleibt dennoch bestehen. Nur werden die Möglichkeiten, das heil zu schaffen, geringer. Die Migrationswege sind lebensgefährlich, weil Industriestaaten ihre Außengrenzen bereits auf andere Länder und Kontinente ausweiten und verteidigen. Boote und Schiffe werden in sogenannten »Push-back-Aktionen« zum Umkehren gezwungen, bevor sie europäische Gewässer erreichen. Menschen, die es auf dem Landweg über Osteuropa versuchen, werden in Gefängnisse gesperrt, bis sie wieder aus dem Land abgeschoben oder an der Grenze ausgesetzt werden. Das Mittelmeer müsste zu keinem Massengrab und Osteuropa kein Minenfeld werden, würde die EU nicht mit allen Mitteln versuchen, die unerwünschte Reise in die Mitte Europas zu verhindern.

Die europäischen Länder mit relevanten Außengrenzen sind aufgrund ihrer geographischen Lage Ersteinreiseländer vieler Menschen. So werden Staaten wie Italien alleingelassen, obwohl die EU so viel von europäischer Gemeinschaft hält. Somit muss sich ein Land wie Deutschland, das zu allen Seiten an andere europäische Länder grenzt, für keine Migrationsbewegung über den Landweg verantwortlich fühlen. Die Dublin-Abkommen schreiben vor, dass Geflüchtete das Land, in dem sie ihren Asylantrag stellen, nicht frei wählen dürfen. Sie müssen in jenem Land bleiben und das Asylverfahren durchlaufen, in dem sie sich offiziell als Erstes aufgehalten haben. Einzelne EU-Staaten sind somit berechtigt, Geflüchtete und Migrant*innen in einen anderen EU-Staat abzuschieben. Sofern dies geschieht, ist ein Land wie Deutschland fein raus. Haben die Menschen es aber mal in ein europäisches Land geschafft, trotz der ganzen Hindernisse, dann droht ihnen womöglich jenseits von Dublin-Regelungen die Ausreise aus Europa, wenn nach Meinung der Behörden kein Grund für einen legalen Aufenthalt besteht, da Asyl nicht notwendig erscheint. Asyl wäre die allerletzte legal geltende Möglichkeit, bleiben zu dürfen, denn andere Möglichkeiten wie zum Beispiel Eheschließung, Familiennachzug oder die Blue Card für »hochqualifizierte« Fachkräfte hätten schon von vornherein die legale Einreise bewirkt.

Ist die Freude über das Ankommen und Bleibendürfen in Europa groß, so hat sie keinen berechtigten Daseinsgrund, denn das Willkommen ist geprägt von bürokratischen Höllen, unmenschlichen Unterkunftsbedingungen und dem Verdammtsein zum Nichtstun. Oftmals wird das begleitet von der Angst, jederzeit immer noch abgeschoben werden zu können, selbst nach vielen Jahren und der Gründung von Familienverhältnissen. Die Willkür über Menschen mit Geflüchtetenstatus ist enorm rassistisch geprägt und institutionalisiert. Selbst wenn viele Menschen mit Geflüchtetenstatus dankbar sind, bleibt zu bemerken, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das sie zu Menschen zweiter Klasse macht, nie aufgelöst wurde.

Nur mit dem politischen Bewusstsein, dass hinter dem System von Nationalstaaten eine rassistische Ideologie gekoppelt mit kapitalistischen Hierarchien innerhalb der Weltwirtschaft steht, kann eine Welt mit wirklicher Bewegungsfreiheit als Alternative gedacht werden. Eine Alternative, die der aktiven Solidarität und kritischen Bewusstseins europäischer Bürger*innen bedarf.

Freiheit für Tomas Elgorriaga Kunze

Keine Auslieferung – weder nach Frankreich noch nach Spanien

Isabel Marin Arrizabalaga, freie Radiomacherin aus dem Baskenland

Während ich diese Zeilen schreibe, wartet Tomas Elgorriaga Kunze und seine Angehörigen, Freund_innen, Sympathisant_innen auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts bezüglich des Auslieferungsantrags von Frankreich. Was ist hier passiert? Wer ist Tomas Elgorriaga Kunze? Dieses werde ich versuchen in diesem Artikel darzustellen.

Freiheit für Tomas Elgorriaga KunzeNatürlich werde ich nicht in kurzen Zeilen sagen können, wer Tomas ist. In solchen Darstellungen kann ein Mensch nur reduziert dargestellt werden. Ich kenne Tomas nur aus einem Brief. Und aus einer sozialen Umgebung. Wir sind beide gleich alt, in wenigen Kilometern Entfernung im Baskenland aufgewachsen. Er aus Hondarribia, einer kleinen Stadt am Meer und an diesem Fluss, der für die beiden Staaten Frankreich und Spanien eine Grenze bedeutet. Für uns Bask_innen zeigt der Bidasoa die Linie Norden- Süden.

Tomas ist seit seiner Jugend ein politischer Mensch, immer in der baskischen Jugendbewegung aktiv. Irgendwann wurde er Gemeinderat in seiner Stadt. Politische Aktivität, die im Baskenland schnell bedeuten kann, dass man ins Visier von den Geheimdiensten und weiteren repressiven Kräften gerät.
Seit Jahrzehnten hält der spanischen Staat eine fiktive Theorie aufrecht, wonach alles, was sich im Rahmen der Baskischen Linken organisiert, zum Umfeld der bewaffneten Organisation ETA gehört und nach dieser engstirnigen Logik die Folge hat, dass man kriminalisiert wird. Tomas kam 1998 in die Hände der spanischen Polizei und wurde dort gefoltert. Das, was ich hier auf die Schnelle schreibe, bedeutet für den Festgenommenen 10 Tage mit unterschiedlichen Methoden körperlich und seelisch angegriffen zu werden: die genannte »Bolsa« – eine Plastiktüte, die über den Kopf der Festgenommenen gezogen wird, um Erstickungsanfälle zu erzeugen, Schläge, Elektroschocks, Drohungen, psychische Gewalt. Dies hat Tomas nach seiner Festnahme bekannt gemacht. Genau wie mehrere Tausende Menschen in den letzten 50 Jahren es getan haben. Eine Praxis, die inzwischen auch von der Organisation amnesty international in ihren Länderberichten über Spanien angezeigt wird.

In Spanien wird gefoltert und diese Methoden werden dafür genutzt, um von den Festgenommenen Aussagen zu erpressen, die sie später weiter belasten können.

Frankreich fordert jetzt seine Auslieferung. Die Gefahr, dass Frankreich dann weiter an Spanien überführt, ist groß; dies ist eine bekannte Praxis.
Zurück zu Tomas: Er tauchte damals nach der Entlassung nach 6 Monaten Haft unter. Spanische Medien lassen ihn als Angeschuldigten gelten. Auch in der Geheimdokumente-Plattform Wikileaks ist ein Dossier zu finden, das die Spanier_innen angeblich an den USA-Geheimdienst CIA geliefert haben sollen.

Aber Spanien hat bis heute keinen Auslieferungsantrag an Deutschland gestellt. Frankreich steht hinter dem Antrag und laut Richter Kraus vom Oberlandesgericht in Karlsruhe bezieht dieser sich auf Urkundenfälschung im Zusammenhang mit Zugehörigkeit zur ETA.

Tomas soll in Frankreich für die in der Zeit bewaffnete Organisation aktiv gewesen sein. Als Ingenieur passt er in das Profil, dass er im technischen Bereich sein Können hat. Dieses Können soll er laut der Anklage für die Perfektionierung von Bomben genutzt haben.

Dafür hat aber die Anklage keine Beweise. Inhaltlich dürfen die deutschen Behörden einen EU-Haftbefehl nicht prüfen, nur die Einhaltung der Formalien wird gecheckt. Ermittlungen laufen anscheinend noch. Ermittelt hat man auch zu den Paragraphen 129a/b, »Mitgliedschaft in einer (ausländischen) terroristischen Vereinigung«.

Fakt ist, dass Tomas Elgorriaga Kunze seit 15 Jahren in Freiburg gelebt hat. Dort existiert er als José, der in der Universität Freiburg studiert, in einer WG lebt und einen Freund_innenkreis hat.

Niemand aus der Zeit hat Verdacht gegen ihn geäußert. In der Uni hat er in dem Bereich Soziologie studiert und schließlich auch an einem Projekt mit Förderung des Bundesforschungsministeriums gearbeitet und beinah hätte er promoviert, was auf Grund seines Alters nicht möglich war. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben ihn als engagierten Kollegen in Erinnerung. Er habe sich dort sehr mit dem Forschungsvorhaben identifiziert, Texte verfasst, Tagungen organisiert. Der Forschungsvertrag lief in aller Regelmäßigkeit zum Dezember 2014 aus. Oktober 2014 wurde Tomas in Mannheim von Kräften des Hessischen Landeskriminalamts mit einem internationalem Haftbefehl festgenommen. Ab dem Moment wurde seine Identität aufgedeckt. Sein Zimmer in der WG und die Arbeitsräume in der Universität wurden durchsucht, in seiner familiären und Freund_innenumgebung wurde versucht, über ihn mehr zu erfahren. Nach dem Wissen der Rechtsanwälte haben diese Untersuchungen keine Beweise gegen Tomas erbringen können. Die Polizei übernimmt unhinterfragt die zweifelhaften Vorwürfe der spanischen Behörde.

Das Netzwerk EHL – Freunde und Freundinnen des Baskenlandes und Angehörige und Freund_innen von Tomas haben ihm Solidarität gezeigt, durch Plakate, Veranstaltungen und Kundgebungen. Die letzte am 2. Juni in Freiburg, wo viele Redebeiträge zu hören waren, sie sind über das Radio Dreyeckland zu hören und auf der Webseite info-baskenland.de zu lesen.

Es ist nicht zu verstehen, welches Interesse die deutsche Politik und das Justizsystem an dieser Auslieferung haben sollen. 

Es ist eine politische Zeit, in der seit 4 Jahren die bewaffnete Organisation ETA ihre Aktivität eingestellt hat und seitens der baskischen Bewegung ein Versuch eines Dialoges in einem demokratischen Rahmen gemacht wird. Im Baskenland unterstützt eine große Mehrheit diesen Prozess. Das war in dem letzten Wahlbündnis für die Wahlen der Gemeinderäte und der Autonomien am vergangenen 24.05. sichtbar, als die politische Koalition BILDU große Unterstützung bekam.

Auch international findet man die Bestätigung für diesen Prozess seitens unabhängiger Beobachter_innen, international bekannter Menschenrechtler_innen, Mitgliedern des Europa-Parlaments und weiterer bekannter Politiker_innen.

Es ist auch sichtbar in der Initiative »gure esku dago« (Es liegt in unserer Hand), der Wunsch und die Forderung, die Stimme abgeben zu können, damit die Frage der Selbstbestimmung zur Sprache kommt. Gerade in diesem Monat Juni wird eine große Aktion entwickelt, in der eine riesige Wahlurne genäht wird, mit Beteiligung zahlreicher politischer und sozialer Organisationen.

Und Tomas selbst begleitet diesen Prozess aus dem Mannheimer Gefängnis, wo er in U-Haft sitzt. Dort bekommt er Post und Besuch, am Anfang erschwert durch die Glasscheibe und die Verlangsamung der Briefe, die in der für Tomas erwünschten Sprache Baskisch ankamen. Von dort aus sendete er zum 1. Mai eine Grußadresse, aus der ich zitiere:

»Die polizeiliche und juristische Gleichschaltung in der EU, z. B. über EU-Haftbefehle und Schengen-Abkommen, unterstützt bewusst und legitimiert ungeprüft rechtsfreie Räume in deren Mitgliedstaaten, um jeden sozialen und politischen Protest und Widerstand langfristig totzuschweigen. Der Weg aus der neoliberalen Sackgasse führt nicht über rassistische Ausgrenzung oder vermeintlich europäische Werte, sondern über den Aufbau von nachhaltigen, demokratischen Gesellschaftsstrukturen. Der soziale und rechtliche Rückschritt der letzten Jahrzehnte bietet auch die Chance, diese auf neu zu gestalten: antipatriarchalisch, ökologisch und solidarisch. Hier, im Baskenland, und überall in der Welt.«

Warum habe ich diesen Artikel geschrieben? Das Wort Gerechtigkeit hat in den offiziellen Kreisen schon lange gar keine Bedeutung mehr. Nichtsdestotrotz richte ich mich an die Öffentlichkeit und an die Menschen, die unter Menschenrechten noch etwas verstehen und wissen, dass das Recht auf Kämpfen eines ist, das uns verbindet.

Tomas ist einer von den vielen Männern und Frauen weltweit, die für eine sozialistische und freie Gestaltung des Menschenlebens kämpfen.

Erste Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê

Rekonstruktion der Menschlichkeit

Leyla Wessling

Um die Nachkriegslage von Kobanê zu evaluieren sowie eine Strategie und Projekte für seinen Wiederaufbau zu besprechen, fand am 2. und 3. Mai in Amed (Diyarbakır) eine entsprechende Konferenz statt. Daran nahmen etwa 370 Personen aus allen vier Teilen Kurdistans, aus Europa und anderen Ländern der Welt teil. Bis dato hatte noch kein Wiederaufbau begonnen, kurz nach der Befreiung wurde dafür eine Behörde gebildet, wurden Pläne erstellt und diplomatische Kontakte ins Ausland geknüpft. Die Konferenz in Amed ist der erste Schritt zur Vernetzung und Koordinierung des Wiederaufbaus. Einem Konferenzbeschluss zufolge soll es im Juli in Strasbourg eine weiterführende internationale Konferenz zur Gewinnung der Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft und Vernetzung der Unterstützer geben. Aus eigener Kraft wird Kobanê den Wiederaufbau nicht stemmen können.Einladung zur ersten Konferenz in Amed

Die Konferenz war ein historisches Zusammenkommen von Kurden aus allen Gebieten einerseits und andererseits von solidarischen Menschen international. Die Teilnehmenden waren mit ihren Interessen und politischen Tätigkeiten sowie Berufen vielfältig vertreten – eine Melange aus Sprechern verschiedener NGOs, Öko-Aktivisten, Bauarbeitern, Gewerkschaftlern, Sprechern unterschiedlicher konfessioneller Institutionen, Architekten, Ingenieuren, Politikern, Helfern aus dem Flüchtlingscamp in Pîrsûs (Suruç) und auch Aktivisten aus der kurdischen Diaspora.

Nach der offiziellen Eröffnung der Konferenz und einem bewegenden Kurzfilm, der einen tiefen Einblick in Kobanês Geschichte und Gegenwart gewährte, wurden von den Teilnehmenden verschiedene Themen wie die soziokulturellen und politischen Konsequenzen des Krieges in Kobanê, der offizielle Bericht über die materielle Lage der Stadt und Lösungen für einen schnellen Weg zum Wiederaufbau diskutiert.

Die Teilnehmenden evaluierten die Angriffe des IS und den breiten kurdischen Widerstand dagegen. In diesem Zusammenhang wurde der brutale IS-Angriff als eine Fortsetzung der Kolonisierung betrachtet, um die demokratischen Rechte des kurdischen Volkes und einer friedlichen Gesellschaft einzuschränken. Der historische Konflikt in Kobanê war demnach ein Kampf zwischen Verteidigern der demokratischen Moderne und Kräften der kapitalistischen Moderne bzw. deren barbarischen Helfern. Der Widerstand in Kobanê wurde zu einer globalen Stimme derjenigen, die an die Werte des Friedens glauben und bereit sind, einen Krieg zum Schutze der Menschlichkeit zu führen. Es war das erste Mal, dass Individuen aus allen Teilen Kurdistans und etlichen Regionen der Welt Solidarität zeigten und sich an der Verteidigung der Stadt beteiligten. Deshalb grüßte die Konferenz alle nationalen Verteidigungseinheiten, darunter die YPG/YPJ, HPG, YBŞ, YJA Star, Peşmerga und alle linken und internationalen Kräfte. Ein Sprecher der Kommunistischen Partei aus Rojhilat (Ostkurdistan) betonte: »Kobanê ist zu einer Front für den Frieden im Mittleren Osten geworden«, ebenso, dass »der Wiederaufbau von Kobanê uns die Gelegenheit gibt, eine andere Gesellschaft aufzubauen.« Die Konferenz gedachte aller Märtyrer des historischen Widerstands und erinnerte an sie als »Märtyrer für den Schutz der Werte der Menschlichkeit«. Sie grüßte alle Friedenskämpfer und den Widerstand der kurdischen Frauen. Dass eine Stadt wie Kobanê zum Symbol der kurdischen Einheit wurde, ist historisch einmalig. Revolutionäre Einheiten, Individuen und internationale Kräfte hatten all ihre Bemühungen und Unterstützung für Kobanê gezeigt und sich Seite an Seite mit den Kurden an den Verteidigungseinheiten beteiligt. Die Konferenz dankte ihnen im Namen der Kurden. Der politische und soziale Sieg Kobanês hat den Weg für fortschrittliche und demokratische Entwicklungen weltweit geebnet. Er hat gezeigt, dass eine Gesellschaft mit ihrem eigenen Willen gegen kapitalistische und imperialistische Angriffe an Boden gewinnen kann. Das Gefühl der Einheit aller Kurden ist zu einer unvorhersehbaren Dimension herangewachsen, und Hoffnungen auf eine Revolution sind auch unter den Jugendlichen, den Frauen und den unterdrückten Teilen der Gesellschaft wiederbelebt.Erste Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê

Es war bemerkenswert, mit welchem Enthusiasmus die Teilnehmenden sich für einen Wiederaufbau Kobanês einsetzten und ihre Ideen und Projekte in ihren kurzen Redebeiträgen mit großer Zuversicht vorstellten. Auch in den Pausen wurde vernetzt, vor allem mit der Hoffnung auf finanzielle Hilfe aus Europa. Gleichzeitig wurde immer wieder die bisher fehlende Koordination betont. Die Konferenz hat für einen ersten Schritt zur Koordinierung aller Hilfsprojekte und Gelder eine wichtige Aufgabe ins Rollen gebracht. Denn in der Realität ist es so, dass es bereits Hilfsprojekte und Aktivitäten gibt, beispielsweise für den Bau eines kleinen Krankenhauses, von der Bauarbeitergewerkschaft aus der Türkei gestartet und für das bereits erfolgreich Spenden gesammelt worden sind.

Solche Projekte finden aber bisher keinen Weg nach Kobanê. Es fehlt ein humanitärer Korridor am einzigen Grenzübergang Mürşitpınar an der türkischen Grenze. Vor allem die Schikanen der türkischen Verwaltung vor Ort stellen ein Hindernis dar. In der Tat sieht es so aus, dass die Grenze nicht ganz offen und auch nicht ganz geschlossen ist, d. h. wenn internationale Hilfsorganisationen humanitäre Güter schicken, werden diese von den türkischen Behörden angehalten, manchmal für mehrere Wochen. Zur Begründung wird gesagt, Kobanê grenze an das IS-Gebiet; gleichzeitig hat die Türkei an anderen Orten gemeinsame Grenzübergänge mit dem IS. Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD) in der Türkei beklagte, dass es für seine Organisation aufgrund der türkischen Gesetze schwierig sei, Spenden und Gelder in der Türkei zu sammeln. Die Hindernisse am Grenzübergang gelten auch für die Bewohner Kobanês, die auf jeden Fall zurückkehren und ihre Stadt wiederaufbauen wollen. Deutlich wurde also, dass aufgrund der Hindernisse an der Grenze, aber auch wegen der türkischen Gesetze bisher fast gar nichts in Kobanê ankommt. Wichtig ist deshalb, die Koordinierung der Spenden zu einem offiziell anerkannten Spendenkonto. Dazu bedarf es aus Sicht der Konferenz dringend einer zentralen Koordination. Die Konferenz appellierte an die türkische Regierung, die Grenze bei Mürşitpınar zwischen Pîrsûs und Kobanê offiziell zu öffnen. Es wurde vor allem die Dringlichkeit eines humanitären Korridors betont, der unter Aufsicht einer internationalen Organisation stehen sollte.

Nach der bewegenden Diskussion über die soziale und politische Lage Kobanês und dem deutlichen Ausdruck des Engagements für den Wiederaufbau dokumentierten Berichte und Analysen der Zerstörung die prekäre Lage der Stadt und eine dringend benötigte Gewährleistung der Alltagsbedürfnisse der Einwohner. Dabei geht es vor allem um Grundbedürfnisse wie sauberes Trinkwasser – das Wassernetzwerk ist nicht sauber und es besteht höchste Infektionsgefahr. Bauarbeiten für die Elektrizitätsversorgung haben bereits begonnen. Ein an der Konferenz Teilnehmender betonte die Notwendigkeit einer Zementfabrik für Kobanê – es gebe bereits eine in der Umgebung, die vor dem 12. April noch in IS-Hand gewesen sei. Ferner ist ein hoher Grad der Luftverschmutzung zu verzeichnen und es fehlen Mittel zur Bergung der Leichen. Die medizinische Versorgung stellt ein großes Problem dar, es werden Krankenhäuser und Medikamente benötigt. Auch Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamintabletten sind sehr wichtig. Zwei Drittel der Schulen und zwei der vier kleinen Krankenhäuser sind zerstört. Der Kanton Kobanê verfügt über sehr ertragreiche Getreideanbauflächen, von denen aber etwa achtzig Prozent zerstört sind; der gesamte Vieh- und Nutztierbestand existiert nicht mehr. Die Lage bezüglich der Gebäudezerstörung ist in den umliegenden Dörfern ein wenig besser, dort werden auch die freiwilligen Helfer untergebracht. Die Konferenz war sich darüber einig, dass Kobanê und die umliegenden Dörfer mit dem gleichen demokratischen Zusammenhalt wie bei der Verteidigung Kobanês wieder aufgebaut werden müssen.

Eines stand fest: Der Wiederaufbau Kobanês ist ein seelisches und moralisches sowie physisches Unterfangen zugleich. Die Stadt sollte mit einem Verständnis von Demokratie, Ökologie und Freiheit der Frauen wiedererrichtet werden. Eine Vertreterin der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus der Türkei betonte, dass die internationale Solidarität nun an einen anderen Punkt geführt werden müsse. Mit dieser fortgeschrittenen Solidarität würde nun ein freiheitliches Leben wieder aufgebaut und nicht nur die Stadt. Es besteht auch großes Interesse von Seiten türkischer Öko-Aktivisten, die sich zu einer großen Ökonomie-Arbeitsplattform zusammengeschlossen haben.

Es wurde sich auf die Notwendigkeit einer nationalen Kampagne für die ökonomische Unterstützung und eine allgemeine Mobilisierung des Kantons Kobanê für den Wiederaufbau geeinigt. Damit diese Wiederaufbau- und Koordinierungsarbeit glattlaufen kann, müssen weltweit Kommissionen unter Führung der Konferenz gegründet werden. Die Teilnehmenden der Konferenz merkten an, dass Kobanê immer noch der Bedrohung durch Angriffe ausgesetzt ist. Die Stadt braucht somit neben der Gewährleistung der menschlichen Grundbedürfnisse auch einen Verteidigungsmechanismus. Es wurde außerdem deutlich gemacht, dass aufgrund der fortwährenden Bedrohung der Kurden ein nationaler Kongress organisiert werden solle, um ihre Werte zu verteidigen und gemeinsam agieren zu können.

Die Teilnehmenden einigten sich zum Ende der Konferenz auf einen 18-Punkte-Plan. Demnach werden u. a. technische Geräte benötigt; es soll an einer Dokumentation und einem Pressearchiv gearbeitet werden; beim Aufbau soll nachhaltige Energiegewinnung wie Sonnen- und Windenergie im Vordergrund stehen; am Wiederaufbau soll sich weltweit beteiligt werden; Frauenzentren sollen gegründet, eine Bildungskommission und ein Bildungszentrum für Kinder eingerichtet werden; mit den Kanalarbeiten am Euphrat soll schnellstmöglich begonnen und ein Teil der Stadt zu einem Open-Air-Museum werden. Frauen und junge wie alte Menschen, die hatten fliehen müssen, wurden aufgerufen, zurückzukehren und aktiv am Wiederaufbau teilzunehmen.

Schließlich wurde betont, dass alle Teilnehmenden Verantwortung für das Engagement beim Wiederaufbau übernehmen und für die Umsetzung der Projekte und Pläne sorgen sollten. Der Appell ging auch an die Kurden in der Diaspora. Man hofft, dass durch kollektive Bemühungen die Stadt wieder aufgebaut und als ein Beispiel für alle Zivilisationen gelten kann, um Erfolg gegen den Terror zu demonstrieren, der die Menschlichkeit angreift. Die internationalen Teilnehmenden verließen die Konferenz gleichfalls mit großer Entschlossenheit zur Verbreitung der Konferenzergebnisse in ihren Heimatländern und zur intensiven Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung.

Im Zusammenhang mit der Konferenz wurde die Homepage www.helpkobane.com eingerichtet.