Überblick über die Lage in und um Rojava
Rojava im politischen und militärischen Kontext
Michael Knapp
Während wir aus dem Irak und Syrien immer wieder Erfolgsmeldungen des Islamischen Staates IS und die Niederlagen und Rückzüge der irakischen oder auch der syrischen Armee zu hören bekommen, können wir beobachten, wie die Verteidigungskräfte von Rojava Schritt für Schritt die Belagerung durch die Jihadist_innen sprengen; nicht nur das, auch der Aufbau der demokratisch-autonomen Strukturen geht offensichtlich voran. Überall entstehen neue Kommunen, Kooperativen und Räte. Der Wiederaufbau von Kobanê hat begonnen. Dennoch sind gerade die infrastrukturellen Probleme und Versorgungsprobleme gravierend, da nach Rojava immer noch, wenn überhaupt, dann sporadisch Hilfsgüter gelassen werden. In diesem Artikel soll versucht werden, die aktuelle Lage der drei Kantone zu charakterisieren.
Kanton Cizîrê – Angriffe und Befreiung
Die Gruppen des IS sind vor Kobanê gescheitert und haben sich als nächstes Ziel ihrer Angriffe insbesondere auch den Kanton Cizîrê auf breiter Front ausgesucht. Dabei kristallisierten sich insbesondere zwei Regionen heraus, in denen besonders heftige Auseinandersetzungen stattfinden: das Gebiet zwischen Til Barak und Hesekê (al-Hasaka) und die Region westlich von Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) in Richtung des Kantons Kobanê. Aufgrund dieser Angriffswellen und auch auf die Aufforderung der Bevölkerung in den jeweiligen Orten hin haben die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) begonnen, Dorf für Dorf zu befreien. Dabei fielen mehrere strategische Zentren des IS. Ein entscheidender Punkt war die Eroberung von Til Hemis südlich von Qamişlo (al-Qamishli) im Februar 2015. Die Stadt mit mehrheitlich arabischer Bevölkerung war seit Jahren vom IS besetzt und bei einem Befreiungsversuch im Januar 2014 hatten YPG und YPJ die damals schwersten Verluste in ihrer Geschichte hinnehmen müssen. In einem Hinterhalt, an dem auch kurdische Parteimilizen teilgenommen hatten, waren über vierzig Kämpfer_innen der YPG und YPJ getötet worden. Der Angriff stellte damals ein gesellschaftliches Trauma dar, da die Leichname vieler Kämpfer_innen geschändet und ihre Köpfe öffentlich, sowohl im Internet als auch auf der Straße, zur Schau gestellt worden waren. Seither war Til Hemis ein Zentrum, in dem Tausende IS-Terrorist_innen stationiert waren, und bildete einen Brückenkopf in den Kanton Cizîrê. Insofern stellt die Befreiung von Til Hemis einen der entscheidendsten Siege der YPG/YPJ über den Islamischen Staat dar. Die Operation zur Befreiung von Til Hemis und Til Barak begann am 21.02.2015 in Zusammenarbeit von YPG/YPJ, den zum Militärrat der Suryoye gehörenden Einheiten der Sutoro und den Einheiten der arabischen Așirets1, dem Cêş El-Senadid. Innerhalb von sieben Tagen wurde die Region befreit. Dieser schnelle und bedeutsame Erfolg war ein weiterer Schlag gegen die Rojava-Politik des türkischen Staates und seiner Verbündeten. Während die südkurdische Demokratische Partei Kurdistans (PDK) sich darauf beschränkte, die YPG in den Medien zu diskreditieren, deutet vieles darauf hin, dass die Türkei einmal mehr zur direkten Unterstützung des IS übergegangen war. Die Schleusen des sonst immer durch das GAP-Projekt weitgehend aufgestauten Habur, dessen Wasser zu jedem anderen Zeitpunkt ein Segen für die Bevölkerung von Rojava und Syrien gewesen wäre, wurden geöffnet und so konnte der IS abgeschnitten von den Verteidigungskräften weiterhin frei operieren und die assyrischen Dörfer im Norden von Til Temir angreifen. Gleichzeitig rückten IS-Einheiten über die türkische Grenze auf Til Xenzir bei Serê Kaniyê am anderen Ende des Kantons Cizîrê vor. Scharfschützen der türkischen Armee sollen ihnen dabei Feuerschutz gegeben und auf Kämpfer_innen der YPG/YPJ gefeuert haben. Die Unterstützung des türkischen Staates führte zu dutzenden ermordeten Assyrer_innen und Kurd_innen und 220 entführten Assyrer_innen.2
Eine weitere entscheidende Entwicklung war die Eroberung des Evdilêzîz-(Kizwan-)Berges etwa 30 km von Hesekê entfernt. Er war die strategische Basis des IS für die Kontrolle des Weges in den Șengal (Sindschar) und der Verbindung zwischen Mossul und Ar-Raqqa. Weiterhin war er Ausgangspunkt für Angriffe auf die ganze Region. Auch er wurde in einer großen gemeinsamen Operation von YPG/YPJ, MLKP Rojava, arabischen und assyrischen Einheiten erobert.
Hesekê – »Das Tor nach Rojava«
Westlich von Til Hemis liegt die größte Stadt der Region, Hesekê. Als ich im Mai 2014 selbst die Gelegenheit hatte, die umkämpfte Stadt zu besuchen, wurde uns immer wieder ihre strategische Bedeutung als »Tor nach Rojava« klargemacht. Sie liegt am südlichen Rand des Kantons Cizîrê. Sie hat mehrere hunderttausend Einwohner_innen, aufgrund von Krieg und Flucht sind die genauen Zahlen allerdings schwer abzuschätzen. Hesekê ist eine Stadt mit einer großen assyrischen, arabischen und kurdischen Bevölkerung. Sie stellt ein historisches Beispiel für das friedliche Zusammenleben im Mittleren Osten dar. Einige Stadtviertel, insbesondere das christliche Zentrum, werden vom Regime kontrolliert, während etwa 50 % der Stadt zur Selbstverwaltung des Kantons Cizîrê gehören und ein Teil im Süden vom IS kontrolliert wird. So kommt es immer wieder zu Versuchen des IS wie auch des Regimes, teilweise gemeinsam, die Kontrolle über die selbstverwalteten Gebiete von Hesekê zu erringen und so über einen Brückenkopf in den Kanton Cizîrê zu verfügen.3 Insbesondere nach der Niederlage vor Kobanê (Ain al-Arab) scheint der IS seine Kräfte in den letzten Wochen vor Hesekê einzusetzen. Es ist ein Beispiel für die Multiethnizität der Region. Die Angriffe des IS wie auch des Regimes zielen darauf ab, die Bevölkerung in einen sektiererischen Krieg zu stürzen. So wurde zum Widerstandsfest Newroz am 20.03.2015 ein schwerer Anschlag des IS verübt, bei dem mindestens 29 Frauen, Männer und Kinder ums Leben kamen. Vorherige, ähnliche Anschläge wie im Mai 2014 vor Schulen fanden zeitgleich mit Operationen des Regimes gegen die Selbstverwaltung statt. Am 17.01.2015 war es ebenfalls zu gemeinsamen Angriffen von Regime, Hisbollah und IS auf YPG-Stellungen gekommen.4 Zuvor waren Mitglieder der Rätebewegung im Stadtzentrum von Hesekê festgenommen, Waffen an die arabische Bevölkerung verteilt und die Bevölkerung der arabischen Stadtteile mit der Behauptung »Die Kurden werden Cizîrê von Syrien abtrennen, und wenn die YPG stärker werden, dann werden sie Euch Eure Stadtviertel nehmen« aufzuhetzen versucht worden. Allerdings ließ sich die Mehrheit nicht instrumentalisieren und beteiligte sich nicht an den Angriffen des Regimes, die daraufhin scheiterten. Danach traten viele arabische Jugendliche in Hesekê den YPG bei.
Offensichtlich scheint es zumindest bei Angriffen auf die Selbstverwaltung in Rojava eine gewisse Toleranz und Koordination des Regimes gegenüber dem IS zu geben.5 Durch die IS-Angriffe hat das Regime viele seiner Ressourcen in Hesekê verloren und die arabische Bevölkerung in den südlichen Stadtvierteln fordert die YPG/YPJ auf, sie gegen den IS zu verteidigen (unter anderem erklärten dies die Vertreter von arabischen Așirets und die Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen).6 Diese Anfrage wurde von den YPG beantwortet: »Unsere Kräfte sind bereit. Wir werden nicht erlauben, dass die Banden die Stadt betreten und das Zusammenleben der Volksgruppen und die Geschwisterlichkeit stören und die Stadt in ein Schlachtfeld verwandeln.« Bis Ende Mai, Anfang Juni konnten die YPG/YPJ dutzende arabische und assyrische Dörfer um Hesekê und die nahegelegene Kleinstadt Til Temir herum befreien. Währenddessen dauern die Kämpfe vor Hesekê zwischen Regime und IS weiter an, allerdings wird bis in die europäischen Medien hinein verbreitet, Hesekê stehe kurz vor dem Fall. Dieser Diskurs wird vom Regime befeuert, dessen Soldaten die Bevölkerung auffordern, die Stadt zu verlassen.7 Das scheint auch ein Ausdruck der Zermürbung der in Hesekê stationierten Regimesoldaten zu sein. Dieser Ausdruck schlug sich auch sofort in den internationalen Medien nieder, welche, vergleichbar mit Kobanê, den Fall der Stadt an den IS nur noch als eine Frage der Zeit prognostizierten.8 Statt die Stadt zu verlassen, stellten sich viele Araber_innen, Kurd_innen und Assyrer_innen hinter die YPG, die nun zusammen mit den Verteidigungskomitees auch die Verteidigung der südlichen Stadtviertel übernommen haben. So konnte am 07.06. der Angriff des IS zumindest vorerst gestoppt werden. Dabei fielen nach Angaben der YPG elf Kämpfer_innen. Der IS hatte mit Panzern, Humvees und Artillerie das Stadtviertel Neșwa Xerbi angegriffen.
Kampf um die Verbindung der Kantone Cizîrê und Kobanê
Das Embargo gegen Rojava wird von allen Seiten weiter ausgeübt und während die Koalition durchaus bereit ist, stellenweise den IS zu bombardieren, verweigert sie jegliche humanitäre Hilfe für Kobanê, und es gibt auf politischer Ebene keinerlei Engagement der westlichen Staaten für einen humanitären Korridor durch Nordkurdistan (Türkei). Auch hier scheint die Selbstverwaltung von Rojava auf sich allein gestellt zu sein und so kämpft sie zusammen mit Einheiten des Bündnisses »Burkan al-Firat« (der Freien Syrischen Armee FSA nahes Bündnis) und Internationalist_innen Schritt für Schritt den Korridor durch IS-besetztes Gebiet frei. Ein besonders wichtiges Ereignis war dabei die Befreiung der Stadt Mabruka, etwa vierzig Kilometer von Serê Kaniyê entfernt. Sie war ein strategisch bedeutender IS-Stützpunkt an der Grenze zum Kanton Cizîrê, der u. a. auch für die Energieverteilung in der Region große Relevanz hatte. Die YPJ-Kommandantin für Cizîrê, Viyan Gewda, erklärte, dass in der seit dem 6. Mai laufenden Operation mehr als 500 Dörfer und Weiler befreit worden seien.9 Der für die Lebensmittelversorgung zuständige Rat des Kantons Cizîrê begann so schnell wie möglich daran zu arbeiten, die Lebensmittelversorgung in den befreiten Gebieten sicherzustellen. Zunächst konnten acht Tonnen Mehl und drei Tonnen Grundnahrungsmittel an 483 Familien verteilt werden. Um den Bedarf in den befreiten Gebieten genauer erfassen zu können, wurden Untersuchungskommissionen gebildet.10
Menschen aus den umliegenden Ortschaften begrüßten die YPG und YPJ. Der entscheidende Punkt zur Errichtung eines Korridors ist jedoch Girê Spî (Tell Abyad). Aufgrund der Bedeutung des Ortes soll er hier zunächst einmal kurz vorgestellt werden. Girê Spî liegt zwischen den Kantonen Cizîrê und Kobanê (110 km von Serê Kaniyê, 70 km von Kobanê) und ist wie viele Ortschaften hier eine durch die syrisch-türkische Grenze geteilte Stadt. In Nordkurdistan (Türkei) wird der Ort auf Kurdisch Kaniya Xezalan genannt, während der türkische Staat die kurdische Kleinstadt in Akçakale umbenannte. Der Grenzübergang Akçakale ist eine der zentralen Versorgungsrouten des IS über die Türkei und wird von ihm deshalb mit besonderer Entschlossenheit verteidigt. Girê Spî ist wie viele Orte in Obermesopotamien uralt. Die Wurzeln der Besiedlung des »Weißen Hügels« (Girê Spî) gehen zurück bis auf das Neolithikum. So reichen archäologische Funde hier bis mindestens in das frühe 6. Jahrtausend v. u. Z. Im Rahmen der Arabisierungspolitik des syrischen Staates wurde Girê Spî in Tell Abyad umbenannt. Girê Spî war von der Politik des arabischen Gürtels ab den 1960er Jahren und der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus der Region besonders betroffen. Schon damals hatte die Region die strategische Bedeutung, einen Keil zwischen die beiden stark kurdisch besiedelten Gebiete Cizîrê und Kobanê zu treiben.11 Girê Spî hatte als Kleinstadt vor Beginn des Aufstands und des Krieges etwa 15 000 Einwohner_innen, ein beträchtlicher Teil von ihnen immer noch Kurd_innen. 2011 mit Beginn der Aufstände organisierte sich auch in Girê Spî die kurdische Bewegung und ein Mala Gel (Volkshaus) wurde aufgebaut. Sowohl die syrische Opposition als auch radikalsunnitische Gruppen begannen in Girê Spî auf die Straße zu gehen. In dieser Phase begann die Verdrängung der kurdischen Gruppen und die Organisierung und Stärkung von al-Qaida (Jabhat al-Nusra, JaN) in und um Girê Spî durch die türkischen Geheimdienste über den Grenzübergang Akçakale, vor allem gegen die kurdische Bewegung, aber auch das Assad-Regime. Wie auch in Serê Kaniyê drang 2012 jihadistische Verstärkung gemeinsam mit FSA-Einheiten in Girê Spî ein, sprengte das Mala Gel und begann mit einer Vernichtungs- und Vertreibungspolitik gegenüber allen, die al-Qaida nicht zustimmten. In dieser Phase kam es zu Massakern mit dutzenden Toten. Nachdem al-Qaida/Jabhat al-Nusra 2013 im Widerstand von Serê Kaniyê geschlagen worden war, übernahm der ISIS/IS die Kontrolle über die Region und richtete dort ein regionales Hauptquartier und eine Verbindungslinie in die Türkei ein.12 Der Grenzübergang ist ein zentraler logistischer Knotenpunkt im Netzwerk des IS und dient sowohl der Versorgung mit Waffen, Munition, dem Schmuggel und Handel auf die Schwarzmärkte der Türkei und der Welt.13 Er ist der direkte Zugang der hundert Kilometer entfernten IS-»Hauptstadt« Ar-Raqqa zur Türkei. Girê Spî dient aber auch als einer der Ausgangspunkte der Angriffe insbesondere auf Kobanê und auf Rojava im Allgemeinen, insofern hat die Operation gegen den IS in Tell Abyad eine besondere strategische Bedeutung für Rojava, aber auch für ganz Syrien, da dies das Abschneiden einer entscheidenden strategischen Linie des IS in die Türkei bedeutet. Entsprechend allergisch reagierte der türkische Präsident Erdoğan auf die Erfolge der YPG/YPJ vor Girê Spî. Er kritisierte die internationale Koalition, in Tell Abyad Turkmen_innen und Araber_innen zu bombardieren und die »Terrororganisationen« PYD, YPG und PKK zu installieren. »Araber_innen und Turkmen_innen« scheint sich dabei auf den IS zu beziehen und es bleibt abzuwarten, wie sich die Türkei zu einer Verbindung der Kantone Kobanê und Cizîrê verhalten wird. Bezeichnenderweise erwähnte Erdoğan mit keinem Wort den Terror des IS.14 Eine Niederlage des IS bei Girê Spî würde einen bedeutenden Rückschlag für die Rojava-Politik der Türkei bedeuten. Daher reißen die Berichte über IS-Terrorist_innen, die sich frei über die türkische Grenze bei Akçakale bewegen, nicht ab.15 Wir wissen aus Kobanê, dass auch dort IS-Terrorgruppen mehrfach unter den Augen der türkischen Armee von türkischem Territorium aus die Stadt angegriffen haben.16 Dennoch scheint sich der IS auf eine Niederlage in Girê Spî einzustellen, so versucht er gerade den Grenzübergang zur Türkei Bab al-Salaam/Öncüpınar bei Azaz mit allen Mitteln aus den Händen von al-Qaida/Jabhat al-Nusra17 zu erobern.18 Um Azaz findet ein Hegemonialkrieg zwischen unter dem Deckmantel der FSA agierenden Al-Qaida-Einheiten (JaN, Ahrar al-Șam) und dem IS statt. Die Koalition greift in diesem Fall auf Seiten von al-Qaida ein.19
YPG/YPJ und Burkan al-Firat gemeinsam haben jetzt am 13.06. Girê Spî von Ar-Raqqa abgeschnitten und begonnen, den IS in Girê Spî aus drei Richtungen zu bekämpfen. Dieser wendet dagegen eine Taktik der menschlichen Schutzschilde an, nimmt Geiseln und verübt Massaker an der Zivilbevölkerung. Diese IS-Politik führt zu einer massiven Fluchtwelle aus der Region. Während zuvor viele in den Kanton Cizîrê fliehen konnten und bewegende Bilder von Frauen zu sehen waren, welche die Verschleierung vom Körper rissen und feierten, als sie die befreiten Gebiete erreichten, versuchen mit der Verschärfung der Gefechte viele über die türkische Grenze nach Nordkurdistan zu gelangen. Tausende befinden sich an dieser Grenze, in den beiden Tagen wurden sie jedoch immer wieder vom IS gemeinsam mit der türkischen Armee, die dazu scharfe Munition, Wasserwerfer und Tränengas einsetzte, nach Girê Spî zurückgetrieben. Am Nachmittag des 14.06. überwanden Hunderte aber dennoch den Stacheldrahtzaun und zwangen das türkische Militär, einen Fluchtkorridor zu öffnen.20
Insbesondere die Geiselnahmen verlangsamen das Voranschreiten der Befreiung der Region, da sowohl YPG/YPJ als auch Burkan al-Firat großen Wert darauf legen, zivile Leben zu retten. Immer wieder rufen ganze Dorfgemeinschaften die YPG/YPJ zur Hilfe und zur Befreiung ihrer Orte auf. Das betrifft Menschen aller ethnischen und religiösen Identitäten.21 Das YPG-Kommando des Kantons Cizîrê hat am 13.06. eine bemerkenswerte Erklärung abgegeben, in der es die Bevölkerung in den Kampfgebieten aufforderte, sich in den Kanton Cizîrê zurückzuziehen und nicht ins Ausland zu fliehen. Das zeigt einerseits die Überzeugung der YPG, die Kampagne gegen den IS in Tell Abyad bald zu einem Ende zu bringen, andererseits aber auch den im Gesellschaftsvertrag verankerten Grundsatz des Rechts auf Asyl für alle Flüchtenden. Mit der Aufforderung soll auch Geiselnahmen und Massakern durch den IS entgegengewirkt werden. Die Menschen erhalten von den YPG eine Unterstützungsgarantie für die Rückkehr.
Während einerseits Einheiten, die unter dem Dach der FSA standen, an der Seite von YPG und YPJ kämpfen, orientiert sich die in Istanbul ansässige Nationale Koalition (ETILAF) an der Politik ihrer Gastgeber und Finanziers, der Türkei, Saudi-Arabiens und Qatars. Besorgt über den militärischen Erfolg der Selbstverteidigungskräfte verschärften diese Gruppen ihre Lobbyarbeit und Propaganda gegen die Selbstverwaltung in Rojava. Die versuchten sie dabei als einseitig »ethnisch-extremistische« kurdische und antiarabische Kraft darzustellen und den YPG Massaker an der arabischen Zivilbevölkerung und Misshandlungen zu unterstellen.22 Einwohner_innen aus den davon angeblich betroffenen Bedia-Dörfern bei Til Temir/Hesekê bezogen gegen die Anschuldigungen klar Position. So erklärte die Geflüchtete Xidir Xizem: »Die Kräfte von YPG und YPJ haben uns vor den Banden gerettet. Die Banden benutzten das Gebiet als eines ihrer strategischen Hauptquartiere. Sie haben von diesem Gebiet aus Angriffe auf kurdische, arabische und assyrische Gebiete durchgeführt, um Widersprüche zwischen den Völkern zu schaffen ... Niemand soll in unserem Namen substanzlose Anschuldigungen gegen die YPG vorbringen. Wir haben die Wahrheit mit unseren eigenen Augen gesehen und erlebt. Die Banden machten unsere Häuser zu Ruinen und plünderten sie. Sie haben die schiitischen Araber_innen mit Gewalt von hier vertrieben. Außer den YPG ist uns niemand zu Hilfe gekommen ... Die YPG haben uns vor der Unterdrückung durch die Banden gerettet. Wegen den Widerstandskämpfer_innen der YPG können wir heute wieder ruhig in unserem Dorf leben.« Weitere Dorfbewohner_innen bestätigten die Aussagen von Xidir Xizem.23
Die Situation in Kobanê
Obwohl die Stadt Kobanê zu 70–80 % in Trümmern liegt und die gesamte Infrastruktur zerstört ist, kehren immer mehr Menschen dorthin zurück und nehmen am Wiederaufbau teil, der seit den ersten Tagen Ende Januar 2015 mit viel Idealismus und wenig Mitteln umgesetzt wird. Eines der größten Probleme von Kobanê stellt die hohe Dichte von zurückgelassenen Sprengkörpern dar. Die Versorgung mit Mitteln für den Wiederaufbau, Medizin und Nahrungsmitteln ist ebenfalls alles andere als gesichert. Insbesondere die eigentlich blühende Landwirtschaft des Kantons ist schwer geschädigt, da die Ackerflächen wegen der Verminung nicht genutzt werden können. Bis Ende Mai gab es schon mindestens 45 Tote durch Sprengfallen und Minen in Kobanê und Umland.24 Insofern ist der Kanton besonders vom Embargo der Türkei und des Westens betroffen. Die Grenze zur Türkei stellt einen Bedrohungsraum für die Bevölkerung von Kobanê dar. Der stellvertretende Außenminister von Rojava, Idriss Nassan, beschreibt die Lage dort folgendermaßen: »Auch schon vor dem Krieg, bevor die Kämpfe in Kobanê ausgebrochen sind, gab es verschiedene Bestrebungen, die Grenze zu passieren, sei es, weil sie auswandern wollten oder Handel betreiben wollten. Es war auch schon damals so, dass die Grenze ein Ort war, wo gefoltert wurde, wo misshandelt wurde, wo getötet wurde.
Um ein konkretes Beispiel zu geben: Ein 17-jähriger Jugendlicher hat die Grenze passiert nach Bakur, nach Nordkurdistan, wurde dort aufgehalten, wurde gefoltert auf schlimmste Art und Weise, danach haben sie auf ihn uriniert und liegen gelassen. Also es ist etwas Unmenschliches, was regelmäßig dort vorkommt. Die Grenze ist tatsächlich eine Grenze des Todes und der Folter, während in anderen Gebieten, die von islamistischen Kräften wie Al Nusra und IS kontrolliert werden, die Grenzen zur Türkei offen sind.« Weiterhin operierte der IS wie oben erwähnt auch von der türkischen Seite der Grenze aus gegen den Kanton Kobanê: »... es gab einen Angriff an dem Grenzübergang Mürşitpinar auf Kobanê. Dort kam eine Autobombe des IS von der türkischen Seite und ist an dem Grenzübergang explodiert und hat 17 Zivilisten mit in den Tod gerissen. Wir wurden davon überrascht, weil wir keinesfalls mit einem Angriff aus dem Norden gerechnet haben, aber die Autobombe wurde von den türkischen Sicherheitskräften durchgelassen, ist dort zur Explosion gekommen.«25
Es stellt sich hier die scheinbar widersprüchliche Situation dar, dass der Westen zwar einerseits Bomben zur Luftunterstützung gegen den IS abwirft, aber der Bevölkerung humanitäre Hilfe vollständig verweigert. So soll anscheinend die missliebige Selbstverwaltung der Region geschwächt werden. Die Selbstverwaltung versucht mit Unterstützung verschiedenster Initiativen, die medizinische Infrastruktur, aber auch das Schulsystem wieder in Gang zu bekommen, und denkt trotz der schlimmen Lage über einen Wiederaufbau der Stadt nach ökologischen Prinzipien nach. Idriss Nassan erklärte dazu im Interview: »Im Moment haben wir einige Generatoren, die reichen aber nur für 2–3 Std. Strom täglich, um die Handys aufzuladen und das Wichtigste fürs tägliche Leben zu organisieren. Darüber hinaus haben wir keine Möglichkeit, Strom zu produzieren, deshalb wollen wir die Sonnen- und Windenergie nutzen. Einer unserer Grundsätze in Rojava ist es auch, ein ökologisches und demokratisches Leben zu ermöglichen und dafür gibt es die Notwendigkeit, die ökologische Energieproduktion zu nutzen.«26
Im Moment ist das Entscheidende für Kobanê jedoch der Aufbau eines humanitären Korridors. Wie oben beschrieben wird dieser Korridor vom Kanton Cizîrê aus erkämpft. Auch von Kobanê aus rücken YPG und Burkan al-Firat auf Girê Spî vor.
Der Kanton Afrîn und Aleppo – Gefahren durch Jaish al-Fatah, Türkei, IS und FSA
Der westlichste Kanton Rojavas, der Kanton Afrîn, wurde in der öffentlichen Wahrnehmung von den Kämpfen in Kobanê und Cizîrê überschattet. Umgeben von Gruppen der FSA mit unklarer Loyalität oder mit solidarischen Einheiten wie Cephet el-Akrad konnte der Kanton sich eine gewisse Sicherheit bewahren. Befördert wurde diese Sicherheit durch die geographischen Besonderheiten. Während Kobanê und Cizîrê größtenteils flach sind, ist der Kanton Afrîn gebirgig, bietet also bessere Voraussetzungen für eine Verteidigung.
Die politischen Rahmenbedingungen haben sich jedoch in den letzten Wochen und Monaten verändert. Saudi-Arabien, die Türkei und Qatar befinden sich auf einem Unterstützungskurs für die jihadistische Allianz Jaish al-Fatah (JaF), die von Jabhat al-Nusra und der salafistischen Ahrar al-Sham dominiert wird. Beim Aufbau von JaF geht es unter anderem darum, JaN als Rebell_innen in Syrien auch international Legitimität zu verleihen. Das entspricht sowohl der vom maßgeblichen Al-Qaida-Strategen Abdullah bin Mohammed entwickelten Kursänderung des Netzwerkes hin zur Infiltration von Institutionen als auch der Taktik, sich wie am Beispiel Libyens durch islamistische Bündnispolitik zu legitimieren und so zu schützen, da ein militärischer Frontalangriff auf den Westen »militärischen Selbstmord« darstelle. Insbesondere der stellvertretende Kommandeur von JaN, Abu Mariah al-Qahtani, begrüßte diese Entwicklung.27 Dieser Strategiewechsel entspricht auch den Interessen der JaN und Ahrar al-Sham unterstützenden regionalen und internationalen Mächte,28 die mit Hilfe von Medien wie Al Jazeera eine begleitende Legitimationskampagne umsetzen. JaF soll JaN verdecken und sich als Teil der FSA darstellen und damit als moderate Alternative zum IS gerieren. JaF scheint allerdings eher eine Organisation der JaN zu sein als umgekehrt.29 JaF erklärte am 24.03.2015 ihre offizielle Gründung und ging sofort in die Offensive. Während eine säkulare syrische Opposition nur noch marginal im Land vorhanden zu sein scheint, macht Jaish al-Fatah große Geländegewinne gerade im Nordwesten Syriens in und um Aleppo und in der Region Idlib. Die syrische Provinzhauptstadt Idlib wurde am 28.03.2015 von JaF eingenommen. Das bedeutet einen entscheidenden strategischen Sieg der jihadistischen Opposition, die von Idlib aus ihre Position sowohl gegenüber dem Kanton Afrîn als auch in Hinsicht auf Aleppo, aber auch gegenüber den Resten säkularer Opposition, deren Hochburg Idlib war, hat stärken können. In Ermangelung einer prowestlichen Opposition diskutieren die USA die Unterstützung dieses Bündnisses und scheinen bereit zu sein, ähnliche Risiken wie bei der Billigung des Aufstiegs des Islamischen Staates in Kauf zu nehmen, nämlich ein Kalifat, in diesem Fall für al-Qaida, anstelle des syrischen Regimes. Dieses Bündnis, das mit dem IS konkurriert, scheint auch für die USA immer mehr eine Form der zu unterstützenden Opposition darzustellen. So versuchen die US-Regierung beratende Thinktanks wie Atlantic Council mit engen Verbindungen zur US-Regierung und personellen Überschneidungen mit dem Kabinett Präsident Obamas30 den Einfluss von al-Qaida auf JaF zu relativieren: »Ja, Jabhat al-Nusra war wirklich Mitglied dieser Koalition, aber sechs weitere Gruppen nahmen an dieser Offensive teil: Ahrar al-Sham, Jund al-Aqsa31, Jaish al-Suna, Filaq al-Sham, Liwa al-Haq und Ajnad al-Sham.«32 Es wird zwar in Kauf genommen, dass es sich bei ihnen allen um jihadistische Gruppen handelt, die Führungsrolle von JaN wird allerdings verschwiegen – die Unterschiede zwischen diesen Gruppen sind de facto Namensunterschiede, da sie wie JaN zum Großteil der salafistischen Strömung oder wie Liwa al-Haqq breiteren radikalsunnitischen Ideologien folgen. Ideologisch arbeiten alle auf ein Kalifat und ein radikalsunnitisch homogenisiertes Syrien hin. Besonders zynisch wird die Empfehlung von Atlantic Council, wenn von einer »zivilen Lokalverwaltung« die Rede ist, in der von fünfzehn bis zwanzig Sitzen insgesamt sieben Sitze an Ahrar al-Sham, vier an JaN gehen und der Rest der »zivilen« Lokalverwaltung an die anderen Gruppen von JaF.33 Die Operationen von JaF im Norden Syriens stellen eine De-facto-Umsetzung des türkischen Plans zur Errichtung einer sogenannten Pufferzone und der damit zusammenhängenden Zerschlagung der kurdischen Kantone dar. Das Projekt der Regionalmächte ist ein sunnitisch homogener türkischer Staat als Alternative zum Assad-Regime, während der Westen dieser Strategie nur zögernd Unterstützung gewährt, da das westliche Projekt sich auf eine abhängige, säkularere Opposition stützen soll.34 Allerdings scheint die Perspektive der Regionalmächte hier aufgrund mangelnder Alternativen weiter an Bedeutung zu gewinnen und von Billigung zu aktiver Unterstützung überzugehen. Wie auch die Aussagen des Atlantic Council befürchten lassen, bedeutet dies eine große Gefahr für Rojava und ganz Syrien. Ein militärisches Engagement in dieser Richtung könnte auch die Einrichtung einer Flugverbotszone und damit ebenfalls direkte Intervention gegen Rojava bedeuten. Insbesondere Aleppo und der Kanton Afrîn stehen momentan unter der Bedrohung durch JaF und Türkei, während im Osten Rojavas IS und Regime angreifen.
Die Lage in Aleppo
Insbesondere die südlichen Stadtviertel von Aleppo stehen mittlerweile unter der Kontrolle von JaF und JaN. Der IS versucht ebenfalls, Aleppo zu erobern. Die kurdischen Viertel, insbesondere Şêxmeqsûd, werden von diesen Kräften immer wieder angegriffen. Vom 26. bis zum 28.05. griffen JaN/JaF und FSA-Einheiten gemeinsam Şêxmeqsûd an. Zuvor hatten sie der Zivilbevölkerung ein Ultimatum gestellt, den Stadtteil zu verlassen.35 Der Angriff scheiterte jedoch am Widerstand der YPG/YPJ und die Selbstverteidigungseinheiten rückten sogar auf Stellungen von JaN im Viertel Tell Nabbo vor. Nach dem Scheitern der großangelegten Operation riefen die jihadistischen Einheiten erneut einen Waffenstillstand aus. Eine weitere Bedrohung für Aleppo und Afrîn entwickelt sich mit dem Vormarsch des IS im Norden von Aleppo, insbesondere die Einnahme der Stadt Marea Ende Mai 2015 bietet ihm eine gute Ausgangsbasis für Angriffe auf den Kanton Afrîn. Möglicherweise will er hier, in Hesekê, Kobanê und Girê Spî vor allem durch die YPG/YPJ unter Druck geraten, ein neues Schlachtfeld gegen Rojava eröffnen.36 Obwohl Şêxmeqsûd in Aleppo sich in weitgehendem Belagerungszustand befindet, haben sich hier ebenfalls starke Strukturen der demokratischen Autonomie herausgebildet; trotz militarisiertem Konflikt wird eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt. Es können hier nur einige Beispiele angeführt werden. Während der Konflikte mit und Angriffswellen von JaN und FSA gründeten kurdische und arabische Frauen aus Şêxmeqsûd die Frauenkommune »Şehîd Canda«, im letzten Jahr wurden 6 000 Schüler_innen in kurdischer Sprache ausgebildet und viele dieser Schüler_innen betreiben in ihren Kommunen nun Sprachbildung.
Die Lage in Afrîn
Der Kanton Afrîn ist ebenfalls nördlich und westlich von der Türkei eingeschlossen und es kommt immer wieder zu Angriffen und Übergriffen auf die Bevölkerung. Erst kürzlich wurde ein Hirte von türkischen Soldaten erschossen. Trotz der beschriebenen Umzingelung Afrîns und der drohenden Angriffe wird die Organisierung der Institutionen hier fortgesetzt. So wurden in den Kreisstädten Cindirês und Mabata weitere Volksräte aufgebaut und 106 neue Kommunen37 gegründet. Zuvor waren in Cindirês schon Volksverteidigungskomitees und eine vierzigköpfige Verteidigungsgruppe gebildet worden.38 Weiterhin entwickelt sich in Afrîn das autonome Bildungssystem fort; so wurde Erziehung in der Muttersprache vom Kindergarten bis zur dritten Grundschulklasse für die Jahre 2015–16 auf die Agenda gesetzt und neue Schulbücher für Kindergarten und Grundschule wurden entwickelt. Ausbildung in Arabisch ist ebenfalls bis zur sechsten Klasse vorgesehen.39 Außerdem wurden Frauenakademien gegründet, in denen Schulungen über das System der demokratischen Autonomie und die Befreiung der Frau vom Patriarchat durchgeführt werden. Ein Bildungsgang für die Sprecherinnen der Räte und die Frauen in der Stadtverwaltung wurde bereits an der Star-Akademie abgeschlossen.40 Die Selbstverwaltung in Afrîn steckt wie die Strukturen in ganz Rojava weiterhin im Aufbauprozess und scheint trotz Isolation große Fortschritte zu machen.
Fazit
Dieser Artikel beschäftigte sich vor allem mit den militärischen und politischen Komponenten, welche die aktuelle Lage in Rojava prägen. Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, dass die militärischen Erfolge und die politische Beharrlichkeit der Selbstverwaltung von Rojava auf einer egalitären gesellschaftlichen Vision basieren, die den Menschen die Kraft gibt, für das Projekt Rojava zu kämpfen. Dies ist der Faktor, der Rojava sowohl im gesamten Syrienkonflikt, aber auch im Mittleren Osten hervorhebt. Diese Vision, die Schritt für Schritt realisiert wird, stellt ein alternatives Gesellschaftsmodell dar, dessen Verteidigung ein Anliegen der Weltbevölkerung sein sollte.
1Erweiterte Großfamilienverbände.
2 Reșit Serdar, anfturkce.net/kurdistan/iflas-eden-politika-ve-toplumsallasan-bir-guc-olarak-ypg-izlenim, 13.06.15.
3 Hier kann unser Delegationsbericht aus Hesekê aufgerufen werden: kurdistan.blogsport.de/2014/05/29/heseke-eine-schwer-umkaempfte-stadt/, 13.06.15.
4 Reșit Serdar, anfturkce.net/kurdistan/iflas-eden-politika-ve-toplumsallasan-bir-guc-olarak-ypg-izlenim, 13.06.15.
5 Weitere Informationen vgl. Ayboğa, Ercan, Flach, Anja, Knapp, Michael, »Revolution in Rojava«, 2015.
6 ajansakurdi.net/archives/92338, 13.06.15.
7 Reșit Serdar, firatnews.com/kurdistan/ypg-ypj-nin-varligi-heseke-yi-ayakta-tutuyor, 13.06.15.
8 Vgl. n-tv.de/politik/IS-steht-500-Meter-vor-Hassaka-article15237771.html, 13.06.15.
9 ozgur-gundem.com/haber/136265/500-koy-ve-mezra-ozgurlestirildi, 15.06.15.
10 ajansakurdi.net/archives/93266, 15.06.15.
11 Vgl. Dicle, Amed, anfturkce.net/kurdistan/tel-abyad-operasyonu-ve-kapida-bekleyen-buyuk-tehlike-amed-dicle, 13.06.15.
12 Ebd.
13 Dies betrifft sowohl Kulturgüter als auch jede Art von Plündergut, von Elektrosicherungen aus Häusern über Wasserhähne bis hin zu allen möglichen Arten von Wertgegenständen.
14 birgun.net/haber-detay/tel-abyad-in-birkac-haftasi-kaldi-sirada-rakka-var-82708.html, 13.0615.
15 Vgl. Dicle, Amed, anfturkce.net/kurdistan/tel-abyad-operasyonu-ve-kapida-bekleyen-buyuk-tehlike-amed-dicle, 13.06.15.
16 bbc.com/turkce/haberler/2014/11/141129_isid_kobani, 13.06.15.
17 Mittlerweile dominierende Gruppe in Azaz.
18 nytimes.com/2015/06/01/world/middleeast/isis-gains-syrian-area-near-border.html?_r=0, 13.06.15.
19 Köylüoglu, Aziz, »Vekalet savaşında El Nusra'nın ÖSO ile oyunu«, ypgnews.blogspot.de/2015/06/vekalet-savasnda-el-nusrann-oso-ile.html, 14.06.15.
20 firatnews.org/kurdistan/li-gire-spi-12-gunden-din-ji-hatin-rizgarkirin, 14.06.15.
21 ANHA, »Bi hatina YPG'ê me bayê azadiyê kişand«, ku.hawarnews.com/bi-hatina-ypge-me-baye-azadiye-kisand/, 02.06.2015; ANHA, tr.hawarnews.com/hesekeli-araplardan-ypgye-talep-bizi-savunun/, 13.06.15.
22 Vgl. en.etilaf.org/all-news/news/syrian-coalition-condemns-the-ypg-s-massacre-against-civilians-in-al-hasaka.html, 13.06.15.
23 tr.hawarnews.com/bizim-adimiza-konusup-gercekleri-carpitmayin/, 13.06.15.
24 Interview mit Idriss Nassan, »Kobanê: Hilfskorridor zum Wiederaufbau gefordert«, heise.de/tp/artikel/44/44991/1.html, 14.06.15.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 al-monitor.com/pulse/originals/2015/05/al-qaeda-political-system-infiltration.html, 14.06.15.
28 Ebd.
29 Köylüoglu, Aziz, »Vekalet savaşında El Nusra'nın ÖSO ile oyunu«, ypgnews.blogspot.de/2015/06/vekalet-savasnda-el-nusrann-oso-ile.html, 14.06.15.
30 fr-online.de/politik/verteidigungsminister--us-senat-waehlt-chuck-hagel-ins-amt,1472596,21951436.html, 13.06.15; Chuck Hagel war bis Februar 2015 US-Verteidigungsminister und zuvor Vorsitzender von Atlantic Council.
31 Gegründet von Abdul ´Aziz al-Qatari, enger Freund von Abdul ´Azzam, einer der wichtigen Strategen hinter dem US-gestützten Jihad der 1980er in Afghanistan und enger Mentor Bin Ladens (huffingtonpost.co.uk/tam-hussein/nusra-front_b_6112790.html?utm_hp_ref=uk-news, 14.06.15).
32 atlanticcouncil.org/blogs/menasource/syria-an-opportunity-in-idlib, 13.06.15.
33 Ebd.
34 Vgl. Köylüoglu, Aziz, »Der Krieg in Syrien eskaliert weiter«, civaka-azad.org/der-krieg-in-syrien-eskaliert/, 14.05.15.
35 imctv.com.tr/93243/2015/05/el-nusra-onculugundeki-gruplar-ypgye-saldirmaya-basladi/, 14.06.15.
36 Vgl. al-monitor.com/pulse/security/2015/06/syria-northern-aleppo-sham-front-isis-nusra-marea-battle.html, 14.06.15.
37 Kommunen – kleinste Einheit der Rätedemokratie in Rojava, 20–150 Haushalte, vgl. Ayboğa, Flach, Knapp, »Revolution in Rojava«, 2015.
38 tr.hawarnews.com/halk-savunma-komitelerini-olusturuyor/, 29.05.15.
39 tr.hawarnews.com/onemli-kararlar-alan-efrin-szk-konferansi-sona-erdi/, 27.04.2015.
40 tr.hawarnews.com/efrin-konsey-yoneticilerinin-egitimi-tamamlandi/, 16.05.2015.
Solidarität in Saarbrücken unterliegt kapitalistischer Doppelmoral
Spendenkonto für Rojava gekündigt
Ursula Quack, Interventionistische Linke/IL
Sechs Wochen lang gab es in Saarbrücken eine Auseinandersetzung um ein Spendenkonto für die kurdische Selbstverwaltung in Rojava. Hintergrund war die Kündigung dieses Kontos durch die Sparkasse Saarbrücken. Für die Sparkasse war die Kündigung rechtlich einwandfrei und Kritik daran unerwünscht. Für viele andere hingegen war die Entscheidung ein Politikum, das man so nicht hinnehmen wollte.
Vor dem Hintergrund anhaltender Kämpfe der Selbstverteidigungskräfte in Rojava gegen den terroristischen »Islamischen Staat« initiierten die Interventionistische Linke IL und der Verband der Studierenden aus Kurdistan YXK im Oktober 2014 eine Solidaritätskampagne zu Rojava unter dem Motto »Wer, wenn nicht wir – wann, wenn nicht jetzt!«. Los ging´s mit einem Solidaritätsaufruf, für den auch viele prominente Unterstützer_innen gewonnen werden konnten. Inhaltlich bezog sich der Aufruf unter anderem auf die positive Rolle der PKK in der Region und auf die Bedeutung der Selbstverteidigungskräfte für das demokratische Projekt in Rojava. Damit verbunden war eine Spendenkampagne, um die Befreiungskräfte gegen die Dschihadist_innen finanziell zu unterstützen. Mehrere Hundert Menschen haben sich daran beteiligt und bereits Ende November 2014 konnten die ersten 50 000 € nach Rojava überwiesen werden. Insgesamt kamen rund 109 200 € zusammen. Eine Bestimmung, wofür das Geld verwendet werden soll, gab es seitens der Organisator_innen nicht. Die Menschen vor Ort sollten selbst entscheiden, denn sie wissen am besten, was benötigt wird.
Das Spendenkonto wurde auch deswegen bei der Sparkasse Saarbrücken eröffnet, weil Sparkassen wegen ihrer öffentlich-rechtlichen Struktur einer politischen Kontrolle unterstehen. So haben bei der Sparkasse Saarbrücken die Saarbrücker Oberbürgermeisterin Charlotte Britz und der Regionalverbandsdirektor Peter Gillo, beide SPD, den Vorsitz des Verwaltungsrates inne. Noch im Dezember 2014 sprach Charlotte Britz auf einer mit 3 000 Menschen sehr gut besuchten Solidaritätsveranstaltung für Kobanê in der Saarbrücker Messehalle. Auch die diesjährige Newrozfeier der kurdischen Gemeinde im Saarland fand mit Unterstützung durch die Oberbürgermeisterin erstmalig im Festsaal des Saarbrücker Rathauses statt.
Elf Tage nach dieser Feier wurde das Spendenkonto gekündigt. Die Kündigung erfolgte aufgrund der »Allgemeinen Geschäftsbedingungen«, eine inhaltliche Begründung dafür gab es nie. Aus Medienveröffentlichungen lässt sich allerdings nachvollziehen, was dahintersteckt: »Verstoß gegen Bankenrichtlinien« (Saarbrücker Zeitung, 20.05.2015); »... das angegebene Spendenziel ›humanitäre Hilfe‹ für die Kurden sei zweifelhaft« (Saarbrücker Zeitung, 08.05.2015); »Es sei außerdem nicht mit den Ethik-Vorschriften der öffentlich-rechtlichen Kasse vereinbar, dass mit dem Geld möglicherweise Waffen gekauft werden« (Saarländischer Rundfunk, 19.05.2015); »im Rahmen der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vorgeschriebenen Überprüfungen auf Geldwäsche und Terrorismus sei man auf das Spendenkonto gestoßen und habe eine Verdachtsanzeige beim Landeskriminalamt gemacht. Zur Kontoschließung sei man verpflichtet, weil die Spenden für PKK-nahe Kämpfer bestimmt seien. Und die PKK sei in Deutschland schließlich verboten« (Saarländischer Rundfunk, 27.04.2015).
»Sparkasse entdeckt Pazifismus«, kommentierte das »Neue Deutschland« und verwies damit auf den Zusammenhang, dass Rüstungsgeschäfte, aber auch Aktien von Rüstungskonzernen problemlos über Banken abgewickelt bzw. gehandelt werden, ohne dass dies von den Banken mit Verweis auf ihre gesetzlichen und moralischen Verpflichtungen (Stichwort: Compliance) infrage gestellt wird. Aber auch bei Spendenkonten hat sich die Sparkasse Saarbrücken bisher nicht mit klaren moralischen Kriterien hervorgetan. Denn sowohl die rechtspopulistische AfD wie auch die neonazistische NPD haben im Saarland jeweils ihr Spendenkonto bei der Sparkasse Saarbrücken.
Aber diesmal ging es um die PKK bzw. ihre syrischen Schwesterorganisationen PYD/YPG, und damit sind wir auch beim PKK-Verbot. Der deutsche Staat betreibt nach wie vor die Kriminalisierung des kurdischen Freiheitskampfes, obwohl sich in der Öffentlichkeit und in den Medien durch die Verteidigung von Kobanê und die Rettung Tausender Yesid_innen die Wahrnehmung der PKK und ihrer politischen Bedeutung deutlich zum Positiven verändert hat. Während also Waffenlieferungen an die irakischen Peschmergas der PDK und YNK offizielle Staatspolitik sind, wird gleichzeitig eine kleine, selbstorganisierte Spendenkampagne für die Selbstverteidigungskräfte in Rojava für das Establishment zum Problem.
Kurz nach Kündigung des Kontos riefen IL und YXK dazu auf, Protestschreiben und E-Mails an die Sparkasse Saarbrücken zu schicken. Einige engagierte Briefe und E-Mails erreichten die Sparkassen-Leitung. Aber schon nach kurzer Zeit schaltete die Sparkasse auf Autopilot und beantwortete die eingehenden Schreiben nur noch mit einer automatisierten Antwort-Mail.
Unterstützung gegen die Kündigung gab es zusätzlich durch den Saarländischen Flüchtlingsrat und die Aktion 3. Welt Saar. Ihre Pressearbeit sorgte für eine gute Präsenz des Themas in den saarländischen Medien und war gleichzeitig Grundlage für weitere Aktivitäten. Am 7. Mai 2015 fand während der Geschäftszeiten eine Protestkundgebung vor der Hauptstelle der Sparkasse Saarbrücken statt, an der Vertreter_innen des gesamten linken Spektrums teilnahmen. Höhepunkt war dann am 19. Mai eine Besetzung eben dieser Hauptstelle durch Mitglieder des YXK, die von Freund_innen aus Saarbrücken unterstützt wurde. Gute zwei Stunden konnten die Aktivist_innen in der Schalterhalle verweilen, wo sie mit Transparenten und Parolen politische Präsenz zeigten.
Trotz vielfältiger Kritik und der Tatsache, dass das Image der Sparkasse Saarbrücken mittlerweile ramponiert war, blieb der Vorstand des Geldinstituts bei seiner Entscheidung. Mehr noch: Auf schriftliche Dialogangebote ging er nicht ein und war weder zur Kommunikation mit der Kontoinhaberin noch zu irgendeiner Stellungnahme in dieser Sache bereit. Ein politisches Armutszeugnis für eine Stadt, die gerne von »Weltoffenheit« und »gelebter Demokratie« spricht.
Das Spendenkonto existiert seit dem 1. Juni 2015 nicht mehr, ein neues Konto wird es zurzeit nicht geben. Auf der Webseite der »Solidaritätsinitiative mit Rojava« begründen die Initiator_innen ihre Entscheidung folgendermaßen: »Unserer Kampagne ›Solidarität mit Rojava‹ wurde das Spendenkonto gekündigt. Der Initiative ›Waffen für Rojava‹ ging es mehrmals genauso. Deshalb werden wir kein neues Konto eröffnen und die Spendensammlung für die Selbstverteidigungskräfte in Rojava über ein Konto beenden. Nach der Befreiung von Kobanê steht nun der Wiederaufbau der Stadt an. Für alle, die ihre Solidarität mit Rojava durch eine Geldüberweisung zeigen wollen, besteht die Möglichkeit an Hilfsorganisationen zu spenden. Wir empfehlen beispielsweise ÇAR DEST, eine Humanitäre Hilfsorganisation.«1
Die Zeitung »The Maghreb and Orient Courier« hat vor Kurzem zwei Landkarten von Syrien abgedruckt, einmal vom Mai 2014 und einmal vom Mai 2015. Man sieht, wie sich der IS innerhalb eines Jahres ausgedehnt hat mit Ausnahme der Gebiete, in denen die kurdischen Kräfte aktiv sind. Sie sind die Zukunft der Region, sie sind das Beispiel für alle, die selbstbestimmt um Demokratie, Säkularismus und Freiheit kämpfen. Die Sache der Emanzipation gewinnt oder verliert in Rojava, und zwar für alle.
1 Helfende Hände – ÇAR DEST e.V., http://www.cardest.org/
Interview mit dem Mitglied des PKK-Zentralkomitees Duran Kalkan
Wir wollen, dass die palästinensische Frage auf demokratischer Ebene gelöst wird ...
Seyit Evran und Ararat Örkmez, Firatnews 02.06.2015
Duran Kalkan, Gründungskader und Mitglied des Zentralkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), hat in einem Interview mit der Nachrichtenagentur ANF den Widerstand der PKK gegen die israelische Besetzung des Libanon am 2. Juni 1982 bewertet.
In was für einer Konjunkturphase erfolgte am 2. Juni 1982 die Besetzung des Libanon durch Israel?
Zu Beginn der 1980er Jahre kam es, wie auch zu Beginn der 1990er, zu bedeutenden Ereignissen und in diesem Prozess zu ernsthaften Veränderungen. Am 12. September 1980 gab es in der Türkei einen Militärputsch und die Armee bemächtigte sich der Führung. Am 19. September 1980 griff der irakische Staat an und der acht Jahre dauernde Irak-Iran-Krieg begann. Zuvor hatte im Februar 1979 im Iran die Islamische Revolution stattgefunden und eine neue islamische Administration begann sich zu entwickeln.
All diese Ereignisse waren bedeutend und weitreichend für den Mittleren Osten. Sie hingen gleichzeitig auch mit den Auseinandersetzungen auf internationaler Ebene zusammen. Auf der Welt verschärfte sich die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion. Alle Kämpfe auf der Welt standen direkt mit dieser Blockbildung in Verbindung. Kurz gesagt hatte die Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion sehr starke Auswirkungen auf den Mittleren Osten. Gleichzeitig vertieften sich auf dieser Grundlage auch die regionalen Widersprüche und transformierten sich in konkrete Auseinandersetzungen.
Die Besetzung des Libanon am 2. Juni 1982 durch den israelischen Staat ereignete sich also in dieser Atmosphäre und war an die genannten Bedingungen gebunden. Sie war im Grunde ein Angriff und ein Vorstoß gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). Denn Israel hatte Palästina besetzt und die palästinensische Bevölkerung und die Befreiungskräfte hatten sich auf die benachbarten arabischen Länder verteilt. In vielen arabischen Ländern, insbesondere in Ägypten, Jordanien, Syrien und Libanon, wurden Flüchtlingslager errichtet.
Das größte dieser Lager befand sich im Libanon. Bewegungen, die mit der PLO verbunden waren, hatten sich in diesen Lagern gut organisiert. Aufgrund des Bürgerkriegs im Libanon hatte sich das zentralstaatliche Gebilde aufgelöst und eine Vielzahl regionaler Verwaltungen ging daraus hervor. Die PLO hatte diese Situation bewertet, mit der Organisierung der Guerilla begonnen und einige Gebiete Libanons unter ihre Kontrolle gebracht. Darauf gestützt organisierte sie das palästinensische Volk und führte den Kampf gegen Israel von der Grenze des Libanon aus. Es wurden vermehrt Fedajin ins Innere Israels geschickt und Israel von der Grenze aus mit Artillerie beschossen. Zweifellos war das ein sehr begrenzter militärischer Widerstand; doch es genügte, um dem israelischen Staat Schaden zuzufügen.
Die Besetzung des Libanon am 2. Juni 1982 fand unter diesen Bedingungen und als Fortsetzung der geschilderten Auseinandersetzungen statt. Zuvor hatte die israelische Armee mit Kampfflugzeugen und Artilleriebeschuss Angriffe auf palästinensische Camps im Libanon durchgeführt. Als diese Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht stoppen konnten, nutzte der israelische Staat die von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Situation in der Region und griff die palästinensischen Lager und die Guerilla an, um beide zu vernichten. Die Arabische Liga war zerstreut, die ägyptische Regierung hatte eine Friedensvereinbarung mit Israel unterzeichnet, der Irak-Iran-Krieg hatte die arabische Kraft geschwächt und die Türkei wurde mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 an die USA, und damit folglich an Israel, gebunden. In einem solchen Zustand gab es keine ernsthafte regionale Kraft, die die israelische Besetzung hätte aufhalten oder den palästinensischen Widerstand unterstützen können. Der israelische Staat hat so die Besetzung des Libanon leicht durchführen können und stieß auf keine ernsthaften Reaktionen.
Auf welche Weise war die PKK in den Krieg gegen die Besetzung involviert?
Der Vorsitzende der PKK war bereits ab dem Juli 1979 im Gebiet Syrien/Libanon und hatte mit Organisationen, die mit der PLO verbunden waren, Beziehungen geknüpft. Um die Möglichkeiten der geschaffenen militärischen Ausbildung zu bewerten, kam im September 1979 die erste PKK-Gruppe in den Libanon. Als der Siverek-Widerstand im Land nicht die erhofften Ergebnisse brachte und militärische Schwierigkeiten auftraten, wuchs das Bedürfnis nach militärischer Ausbildung in den palästinensischen Gebieten. Wenn man noch den militärisch-faschistischen Putsch vom 12. September 1980 dazunimmt, verfolgte die PKK zum Teil auch eine Taktik des Rückzugs. Im Winter 1980/1981 wurden Kader und Sympathisanten in das Gebiet gebracht und neben der militärischen Ausbildung wurde mit der ersten Konferenz im Juli 1981 und der zweiten im August 1982 auch eine organisatorische Stärkung erreicht. All diese Aktivitäten wurden in den Jahren 1980, 1981, 1982 in der kriegerischen Atmosphäre im Libanon und Palästina durchgeführt. Als der israelische Staat am 2. Juni 1982 den Libanon besetzte, hielten sich die PKK-Kader bereits seit drei Jahren dort auf. Man war also nicht auf einmal mit der Besetzung konfrontiert, sondern bereits seit drei Jahren da bzw. im Israel-Palästina-Krieg. Die Kader erhielten ihre militärische Ausbildung in den palästinensischen Camps an der Grenze zwischen Libanon und Israel und schützten sie natürlich. Auch wenn die PKK-Kader nicht an Fedajin-Aktionen oder Artillerieangriffen teilnahmen, die die Palästinenser selbst organisierten, spielten sie eine aktive Rolle bei der Verteidigung der palästinensischen Gebiete gegen die Luftangriffe und Artilleriegeschosse. Als am 2. Juni die Landbesetzung begann, hatte die PKK Kräfte, die in den palästinensischen Camps an der Grenze Libanon/Israel stationiert waren und so auf die Besetzung reagierten.
Wie bewerten Sie den Widerstand der PKK?
Ehrlich gesagt konnte die PLO keinen wirksamen Widerstand gegen die Besetzung leisten. Aufgrund der früheren Angriffe hatte die israelische Armee für eine negative Atmosphäre bei den Palästinensern gesorgt. Die hatten eine solche Besetzung nicht erwartet. Folglich waren sie nicht gut vorbereitet. Aus diesem Grund konnten sie keinen ernsthaften Widerstand leisten und zogen sich verstreut zurück. Die israelische Armee hat an einem Tag die Grenze überschritten und Beirut umzingelt. Das bedeutete sowohl eine Zersplitterung der palästinensischen Guerilla als auch einen Schlag gegen die Organisierung des Volkes. Diejenigen, die in dieser Situation Widerstand leisteten, waren eher die Kräfte, die aus anderen Ländern zur Ausbildung gekommen waren. Hier nahm die PKK einen wichtigen Platz ein. In den Grenzstädten Sayda, Nebatiye und Sur gab es eine bedeutende Kraft der PKK und überall, wo es Angriffe gab, kämpfte sie aktiv. In den Gefechten mit der israelischen Armee gab es Märtyrer und Gefangene. Und die PKK-Kräfte waren die letzten, die sich zurückzogen, die Waffen einsammelten und die Palästinenser zu stärken versuchten. Die PKK-Kräfte waren als Militante der Partei im Vergleich mit der Guerilla der Palästinenser im Hinblick auf Ideologie und Organisierung gründlich gebildet und diszipliniert. Gleichzeitig waren sie voller Wut aufgrund der Folter und Massaker des 12.-September-Regimes gegen die Gesellschaft Kurdistans. Sie waren wegen der eigenen Ausbildung und des Widerstandes der Palästinenser dort und wären, wenn die Situation dies erfordert hätte, auch mit in den Krieg gezogen. Die Palästinenser haben diesen Zustand der PKK-Militanten gesehen und sie bevorzugt. Aus diesem Grund wollten sie bei einer möglichen Besetzung durch Israel die PKKler immer an vorderster Front haben. Auf dieser Grundlage kämpften alle PKKler an jedem Ort gegen die sich entwickelnde Besetzung und erfüllten ihre Aufgaben. Die Geschwisterlichkeit zwischen Palästina und Kurdistan sowie der kurdischen und palästinensischen Völker hat sich auf der Grundlage einer solchen Auseinandersetzung, einer solchen Freundschaft an der Kriegsfront gebildet.
In diesem Widerstand hatte die PKK Verluste und Gefangene. Können Sie uns von ihren Befreiungsversuchen erzählen?
Im Jahr 1982 gaben die Kräfte der PKK innerhalb des palästinensischen Widerstands insgesamt elf Märtyrer. Unser erster war der Freund Abdulkadir Çubukçu aus Êlih (Batman), der in einem Camp nahe Beirut bei einem Luftangriff sein Leben verlor. Während der israelischen Besetzung am 2. Juni verloren wir im Ostlibanon zwei Freunde und im Südlibanon in der Burg Arnon (Gebiet Nebatiye) acht. Der Genosse Sabri war im Südlibanon und erreichte unsere Kräfte nach neun Tagen unter der israelischen Besatzung. Der Genosse Cuma war drei Monate innerhalb der Belagerung Beiruts und konnte am Ende, als die Palästinenser freigelassen wurden, unsere Kräfte wieder erreichen. Wenn auch die Gruppe von Genosse Cuma in Gefangenschaft geraten wäre, dann hätte die Zahl unserer Gefangenen sehr viel höher gelegen.
Ich erinnere mich an die Namen folgender Genossen, die im Kampf in Libanon/Palästina gefallen sind: Als uns die Nachricht vom Tode des Genossen Abdulkadir Çubukçu am 1. Mai 1982 erreichte, ging selbst der Vorsitzende Apo in den Libanon und nahm zusammen mit den Palästinensern an der Trauerfeier teil. Auf dieser Grundlage hatte der Vorsitzende Apo seine 1.-Mai-Bewertung vorbereitet. Dieser Tod hat unsere genossenschaftlichen Beziehungen mit den Palästinensern auf ernsthafte Weise gestärkt.
Im Ostlibanon fiel der Genosse Abdullah Kumral aus Cibinli zusammen mit einem anderen Freund. Abdullah Kumral war Grundschullehrer und wir nannten ihn Lehrer Abdullah. Er war gleichzeitig ein Freund, der am PKK-Gründungskongress teilgenommen hatte. In der Burg Arnon haben wir Kemal Çelik, İsmet Özkan, Mehmet Atmaca, Mustafa Marangoz, Şerif Aras und drei weitere Freunde verloren. Der Genosse Kemal kam aus Elazîz-Kebanlı. Er war der jüngere Bruder des Genossen Xalit. Alle seine Geschwister hatten sich angeschlossen. Der Genosse Ismet kam aus Pîrsûs (Suruç). Er war der Sohn des Genossen Herbijî und seine beiden Geschwister sind gefallen. Auch der Genosse Mehmet Atmaca kam aus dem Dorf Cibin und war Kommandant. Der Genosse Mustafa war aus Çermikli und mit einem starken Kampfgeist ausgestattet. Später gab es viele Gefallene in seiner Familie.
Ein Genosse, der in Gefangenschaft geriet, war Kaymak Xalit. Der in der Burg Arnon gefallene Genosse Kemal war sein Bruder. Ich erinnere mich an die Namen folgender Genossen, die damals in Gefangenschaft gerieten: Seyfettin Zoğorlu, der Genosse Seyfettin aus Nisêbîn (Nusyabin), Genosse Sabri Gözübüyük und einige weitere. Diese Genossen sind alle nach zwei Jahren Gefangenschaft mit großen Schwierigkeiten vereinzelt freigekommen. Der türkische Staat hatte sich eingeschaltet und die Auslieferung all dieser Gefangenen gefordert. Israel war dafür empfänglich und wollte sie ausliefern. Doch unsere Genossen hatten sich alle als Palästinenser oder aus anderen arabischen Ländern ausgegeben. Am Ende mussten sie viele Länder durchqueren. Sie kamen bis zu einem Flughafen in Syrien. Syrien nahm sich ihrer nicht an. Später ketteten sie sich am Flughafen in Athen fest und forderten mit dieser Aktion Asyl. So haben sie es geschafft, von dort weiter nach Europa zu kommen. Es war ein richtiger Kampf und eine lange Reise.
Haben Sie in dieser Zeit zu anderen Organisationen, insbesondere zu palästinensischen, Beziehungen geknüpft?
In dieser Zeit baute vor allem unser Vorsitzender zusammen mit dem Genossen Cuma Verbindungen zu anderen Gruppen und Organisationen in der Region auf. Wir hatten Beziehungen zu allen palästinensischen Organisationen, die in der Palästinensischen Befreiungsorganisation vertreten waren. Die stärksten Beziehungen hatten wir zur Demokratischen Befreiungsfront Palästinas, der Volksbefreiungsfront Palästina und zur Widerstandsfront zur Befreiung Palästinas. Dazu bauten wir dort auch mit der Kommunistischen Partei des Irak, der Patriotischen Union Kurdistan (YNK) und der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) Beziehungen auf, ebenso mit einer Vielzahl revolutionärer Organisationen aus der Türkei und Nordkurdistan, und wir führten dort Diskussionen. Mit sieben Gruppen aus der Türkei gründeten wir die Vereinte Widerstandsfront gegen den Faschismus. Doch die hielt nur ein Jahr.
Wir haben als Bewegung in dieser Phase einiges vom palästinensischen Widerstand mitgenommen. Wir haben die militärische Ausbildung unserer Kräfte und eine organisatorische Stärkung erreicht. Wir haben den palästinensischen Widerstand genossenschaftlich und geschwisterlich unterstützt. Wir haben die Geschwisterlichkeit zwischen der palästinensischen und der kurdischen Gesellschaft auf dieser Grundlage aufgebaut. Wir haben vieles von den Palästinensern mitgenommen und bewerten dies immer noch mit Respekt. Wir erklären immer mit Stolz, dass die Guerilla Kurdistans sich innerhalb der palästinensischen Erfahrung entwickelt hat. Wir sind überzeugt, dass wir dem palästinensischen und den arabischen Völkern mit diesem Widerstand auch vieles zurückgegeben haben und sie das auch so sehen. Wir verfolgen immer noch die Situation und den Widerstand der palästinensischen Gesellschaft und sehen den Kampf als unseren eigenen. Wir wollen, dass die palästinensische Frage auf demokratischer Ebene gelöst wird und die arabische und jüdische Bevölkerung geschwisterlich zusammenleben.
Was für eine Atmosphäre hat der Widerstand der PKK im Libanon in den Bergen Kurdistans geschaffen? Wie bewerten Sie das?
Die PKK-Bewegung hatte auch vor dem Militärputsch vom 12. September 1980 Widerstand geleistet und Märtyrer gegeben. Dieser Widerstand war vorbereitend auf den Kampf gegen den Putsch. Aufgrund zweifachen Widerstands kehrten die Kräfte der PKK aus Libanon/Palästina ins Land zurück und entwickelten den Widerstand als Guerilla. Der erste war der große Gefängniswiderstand, der sich durch die Vorreiterrolle von Mazlum Doğan, Hayri Durmuş und Kemal Pir entwickelte. Der zweite war der Widerstand gegen die israelische Besetzung mit seinen heldenhaften Märtyrern. Der genannte historische Widerstand und seine unsterblichen Märtyrer haben die PKK unumkehrbar gemacht und der Guerilla die Kraft in Richtung Freiheit verliehen. Natürlich hat auch die richtige Definition dieses Widerstandes durch den Vorsitzenden Apo eine entscheidende Rolle gespielt.
Zur Zeit des Gefängniswiderstands und des Kampfes gegen die israelische Besatzung gab es in den Bergen Kurdistans noch keine organisierte und kämpfende Guerilla. Im Gebiet Libanon/Palästina waren Guerillas, die vorbereitet wurden, um nach Kurdistan zurückzukehren. Diese Guerilla hat ihren Geist und ihre Kraft zur Rückkehr durch diesen Widerstand entwickelt und so die Freiheitsguerilla Kurdistans geschaffen. Der heldenhafte Marsch – mit dem Vorstoß des 15. August 1984 gegen das faschistische Militärregime des 12. September – hat sich auf der Grundlage dieses Widerstands entwickelt. Der genannte Einfluss hält bis heute an.
Wie hat eine solche Praxis noch vor dem 15. August die PKK beeinflusst?
Es ist nicht dasselbe, im eigenen Land zu kämpfen oder im Ausland, in einem Land anderer Völker. Es ist zweifellos viel einfacher für einen Menschen, in seinem eigenen Land und seiner Gesellschaft zu leben und zu kämpfen. Es heißt, dass revolutionäre Bewegungen nach ihrer Geburt zwei grundlegende Erfahrungsfelder haben: erstens die Praxis im Gefängnis und zweitens die Praxis im Ausland. Bewegungen, die auf beiden Feldern kämpfen und die Prüfung erfolgreich bestehen, kommen, wenn sie später nicht nachlassen, sicher zum Erfolg. Die Zeit zwischen 1980 und 1984 war für die revolutionären Bewegungen in der Türkei und in Kurdistan solch eine Prüfungsphase. Die Bewegung, die beide Prüfungen bestand, war die PKK-Bewegung.
Und das ist genau die Realität, die die PKK von anderen revolutionären Bewegungen unterscheidet und sie bis zum Guerillavorstoß vom 15. August 1984 brachte. Auf dieser Grundlage haben der Gefängniswiderstand und der Widerstand außerhalb des Landes die PKK beeinflusst. Wenn die PKK in Libanon/Palästina keinen Widerstand gegen die israelische Besetzung geleistet hätte, dann hätte sie auch nicht nach Kurdistan zurückkehren und sich dem Guerillawiderstand zuwenden können.
Was waren die Auswirkungen des Widerstandes im Libanon und des Gefängniswiderstandes?
Der zweite Kongress der PKK fand direkt nach dem Widerstand gegen die israelische Besetzung im August 1982 statt. Auch wenn es bei diesem Kongress nicht ganz zum Vorschein kam, es gab erste Anzeichen von Liquidation. Aus diesem Grund war der zweite Kongress eine kritische Sitzung. Er wurde gerettet, indem gegen die Auflösung angekämpft wurde. Die ersten vorbereiteten Kräfte realisierten ihre Rückkehr ins Land. An diesem Punkt war der Widerstand gegen die israelische Besetzung offen für zwei Richtungen. Die Liquidation hat in gewissem Maße versucht, mithilfe der Gefallenen und Gefangenen Angst zu erzeugen und den Einfluss des Widerstandes zu brechen. Doch der genannte Widerstand und seine Märtyrer haben für die Rückkehr ins Land und die Entwicklung des Guerillawiderstands eine ermutigende Wirkung gehabt. An diesem Punkt ließen die Bewertungen des Vorsitzenden Apo die Liquidation ins Leere laufen. Die Rückkehr ins Land und der Guerillawiderstand wurden unumkehrbar. Aus diesem Grund wurde auf dem zweiten Kongress mit überwältigender Mehrheit entschieden, ins Land zurückzukehren und die Guerilla gegen den Faschismus des 12. September aufzubauen. Das Ergebnis der zweijährigen Praxis im Ausland waren 11 Märtyrer und mehr als 15 Gefangene. Die Menschen haben für die Sache der Partei in anderen Ländern ihr Leben gegeben. Dazu kommt der Gefängniswiderstand von 1982 als unvergleichbare Realität. In diesem Rahmen bewegten sich die Selbstverbrennung der vier und das große Todesfasten vom 14. Februar. Natürlich war es der Widerstand von Mazlum Doğan, der den Weg dahin erhellte und so große Entschiedenheit erzeugte. Die Menschen haben für die Sache ihren eigenen Körper verbrannt. Es ist offensichtlich, was das für eine Bedeutung hat und wie die Parteilinie unumkehrbar für die Parteikader wurde. Der Vorsitzende definierte den Widerstand im Gefängnis als »Bau einer Brücke zum freien Leben« und lud die gesamte Gesellschaft ein, ohne Furcht über diese Brücke zu gehen. Die Gesellschaft und insbesondere die Jugend haben auf diesen Aufruf positiv reagiert. Die Entwicklung der PKK und der Guerilla hat auf dieser Grundlage stattgefunden. Ihre Geschichte ist lang und es ist ein Thema, das wert ist, in allen Einzelheiten dargelegt zu werden.
Internationale Frauenfestivals im Gedenken an die Freiheitskämpferinnen
Zîlan, Sakine, Arîn und Ivana
Birgit Baumeister, CENÎ – Kurdisches Frauenbüro für Frieden, 14. Juni 2015
Am Wochenende 13./14. Juni 2015 fanden in mehreren europäischen Städten internationale Frauenfestivals statt. Seit 2004 ist das Zîlan-Frauen-Festival in Deutschland zur Tradition geworden, hinzu kommen das Zîlan-Festival in UK, das Sakine-Cansiz-Festival in der Schweiz, das Zîlan-Festival in Schweden und das zum ersten Mal in Marseille/Frankreich stattfindende Arîn-Mîrkan-Festival.
Die durch die kurdische Frauenbewegung in Europa, insbesondere die Frauenräte vor Ort ausgerichteten Musik- und Kultur-Festivals tragen die Motivation und Begeisterung des Widerstands in allen Teilen Kurdistans und internationaler Frauenkämpfe in einem großen Fest zusammen und stellen eine wichtige Erfahrung für die TeilnehmerInnen dar. Das Bühnen- und Seminarprogramm ist bekannt für seine Vielfältigkeit.
Die Festivals der Frauenbewegung werden gefallenen Freiheitskämpferinnen gewidmet und in ihrem Namen ausgerichtet: Zîlan (Zeynep Kınacı), Sakine Cansız und Arîn Mîrkan. Das Gedenken an sie steht symbolisch für die Werte, die im Frauenwiderstand geschaffen wurden, und stellt insbesondere die beispielhafte Haltung und Rolle einzelner Aktivistinnen des kurdischen Befreiungskampfes in den Vordergrund. Ihre Geschichten erzählen viel über die Persönlichkeiten, die ein solcher Widerstand benötigt und hervorbringt, wie wir ihn heute in Kobanê (Ain al-Arab; Westkurdistan) und Şengal (Sindschar; Südkurdistan) und nicht zuletzt in Mahabad (Ostkurdistan) und Amed (Diyarbakır; Nordkurdistan) erleben.
Als der Vernichtungskrieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung ein unausstehliches Maß annahm und parallel der Versuch eines Attentats auf Abdullah Öcalan in seiner Unterkunft in Syrien unternommen wurde, beschloss die 24-jährige Aktivistin Zeynep Kınacı (Zîlan), ein Zeichen zu setzen. Sie plante den Anschlag auf eine Militärparade der türkischen Armee in der kurdischen Metropole Dêrsim (Tunceli), einer Hochburg der oppositionellen Politik, insbesondere aus Anlass des dort im Jahr 1938 verübten rassistisch-nationalistischen Massakers.
Zeynep Kınacı hinterließ eine Handvoll Briefe, gerichtet an das kurdische Volk, die AktivistInnen der kurdischen Befreiungsbewegung PKK, an Abdullah Öcalan, an die türkische Regierung, die Weltöffentlichkeit und internationale Institutionen sowie die Frauenbewegung. Sie erklärte darin, dass nur der Widerstandskampf der PKK die KurdInnen vor der vollkommenen Vernichtung bewahrt habe. Eine Gesellschaft, die in Kultur, Identität und Bewusstsein fast vollkommen assimiliert worden sei, zu einem großartigen Widerstandskampf zu bewegen, benötige großes Verantwortungsgefühl, historisches Bewusstsein, Mut und Entschlossenheit.
Mit ihrer geplanten Aktion setzte sie ein deutliches Zeichen und einen Wendepunkt in der Vernichtungspolitik des türkischen Staates und dem Widerstandskampf der kurdischen Bevölkerung dagegen. Nach eigenen Angaben wählte sie dieses Mittel im Bewusstsein, dass »große Veränderungen manchmal bedeutsame Mittel benötigen«. Ihr Attentat symbolisiert seitdem die kompromisslose Bereitschaft im Kampf um die Befreiung, der sich über die enormen Volksaufstände, die Beharrlichkeit der Bevölkerung bei ihren Aktionen bis zum entschlossenen Kampf der Guerilla als Widerstandskultur im kurdischen Befreiungskampf durchgesetzt hat.
Dieser Geist spiegelt sich auch im Widerstand in türkischen Gefängnissen wider, in dem die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız (Sara) eine führende Rolle spielte. Unter staatlicher Folter und Misshandlung wurden dort bedeutsame Aktionen durchgeführt, die die Volksaufstände und Organisierungsarbeit in den Städten und Dörfern weiter vorantrieben. Die Aussage »Anstatt in Unfreiheit zu leben, ziehen wir es lieber vor, nicht existent zu sein« (»Widerstand und gelebte Utopien«, Interview S. 68) ist kein theoretisches Gelöbnis, sondern das Verständnis, mit dem ein solch wirkungsvoller Widerstand unter schlimmsten Umständen entwickelt wird. Die Entschlossenheit, die einen solchen Widerstand trägt, wurde auf einer Delegation 2012 von einer Aktivistin der Jugendbewegung mit den Worten beschrieben: »Unsere Strategie besteht darin, die Folterer und Unterdrücker durch unseren konsequenten und kollektiven Widerstand in ihrer eigenen Zerstörung zur Verzweiflung zu treiben.« Die historische Entwicklung des Widerstandes der Kurdinnen und Kurden gegen Kolonialisierung und staatliche Unterdrückung, bis zum heutigen Tag in der Revolution von Rojava und dem Erfolg der demokratischen Revolution in Nordkurdistan, beweist die Wirksamkeit dieses Konzeptes.
Die YPJ-Kämpferin und -Kommandantin Arîn Mîrkan ist ebenfalls zum Symbol des kurdischen Befreiungskampfes geworden. Die 22-jährige Kurdin aus Afrîn trat zu Beginn der Revolution, gemeinsam mit dreien ihrer Brüder, den Verteidigungseinheiten bei. Vor den Toren der Stadt Kobanê verteidigte ihre Einheit den strategischen Hügel Mistenur gegen die Truppen und Panzer des IS. Als das Gefecht eine gefährliche Phase erreichte, beschloss Arîn Mîrkan, sich für die Verteidigung der Stadt Kobanê und die Genossinnen ihrer Einheit aufzuopfern. Sie stattete sich mit Explosivmaterial aus, schlich sich getarnt in die Reihen der IS-Kämpfer und wurde selbst zur Waffe, um Dutzende IS-Kämpfer auf einmal sterben zu lassen. Strategisch gesehen hat sie mit dieser Aktion die Einnahme des Hügels und somit die Verteidigung der Stadt sowie das Vorrücken mit schweren Waffen und somit das Leben der Kämpferinnen einer ganzen Einheit verteidigt. Diese Hingabe im Kampf stellt einen roten Faden im kurdischen Freiheitskampf dar. Wie Zîlan mit ihrer Aktion das türkische Militärregime in einen strategisch bedeutsamen Schockzustand versetzte, so hat sich die Entschlossenheit Arîn Mîrkans im Kampf gegen den IS und für die Werte der Menschlichkeit ins Bewusstsein von Millionen Menschen gebrannt.
Wenn wir heute die Errungenschaften der kurdischen Frauenbewegung sowie den Einfluss der Frauenverteidigungseinheiten in der demokratischen Revolution im Mittleren Osten betrachten, so müssen wir sie im Kontext ihrer größten Widerstandssymbole verstehen. Deshalb werden den kurdischen Revolutionärinnen Zîlan und Arîn Tausende von Liedern und Gedichte gewidmet, in ihrem Gedenken tragen Hunderttausende Neugeborener ihre Namen und Bildungsakademien wie Räte genauso wie Festivals der Frauenbewegung werden nach ihnen benannt. Das Gedenken an sie steht symbolisch für den Frauenwiderstand, für die Opfer, die der Widerstand der KurdInnen gegen Patriarchat und staatlichen Kolonialismus gefordert hat, und alle, die heute mit derselben Entschlossenheit die Errungenschaften der Frauenrevolution verteidigen und voranbringen.
Sakine Cansız hat den kurdischen Freiheitskampf und die Formierung einer autonomen Frauenbewegung von Anfang an geprägt. Sie verkörpert den Entschluss und die Überzeugung, dass ein anderes Leben möglich ist und dass unendliche Mühe und Hingabe notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Ihr ganzes Leben hat sie dem Widerstand der KurdInnen und der Frauenbewegung gewidmet und hat Millionen von Menschen mit an dieser Revolution beteiligt.
Dank Frauen wie ihr können wir heute davon sprechen, dass die weltweite Frauenbefreiung mit den Errungenschaften der Frauenrevolution in Kurdistan eine neue Phase erreicht hat. Die kurdische Frauenbewegung hat nicht zuletzt mit der Revolution von Rojava bewiesen, dass sie Methoden und Werkzeuge entwickelt hat, um die Frauenbefreiung zum Grundelement eines neuen demokratischen Gesellschaftsaufbaus zu machen. Im Gedenken an Sakine Cansız arbeiten Hunderttausende Frauen im Bewusstsein, dass »das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Frauenbefreiung sein wird« und dass dieses Ziel nur mit tiefster Hingabe und Anstrengung erreicht wird.
Das Plakat des diesjährigen Zîlan-Festivals in Deutschland schmückt nicht nur das Bild von Hevala Zîlan (Zeynep Kınacı), sondern ebenso das der internationalistischen YPJ-Kämpferin Ivana Hoffmann. Ivana, die bei der Verteidigung von Rojava den kurdischen Namen Avaşîn Têkoşîn Güneş annahm, fiel am 7. März 2015 bei der Verteidigung eines assyrischen Dorfes im Kanton Cizîrê gegen den IS. Zum diesjährigen Zîlan-Frauen-Festival in Dortmund am 13. Juni 2015, das nach einem enormen Regenschauer mit strahlendem Sonnenschein beschenkt wurde, teilte auch die Mutter von Ivana Hoffmann eine Grußbotschaft mit den TeilnehmerInnen des Festivals:
»Zunächst begrüße ich von ganzem Herzen das diesjährige Zîlan-Festival. Leider kann ich aus familiären Gründen selbst nicht teilnehmen. Trotzdem möchte ich euch mitteilen, wie stolz es mich macht, dass das 11. Zîlan-Festival Ivana und allen Freiheitskämpferinnen gewidmet wurde.
Obwohl meine Tochter Ivana Hoffmann, Şehîd Avaşîn, das Land Rojava nicht kannte, die kurdische Sprache nicht beherrschte und auch nicht viel über die Geschichte Kurdistans wusste, hatte sie eines verstanden: dass es notwendig ist, sich für die Befreiung der Frauen und der Völker, im Namen der Menschlichkeit, an der Revolution in Kurdistan zu beteiligen. Sie wusste, dass ihr und allen Internationalistinnen, Hunderte auf diesem Weg folgen würden.
Lasst uns gemeinsam die Brücke zwischen Kobanê, Şengal und überall stärken, lasst uns so mutig wie Ivana sein, ihren Spuren folgen und das weiterführen, was sie erschaffen wollte. Lasst uns für unser aller Freiheit kämpfen, die Frauenrevolution in Rojava gemeinsam verteidigen und damit auch die Rache für die tausenden êzîdischen Frauen tragen.
Mein Wunsch ist es, dass Ivana nicht in Vergessenheit gerät.
Vielleicht hatte sie für zu kurze Zeit Anteil an der Frauenrevolution in Rojava, vielleicht konnte sie ihre Liebe und Leidenschaft zur Freiheit und der kurdischen Freiheitsbewegung für nur zu kurze Zeit erleben, aber sie ist dennoch, wie ihre Genossinnen, zum Symbol des kurdischen Frauenwiderstandes geworden – das macht mich sehr glücklich und stolz.
Ich rufe alle jungen Frauen auf, lasst uns gemeinsam für ein würdevolles Zusammenleben den revolutionären, internationalistischen Geist von Ivana Hoffmann, Andrea Wolf, Uta Schneiderbanger und hunderten gefallenen InternationalistInnen noch stärker und organisierter leben und erleben lassen.
Der Sieg ist nah! Von Kobanê bis Şengal – Es lebe der Frauenwiderstand!
In tiefer Zuneigung und mit herzlichen Grüßen,
die Mutter von Ivana Hoffmann,
Ella Hoffmann«