Interview mit Dr. Radha D‘Souza über die Hamburger Konferenz
Der »kleine« Aufbau eines »großen« Lebens
Elif Sonzamancı, Yeni Özgür Politika, 12.06.2015
Dr. Radha D‘Souza ist eine indische Schriftstellerin und nahm als Referentin an der zweiten Hamburger Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern«, 3.–5. April 2015, an der Universität in Hamburg teil. Sie arbeitet zur Politik in Ostasien und antikapitalistischem Widerstand. Wir sprachen mit ihr über ihre Eindrücke auf der Konferenz, die Politik in Ostasien, die kurdische Freiheitsbewegung, Rojava und über ihre Gedanken zum antikapitalistischen Widerstand im Allgemeinen.
Auf der Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern II« wurde Kritik geübt am gegenwärtigen System und es wurde breit über Alternativen zur Neuen Weltordnung, über Ökologie, Demokratie und Frauenrechte diskutiert. Was für ein Gefühl war es, Teilnehmerin einer solchen Konferenz zu sein? Über welche Themen teilten Sie Ihre Erfahrungen mit den Konferenzteilnehmern?
Eigentlich ist das Ziel der Konferenz das, was wir alle brauchen. Alle dort besprochenen Themen waren wichtig. Diese Diskussionen müssen fortgesetzt werden. Zu dem, was ich auf der Konferenz gesprochen habe ... Ich wollte kurz erläutern, dass der sich mit der kapitalistischen Moderne entwickelnde Industrialismus unvereinbar ist mit der Demokratie. Ich sage das, weil der Entwicklungsverlauf des modernen Industrialismus über eine Expansion der Maßstäbe fortschreitet. Wenn wir beispielsweise moderne Staudämme betrachten – wie der Ilısu einer ist –, dann erklärt die Wissenschaft, dass mit Staudämmen in solch großem Maßstab mehr Energie gewonnen werden kann. Das wird dann als moderne Industrialisierung dargestellt. Doch im Rahmen eines solch großen Projekts wird auch eine Vielzahl von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Gleichzeitig schaden diese Projekte der Natur in großem Maßstab. Nun setzt so ein Projekt große Investitionen voraus. Wenn in diesem Zusammenhang viel Geld benötigt wird, kommen die Weltbank, die Kapitaleigner und Unternehmen ins Spiel. Mit einem großen Projekt wird auch eine große Bürokratie zur Notwendigkeit. Umso größer das Projekt wird, umso mehr verlieren die Menschen vor Ort die Kontrolle darüber. Demokratie an einem Ort bedarf dessen, dass die Menschen über die Kontrolle über ihr eigenes Leben verfügen. Projekte im kleinen Maßstab vereinfachen wiederum die Kontrolle.
Aus diesem Grund gab ich auf der Konferenz das Beispiel einer tamilischen Philosophin, die zur Zeit der Antike gelebt hatte. Die Frauenphilosophin namens Auvaiyyar sagte »baue klein und lebe groß«. Für ein großes Leben braucht es eigentlich mehr gemeinschaftliches Leben als Geld. Sie betonte, dass ein ästhetisches, ökologisches, natürliches und künstlerisches Leben nötig sei. Wenn das alles im Leben eines Menschen enthalten ist, wird dieser sich zufrieden fühlen. Denn wenn das der Fall ist, findet die ganze Welt Leben in dir. Die großen Bürokratien im gegenwärtigen industriellen System führen dazu, dass wir uns selbst klein fühlen. Das einzelne Individuum hat heute keine Bedeutung mehr. Angesichts der ganzen großen Organisationen kann dem einzelnen Individuum keine Bedeutung mehr zugesprochen werden. Aus diesem Grund können viele von uns dem Leben keinen Sinn mehr abringen.
Denken Sie, es ist möglich, gegen dieses System, das das Kapital heiligt, den Menschen bis auf die Basis entwertet und das Kapital an die Spitze der Ordnung setzt, eine Systemalternative aufzubauen, die den Menschen zur Grundlage nimmt und sich auf eine demokratische Gestaltung stützt? Wo sind in diesen Diskussionen die Begriffe Wissenschaft und Recht einzuordnen?
Die Konferenz brachte zuletzt Kritik aus sehr verschiedenen Perspektiven zusammen. Für die Entwicklung einer Alternative muss das alles diskutiert werden.
Ich habe in einem Aspekt auf einige Dinge hingewiesen und mein Thema mit dem Punkt des Maßstabs eingeleitet. Das hängt zusammen mit der Frau, der Natur und der Kultur. Wir wissen ein wenig, was am gegenwärtigen System nicht gut läuft, und können eine Kritik formulieren. So wissen wir im Allgemeinen auch, was wir ablehnen. Doch dabei ist wichtig: Wir können noch viel besser darlegen, was wir wollen. Denn die Menschen sind nicht nur gegen eine Sache, sondern kämpfen auch für eine Sache. Meiner Meinung nach müssen wir zwei grundlegende Dinge beachten, wenn wir etwas auf die Agenda setzen: die moderne Wissenschaft und das moderne Recht. Bei der Betrachtung der Geschichte wirft beispielsweise jede Revolution eine Frage auf. Der Kapitalismus ging als Ergebnis der Revolution, die sich gegen den Feudalismus in Europa entwickelt hatte, hervor. Der europäische Feudalismus leistete Widerstand sowohl gegen die Theokratie als auch gegen die Religion. Wissenschaft und Recht entstanden gegen die Kirche und Theokratie. Die Bauern hatten hier eine wichtige Funktion und die Revolution wurde eine sozialistische. In sozialistischen Revolutionen in Russland und einigen Orten Europas wurde daran geglaubt, die Welt zu verändern, indem die Mittel des Kapitalismus, Wissenschaft und Recht, genutzt und die Macht von den Kapitalisten auf die Arbeiter übertragen werden. Man glaubte, die Welt zu verändern, wenn statt der Kapitalisten die Arbeiter über all diese Werkzeuge verfügen würden. Ohne Zweifel hat das einen Beitrag dazu geleistet. An manchen Orten kehrte Frieden ein, es wurden Schritte gemacht beim Thema Gerechtigkeit, doch diese sozialistischen Revolutionen sind nach einer gewissen Zeit gescheitert. Denn eigentlich haben sie auch nicht die Ausbeutung hinterfragt. Die Moderne entwickelte sich selbst über die Ausbeutung. Beispielsweise wollte die chinesische Revolution – die auch unter der Avantgarde der Bauern entstand – eine demokratische Revolution gestützt auf das Volk entwickeln. Zum ersten Mal auf der Welt hatten Bauern vom Land eine solche Sache hervorgebracht. Auch sie erlebten Probleme bei der Zielsetzung von groß angelegten Projekten.
Bei Projekten in großem Maßstab erlebten sie den Widerspruch, ihre eigenen Kommunen fortzuführen. Weil der dabei aufgetretene Widerspruch nicht adäquat analysiert wurde, ist China an die Moderne herangerückt.
Aus diesem Grund müssen wir, wenn die kapitalistische Moderne über diese zwei Standbeine aufgestiegen ist, über eine neue Wissenschaft, ein neues Recht sprechen. Das sind die zwei Fragen, die uns die Geschichte stellt. Wenn wir diese beiden Fragen beantworten können, werden wir vieles überwinden.
Die chinesische Ökonomie erstarkt heute gegenüber dem amerikanischen Imperialismus immer mehr und China ist zu einer modernen ökonomischen Kraft geworden. Doch diese Ordnung wurde auf Ausbeutung gegründet. Die großen Kapitalisten haben durch die Arbeit der Menschen viel Gewinn gemacht. Wie bewerten Sie in diesem Rahmen die Situation Chinas?
Alles verfügt im Hinblick auf Zeit und Ort über eine Geschichte. Aus diesem Grund argumentiert die Mehrheit beim Thema China nicht im Sinne dieses historischen Zusammenhangs. Sie gehen es nur über das Bruttoinlandsprodukt an. Doch die chinesische Modernisierung hatte sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln begonnen. Es war eine Strömung, die von Vertretern der antifeudalen Modernisierung begonnen wurde, sich später in Form des Widerstandes gegen die japanische Besatzung artikulierte, dann als Bauernrevolution. Viel später kam es zu einer kulturellen Revolution. Heute hat China die Position einer modernen ökonomischen Macht erreicht. Wie wurde das ehemalige arme China zu einem starken Land?
Wenn es diesen Zustand erreicht hat, dann wird es wohl etwas geben, was es woanders ausbeutet. Warum hat sich zudem nur China so entwickelt und nicht auch die anderen Dritte-Welt-Länder wie Indien, manche Länder in Afrika oder Argentinien? Wofür hat die Gesellschaft gearbeitet, was kam dabei heraus und welche Fehler wurden gemacht?
Wenn wir uns die Erfahrungen in China anschauen, sehen wir, dass auch sie einen Nationalstaat geschaffen haben. Mao analysierte, dass sich die Revolution über die Zusammenarbeit von vier Klassen entwickeln werde: die armen Bauern, die mittelständischen Bauern, die Arbeiterklasse und die Mittelklasse. Die Klassen außerhalb dessen kannte er nicht. In anderen Revolutionen und anderen Nationalstaatsbildungen war dies beispielsweise nicht so. Die Kultur hat sich über die Sprache oder im noch engeren Sinne verwirklicht. Es ist auch wichtig, dass es sich um eine antifeudale Revolution handelte. Diese Revolution war völlig auf die Bauern ausgerichtet. Es war in der Menschheitsgeschichte die größte Bewegung zur Regulierung des Bodens.
Doch warum hat dieses Projekt nun in den 1970ern einen anderen Weg eingeschlagen? Wenn wir uns die Diskussionen in China zwischen 1960 und 1970 ansehen, dann erkennen wir folgende Widersprüche: Um ein moderner Staat zu werden, waren Technologie und eine moderne Armee nötig. Das Geld aus den Kommunen wurde von solchen Projekten geschluckt. Auf dem Land wurde versucht, das alte kommunale System zu erhalten. Dieses kommunale System gab den Menschen Gesundheit, Nahrung und ein Obdach. Bei alldem wurde auch eine gewisse Gleichheit im Sinne des jeweiligen Geschlechts und der Klasse erreicht. Weil jedoch nicht genug Ertrag wie benötigt produziert werden konnte, konnte der Staatsapparat nicht aufrechterhalten werden. Es entwickelte sich intern Widerstand. Mit der Annäherung Chinas an den Rahmen eines modernen Staates musste sich auch der Ausbeutungscharakter verschärfen und die Spannungen verstärkten sich. In den 1980ern stiegen diese Spannungen noch mehr an.
In Rojava wurde ein System aufgebaut, das statt einer militärisch-religiösen Herrschaft die Volkssouveränität zur Grundlage nimmt, allen Kulturen den Raum zur Artikulation gibt und sich auf ein ökologisches und gerechtes Gesellschaftsverständnis stützt. In diesem Sinne ist es ein lebendiges Beispiel für die diskutierten Alternativen. Was denken Sie über die Revolution in Rojava?
Ich habe über das System in Rojava keine genaueren Informationen, versuche aber, es zu verstehen. Doch zwischen den diskutierten Themen hat mich insbesondere der Wiederaufbau von Kobanê aufmerksam gemacht.
Es muss nachgedacht werden über diesen Wiederaufbau: Woher werden die Materialien zum Wiederaufbau stammen? Die alten sozialistischen Bewegungen hatten das Verständnis, Zement zu bringen und Gebäude zu errichten. Aus diesem Grund bauten sie große Fabriken.
Wenn wir es mit der Ökologie ernst meinen, dann müssen wir Folgendes beachten: Werden wir schnell alles aus Beton bauen oder werden wir die Materialien vor Ort nutzen? Wenn wir diese Wahl treffen und uns die ökologische Krise vor Augen führen, dann gibt es Alternativen. Es gibt beispielsweise eine Vielzahl radikaler Architekten, die nicht an die politische Bewegung gebunden sind. Zu Zeiten der chinesischen Revolution gab es vielleicht eine politische Bewegung, aber nicht eine alternative Wissenschaft. Es gibt jetzt mehr Möglichkeiten zum Wiederaufbau von Rojava und der historische Moment ist ein anderer. Die Region hat jetzt ein größeres Potential.
Wie sehen Sie als Menschenrechtlerin die Türkei?
Ich möchte noch mal betonen, dass ich über kein tiefgreifendes Wissen verfüge. Erdoğan und seine Regierung nehmen Platz in dieser neuen Globalisierung. Wir können Folgendes sehen bei den Ländern, die Platz nehmen in dieser globalen Clique: Verfassungsänderungen. In den Ländern Lateinamerikas entwickeln sich Verfassungsreformen. Etwas, das die Globalisierung diktiert, ist das Management-Programm der Weltbank. Wenn du Mitglied der Welthandelsorganisation sein willst, braucht es dafür zwingende rechtliche Reformen. Aus diesem Grund möchte ich die Ereignisse in der Türkei aus diesem allgemeinen Blickwinkel betrachten und ich denke, dass es Ergebnisse dieser zwingendenden Faktoren sind. Welches sind die grundlegenden Reformen, die die Globalisierung fordert? Die Anerkennung eines unabhängigen und freien diktatorischen Raumes für das globale Kapital ... Das globale Kapital versucht den Charakter des Staates zu verändern. Statt politischer Autoritäten werden nur diejenigen in die Führungspositionen gebracht, die die Ökonomie verwalten. Das Gefährliche dabei ist die Verwaltung der Ökonomie. Weil darauf die Konzentration liegt, kann vielleicht auf kulturellem Gebiet etwas mehr Raum gegeben werden. Vielleicht können sie von kultureller Vielfalt und dem Recht auf Sprache sprechen. Wenn du keine Kontrolle über die Ökonomie hast, dann wirst du auch keine Kontrolle über andere Felder haben und keine Entwicklung voranbringen können. Ich blicke nicht sehr zuversichtlich auf die Verfassungsformen, die sich zu viel auf die ökonomische Autorität stützen und auf kulturellem Feld den Raum öffnen.
Was bedeutet Ihnen abschließend diese Konferenz und was konnten Sie mitnehmen?
Zum Schluss glaube ich, dass wir alle das Ziel der Konferenz brauchen. Ich hoffe, es wird weitergehen. Diese Diskussionen müssen weitergehen. Ich fand die Beteiligung der Jugend sehr beeindruckend. Ich hoffe für die Zukunft, dass es aus aufstrebenden Ländern mehr Teilnehmer an den Diskussionen geben wird. Denn dort gibt es Bewegungen, die ähnliche Fragen stellen wie die kurdische Bewegung.
Redebeiträge der Konferenz unter: http://networkaq.net/2015/speeches/index.html
Das konföderale System der Frauen in Kurdistan: KJK
Die Frauen als Avantgarde
Gönül Kaya, Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung
Wir befinden uns in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts. Aus Sicht der Frau, der Natur, des Individuums und der Gesellschaft ist die Menschheit Zeugin von gewaltigen Zerstörungen, Massakern, Armut, Kriegen und ähnlichen Katastrophen. Dieselbe Menschheit bezeugt aber auch Menschen, die auf der Suche nach Freiheit und Demokratie sind. Die die auf Macht, Klasse, Sexismus, Nationalismus und Wissenschaftlichkeit beruhende Politik und Mentalität und das gesellschaftliche System hinterfragen. Die den Kampf für das Praktizieren eines alternativen Lebens führen. Diese Phase wird als Chaosintervall bezeichnet.1 Im Hinblick auf den Ausgang dieses Intervalls ereignet sich ein historischer Prozess.
Für einen Ausgang nach ihren eigenen Vorstellungen sind die Kräfte der kapitalistischen Moderne bemüht, die Angriffe und die Ausbeutung in allen möglichen Bereichen zu vertiefen, im ideologischen, technologischen, politisch-akademischen Bereich, in der Ökonomie, der Kultur, dem Sport. Nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung Anfang der 1990er hatten die modernen sumerischen Priester des kapitalistischen Systems Diskurse zu verbreiten versucht, die das Ende der Ideologien und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus propagierten. Sie präsentierten sich selbst als einzige und letzte Herrscher. Aus Sicht der Völker, der Frauen und aller Unterdrückten, die den Gegenpart zum kapitalistischen System bilden, drückt dieser Prozess eine bedeutende Phase der Veränderung und Transformation aus. Es wurde begonnen, Begriffe bzw. Konzepte wie Macht, Staat, Klassengesellschaft, Demokratie, Frauenfreiheit, Überwindung von Natur- und Umweltproblemen und das Modell des Nationalstaats zu hinterfragen. Ist es ausreichend, das kapitalistische System abzulehnen? Aus welchem Grund konnten keine Alternativsysteme aufgebaut werden? Was ist der Grund für die unterschiedlichen Entwicklungen der großen Revolutionen der Menschheit? Der Feminismus hat große Fortschritte erzielt, aber warum konnte das kapitalistische System nicht überwunden werden? Warum konnte die Radikalität im hinterfragenden Denken nicht in eine neue Lebensform und in den Aufbau eines neuen Systems transformiert werden? Solche und ähnliche Fragen haben das Entstehen von Alternativkräften zur kapitalistischen Moderne beschleunigt.
Eine dieser Kräfte, die sich auf der Suche befinden, hinterfragen und ein alternatives Gesellschaftssystem schaffen, ist die aufstrebende kurdische Freiheitsbewegung im Mittleren Osten. Bei ihrer Suche und in ihrem Hinterfragen hat sie sich nicht vom »Sozialismus« abgewendet. Ohne sich bei ihrer Methodik des Hinterfragens in den Fallstricken der Ideologen des kapitalistischen Systems zu verfangen, hat sie Fragen gestellt wie: Wo wurden Fehler gemacht? Welche Aspekte des Systems wurden reproduziert? Wie können diese Fehler überwunden werden? Auf der einen Seite verteidigt sie im Mittleren Osten und in Kurdistan mit der kurdischen Gesellschaft alle genozidgefährdeten Volksgruppen und bekämpft deshalb den türkisch-arabisch-persischen Nationalstaatskolonialismus. Auf der anderen Seite streitet sie viel mehr für ein Hinterfragen der Mentalität und des Lebens und für die Überwindung der auf Macht und Sexismus beruhenden Persönlichkeitsstrukturen im gegenwärtigen System.
Die kurdische Freiheitsbewegung unter der Vorreiterschaft der PKK hat ihre radikalste Öffnung und Veränderung im inneren Kampf für eine gesellschaftliche Revolution im Bereich der Freiheit und Organisierung der Frau verwirklicht. Als grundlegenden Widerspruch betrachtet sie nicht den Klassenwiderspruch. Als Hauptwiderspruch werden das zwischen Frau und Mann errichtete Ausbeutungssystem, die zugehörige Mentalität und die Vergesellschaftung der von den Herrschenden aufgebauten machtbasierten Beziehungen gesehen. Und Sozialismus, Demokratie, Freiheit und Gleichheit sind an ein neues System gesellschaftlicher Beziehungen gebunden, das sich auf Gleichheit und Freiheit zwischen den Geschlechtern stützt.
Es lässt sich gegen das System rebellieren und starker Widerstand beweisen, ohne sich von den gegenwärtigen, vom patriarchalen System erzeugten Denkmustern von Frau und Mann zu befreien und die systemimmanenten Lebensgewohnheiten zu überwinden, doch eine alternative Gesellschaftsform wird so nicht geschaffen werden können. In dieser Hinsicht wurde der Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems, das auf der Freiheit der Frau beruht, ins Zentrum des Kampfes gestellt. Der Vordenker dieser Theorie, Abdullah Öcalan, hat mit dieser Herangehensweise den Menschen, die auf der Suche nach einer Alternative sind, sowie den Sozialisten dargelegt, von welcher Bedeutung die Freiheit der Frau ist.
In diesem Prozess der Veränderung und Transformation, der vor 1999 begann, hat die kurdische Frauenbewegung auf dieser Grundlage eine wichtige Intensivierung erfahren. Am 8. März 1998 wurde die Frauenbefreiungsideologie verkündet. Später wurden neben deren Prinzipien die »Theorie der Loslösung« sowie das »Projekt zur Transformation des Mannes« auf die Agenda gesetzt.
Dabei werden die beiden großen sexuellen Umbrüche, welche die Frauen in der Geschichte erlebt haben,2 und das dem folgende System hinterfragt. Diese beiden sexuellen Umbrüche haben die mentale, physische, ökonomische, gesellschaftliche und Willenskraft der Frau vernichtet. Dies dauert bis heute an und ist der längste Genozid in der Geschichte. Für die Schaffung eines alternativen Systems muss sich in diesem Jahrhundert dieses Mal ein Umbruch in der männlichen Mentalität und Lebensweise ereignen. Die konstruierten Frauen- und Männerrollen müssen überwunden werden. Die Frage danach, wie ein freier Mensch zu leben hat, wie ein Gesellschaftssystem aufzubauen ist, kann den Frauenfreiheitskampf auf eine neue Stufe befördern. Auf diese Weise können im Mittleren Osten und in Kurdistan die Frauenfrage und damit verbundene Lösungsformeln in den Vordergrund gerückt werden – was der Feminismus im Westen erfolgreich geschafft hat. Und die Lösung und Alternative ist es, bei der Frau und in der gesellschaftlichen Dimension Bewusstsein zu schaffen und, ohne das gegenwärtige System zu reproduzieren, ein neues gesellschaftliches System aufzubauen.
Um die ersten Schritte in diese Richtung besser zu organisieren, entwickelte die kurdische Frauenbewegung eine autonome Organisierung der Selbstverteidigung in den Reihen der Guerilla. Der im Jahr 1995 seine Gründung verkündende YAJK (Freier Frauenverband Kurdistans) hatte zum Ziel, die autonome Identität der Frau zu entwickeln. Daneben dauerten auch die Arbeiten zur Entwicklung der Frauenfreiheitsideologie an. Die Parteiwerdung der Frauen realisierte sich unter dem Namen PJA (Partei der Freien Frau, gegr. 2000). All dies zielte darauf ab, bei den Frauen – ob in den Kriegsgebieten, Städten, Dörfern oder Gefängnissen – Bewusstsein zu schaffen, sie zu organisieren und zu einer Kraft zu formen. Auf dieser Grundlage wird zum Aufbau eines alternativen Systems in Kurdistan Bildungsarbeit für die Frau zu allen Aspekten geleistet.
Bis ins Jahr 2005 arbeitete die kurdische Frauenbewegung weiter an der ideologischen Vertiefung für den Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems. Wichtige Aspekte, die hinterfragt werden, sind insbesondere die Geschichte des Patriarchats, die ungeschriebene Geschichte der Frau und das auf Herrschaft, Sexismus, Klassen und Staat beruhende System und die darauf gründende Mentalität. Ein weiteres grundlegendes Feld der Untersuchung und Recherche sind die Geschichte des Feminismus und die Erfahrungen vergangener Kämpfe. Im ideologischen Bereich wird der Bildung und Recherche großer Wert beigemessen. Mit der grundsätzlichen Feststellung, dass die Frauenfreiheitsideologie nicht nur auf die Freiheit eines Geschlechts abzielt, sondern eine gesellschaftliche Ideologie ist, werden Arbeiten zur gesellschaftlichen Veränderung und Transformierung durchgeführt. Es werden Bildungsmaßnahmen auf den Weg gebracht, welche die Frauenfreiheitsideologie vergesellschaften, Bewusstsein bei den Frauen schaffen und bei den Männern das patriarchale System brechen.
Im Jahr 2005 kam die kurdische Frauenbewegung zu dem Entschluss, das für die Freiheit Kurdistans unterbreitete System des Demokratischen Konföderalismus mit der Vorreiterrolle der Frau aufzubauen. Auf diesem historischen Kongress wurde entschieden, mit der Frauenorganisierung die Vorreiterrolle im alternativen gesellschaftlichen System anzustreben. Dafür wurde betont, dass in allen Bereichen die Organisierung der Frau verwirklicht werde: im ideologischen Bereich mit der PAJK (Partei der Freien Frau Kurdistans, gegr. 2004), im gesellschaftlichen Bereich mit den YJA (Verbände der Freien Frauen, gegr. 2004), im Bereich der Selbstverteidigung mit den YJA STAR (Einheiten der Freien Frauen STAR) und mit einer autonomen Organisierung für die jungen Frauen. Diese Organisierungsvarianten sollten in horizontaler Beziehung zueinander stehen und sich unter einem Dach zusammenschließen. Dieses Dach wurde der Hohe Frauenrat (KJB).
Von 2005 bis 2014 wurde das System der Organisierung kurdischer Frauen unter dem Dach des KJB verfolgt und bedeutende Arbeiten wurden vollbracht. Es wurde damit begonnen, in Kurdistan Frauenkommunen in Dörfern/Stadtteilen zu bilden, die Frauenräte und Frauenakademien in den Kommunen zu entwickeln und im ökonomischen Bereich Kooperativen aufzubauen. Entsprechend diesen Arbeitsfeldern wurden in Kurdistan und überall dort, wo kurdische Frauen leben, Bildungsmaßnahmen, Treffen und Aktionen durchgeführt. Es wurde zur Grundlage gemacht, dass die wichtigen Entscheidungen von unten getroffen werden.
Es wurde dafür gekämpft, dass die Aufklärungsarbeit für die Frauen nicht auf die »Akademikerinnen« begrenzt blieb und das Wissen mit der Frau und der Gesellschaft geteilt wird. Ein weiteres wichtiges Thema des Kampfes war der Widerstand gegen die vonseiten der Kolonialstaaten betriebene Politik der Gewalt, des Krieges und der Massaker gegen die Frauen sowie der Widerstand gegen die Gewaltanwendung und die damit verbundene Mentalität gegen die Frau innerhalb der Gesellschaft. In der Gesellschaft wurden Kampagnen organisiert und jegliche auf Macht und Massakern basierende patriarchale Politik unter dem Deckmantel von »Tradition/Religion/Gesetz« wurde bloßgestellt.
Ein nächster Vorstoß, der die gesellschaftliche Wahrnehmung betraf, war das »Kovorsitz-System«. Ziel hierbei ist nicht eine symbolische und bürokratische Gleichheit zwischen Frau und Mann in politischen Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es geht darum, gegen alle möglichen monistischen Perspektiven Pluralität auf der Grundlage freiheitlicher Prinzipien zu schaffen. Das Projekt des Kovorsitz-Systems wurde im gesellschaftlichen Bereich als »Projekt für ein freies, partnerschaftliches Leben« bestimmt.
Der klarste Ausdruck für den Kampf um Selbstverteidigung – als einem Kampfterrain im unter militärischer Besatzung und Ausbeutung stehenden Kurdistan – ist Rojava/Şengal (Sindschar) und Kobanê. Die von Frauen verschiedenster Ethnien aus Rojava zusammengesetzten Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) haben nicht nur für den Mittleren Osten, sondern für die gesamte Welt einen Kampf um Freiheit geführt. Die Ideologie, auf die sie sich stützen, ist das demokratische, ökologische und frauenbefreite Gesellschaftssystem und Paradigma.
Der KJB erklärte auf seinem Kongress im Jahr 2014, eine neue Etappe erreicht zu haben. So wurde der Übergang auf eine Organisierung nach dem konföderalen System verkündet, während der KJB noch eine Dachorganisation verkörpert hatte. Dieses konföderale System der Frau wurde Gemeinschaft der Frauen Kurdistans genannt – Komalên Jinên Kurdistan, KJK. KJK ist also nicht nur die Bezeichnung für eine Frauenorganisierung, sondern der Name für das System der Frau in der Aufbauphase.
Die kurdische Frauenbewegung hat als KJK bestimmt, in allen Bereichen sich selbst und das System aufzubauen. In Nord- und Südkurdistan, in West- und Ostkurdistan sowie im Ausland hat sie sich die Errichtung dieses Modells der Kommunen und Räte zum Ziel gesetzt. Dafür wird sie zuerst in Dörfern und Stadtteilen die Kommunen als Wurzeln des konföderalen Systems der Frau aufbauen. Die kommunale Lebensweise wird die Grundlage bilden. Denn das konföderale System nimmt diese Art zu leben zu seiner Grundlage. Kein Bereich darf ohne Organisierung bleiben. KJK bedeutet das kommunale Leben als klarster Ausdruck unserer Farbe. Das Ziel ist, dass jede Frau, egal welcher Nation, in allen Bereichen ihren Platz in den Kommunen und Räten einnimmt und über ihre eigenen Bedürfnisse selbst bestimmt. Dieses System ist die KJK.
Die KJK hat vier Phänomene als Widerpart definiert: Sexismus, Nationalismus, Fundamentalismus und Szientismus. Frauen aus jeder gesellschaftlichen Schicht und aus den verschiedensten Volksgruppen, die sich dem entgegenstellen, können mit ihrer eigenen Farbe, Sprache, ihrem Glauben und Willen im KJK-System Platz finden. Zur Flagge der KJK erläutern ihre Vertreterinnen: »Es wurde ein Flaggenmodell entwickelt, das die wesentlichen Besonderheiten des konföderalen Systems wiedergibt. Sie enthält beispielsweise einen Ölzweig, einen Stern und eine Sonne. Die Symbole tabuisieren wir nicht, sondern nehmen sie als Werte in die Hand. Alle Symbole, die wir ausgewählt haben, repräsentieren die Werte der Gesellschaft und unseres Kampfes. Der Ölzweig drückt die Kultur der Frau und die Arbeit aus. Aus der Mythologie und den Religionen ist die Nähe zwischen den Sternen und der Frau geläufig. Gleichzeitig handelt es sich beim Stern auch um ein Symbol für den Sozialismus. Die Sonne repräsentiert sowohl unsere Führung als auch das Licht.«
Die KJK ist das Freiheitssystem der Frau, das im Mittleren Osten und in Kurdistan ersteht. Die kurdische Gesellschaft begreift jeden Tag mehr, dass der Aufbau des Freiheitssystems der Frau die Garantie für ihr eigenes System der Freiheit ist. In diesem Sinne geht der Kampf um den Systemaufbau durch die KJK zusammen mit der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) weiter. Beide sind auf dem Weg zu universaler Dimension.
1) Vgl. Verteidigungsschriften A. Öcalans, »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«, Köln 2010, S. 19: »In der Entwicklungsdialektik jedes Phänomens zeigt sich ein ›Chaosintervall‹, ein Zeitraum eines chaotischen Übergangs, das bei qualitativer Veränderung notwendigerweise auftritt. (…) Eine gradlinige Vorwärtsentwicklung aus dem Intervall heraus ist nicht immer möglich. (…) In menschlichen Gesellschaften nennt man derartige Intervalle ›Krisenzeiten‹.«
2) Das waren die Errichtung des Patriarchats und die Etablierung der monotheistischen Religionen; vgl. A. Öcalan: »Befreiung des Lebens: Die Revolution der Frau«, Köln 2014.
Analyse der Wahlergebnisse vom 7. Juni
Die HDP ist ihrer Verantwortung gerecht geworden
Veysi Sarısözen, Journalist
Die Türkei hat die kritischste Parlamentswahl ihrer Geschichte abgehalten. Für die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die profaschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) gab es nur »quantitative« Ergebnisse. Die CHP verlor einige Stimmen, die MHP gewann einige. Die Position beider Parteien im türkischen Parlament hat sich damit nicht verändert. Im Gegensatz dazu erlebten die an der Macht stehende »islamistische und nationalistische« Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und die als Bündnis der kurdischen politischen Bewegung mit linken, sozialistischen, feministischen, grünen, linksliberalen und LGBT-Kräften angetretene Demokratische Partei der Völker (HDP) in qualitativer Hinsicht eine große Veränderung. Die seit dreizehn Jahren die Regierung stellende AKP verlor ihre absolute Parlamentsmehrheit, die HDP dagegen gewann mit der Überwindung der Zehnprozenthürde, die der 12.-September-Faschismus gegen die kurdische Gesellschaft in der Verfassung verankert hatte, 80 Sitze. Zweifellos zeigen der Abfall der AKP von 50 auf 40 % und die Überwindung der Wahlhürde mit 13 % durch die HDP nur eine Seite der Wahl vom 7. Juni.
Es gab noch etliche weitere Veränderungen: Zuvor war die AKP in den westlichen Provinzen Nordkurdistans ohne Konkurrenz gewesen. Insbesondere in den von sunnitischen und alevitischen Kurden gemeinsam bewohnten Provinzen unterstützten die sunnitischen Kurden die ihnen als »sunnitisch« bekannte AKP. In einigen Provinzen, wo die Kurden ihre Mehrheit aufgrund von Assimilation, Migration etc. eingebüßt hatten, war der türkische Bevölkerungsanteil gegenüber früher gestiegen. Die AKP erhielt auch in solchen Provinzen Nordkurdistans eine Stimmenmehrheit. Auf der anderen Seite unterstützte die gegen das staatliche »Sunnitentum« eingestellte und in den überwiegend von kurdischen Aleviten bewohnten kurdischen Provinzen lebende Mehrheit der Aleviten die »laizistische« CHP. Bei der Wahl vom 7. Juni kam es nun zu einer radikalen Änderung des Kräfteverhältnisses in ganz Nordkurdistan. Die HDP erlebte in den genannten AKP-beeinflussten Provinzen einen enormen Stimmenzuwachs und fügte der AKP in Kurdistan eine erhebliche Niederlage zu. Außer in fünf, sechs Provinzen erfuhr die HDP dort von der Bevölkerung eine achtzigprozentige Unterstützung. Die »fundamentalistisch-islamistische« Partei der Freien Sache (Hüda Par), die an der Seite der AKP heranwächst, hat mit nur wenigen Stimmen keine Unterstützung in der Bevölkerung gefunden. Die CHP gewann beispielsweise in Dêrsim (Tunceli), trotz sonst üblicher zahlreicher Stimmen, nicht einen einzigen Abgeordneten. Bekanntlich hatten AKP und Staatspräsident Erdoğan vor der Wahl erklärt, gestützt auf die durch Assimilation und Migration veränderte Bevölkerungszusammensetzung in den nordkurdischen Provinzen, dass nicht die HDP, sondern die AKP Kurdistan vertrete. Diese Behauptung rüttelte an der nationalen demokratischen Einheit der kurdischen Gesellschaft und wurde mit der Wahl klar widerlegt. In den kurdischen Provinzen, in denen die AKP immer noch über Einfluss verfügte, und in Nordkurdistan im Allgemeinen hat die HDP die AKP weit überholt. Die AKP konnte dort meist nur Stimmen aus dem Militär, der Polizei, der zivilen Bürokratie, der kleinen türkischen Minderheit und dem Dorfschützersystem gewinnen.
Somit ist die im Grunde sowieso sinnlose »Diskussion«, wer wen in Nordkurdistan »vertritt«, sicher zu Ende. Abschließend hat die AKP zusammen mit ihrem Fall in die »Minderheit« den Status als erste Partei bei den Wahlen in Nordkurdistan verloren und die HDP ist mit dem Überwinden der Wahlhürde in der Gesamttürkei und dem Gewinn der großen Mehrheit in Nordkurdistan zur »ersten« Partei geworden. Dies ist das deutlichste Ergebnis dieser Wahl im Hinblick auf das Hauptproblem der Türkei, die kurdische Frage.
Es gibt noch ein weiteres Wahlergebnis mit »revolutionärer« Qualität, und zwar in horizontaler Dimension. Das HDP-Wahlprogramm, das sich auf die von ihr vertretene »geschlechterbefreite, ökologische und freiheitlich-kommunale Gesellschaft« stützt, hat alle Parteien in der Türkei, außer der MHP, beeinflusst. AKP und CHP, »männerdominiert«, waren unter dem Eindruck des Kampfes der HDP-Frauen gezwungen, eine bisher nicht gekannte Anzahl Kandidatinnen zu nominieren. Am Ende wurde eine Anzahl Frauen (97) gewählt, die das türkische Parlament bisher nicht gesehen hatte. Ohne Zweifel haben die HDP-Kandidatinnen mit 38 Prozent der Gewählten als demokratische Frauen die Vorreiterrolle für diese »Parlamentsabgeordneten-Bewegung« gespielt. Somit hat die »männlich dominierte Repräsentation« im türkischen Parlament ihre erste große Niederlage erlebt.
Neben diesem »Sieg der Frauen« wurde ein weiteres bedeutendes Ergebnis am Jahrestag des Genozids an den Armeniern und Assyrern erzielt. So sind alle Parteien, wieder außer der MHP, vom HDP-Programm der »demokratischen Nation« beeinflusst worden. Diejenigen, die die PKK-Guerillas als »Nachkommen von Armeniern« beleidigt und das Wort »Armenier« wie ein Schimpfwort benutzt hatten, sogar die historische Verantwortung für diesen Genozid tragen, waren nun gezwungen, gemeinsam mit armenisch-stämmigen Kandidaten zur Wahl anzutreten. Dass die HDP statt von den »Nationen der Türken, Kurden, Lasen, Armeniern« usw. von einer »demokratischen Nation« für alle Ethnien, Konfessionen und Sprachen spricht und auf ihrer Wahlliste êzîdische, armenische, assyrische Kandidaten aufstellte, war ein Schlag gegen die von »Assimilation und Völkermord« gekennzeichnete Geschichte und Praxis des türkischen Staates. Daneben sind auch noch die alevitischen HDP-Kandidaten zu nennen, die ihren Glauben offengemacht hatten und gewählt wurden. Im Gegensatz zum CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu, der sich lange Zeit geweigert hatte, seine alevitische Identität überhaupt offen anzusprechen.
Alles eben Genannte sind Wahlergebnisse vom 7. Juni, die einen qualitativen Unterschied zu vorherigen Wahlen ausmachen.
Mit den Ergebnissen dieser Wahl wurden auch für die nahe Zukunft der Türkei gefährliche Entwicklungen verhindert. Hätte die HDP die Wahlhürde nicht überwunden, wäre die Türkei innerhalb einiger Monate unaufhaltbar in Richtung eines diktatorischen Regimes im Sinne Erdoğans gegangen. Die Verfassung wäre auf der Grundlage eines »Präsidialregimes im türkischen Stil« geändert worden. In diesem Regime mit Erdoğan als »einzigem Chef« wäre die seit zweieinhalb Jahren andauernde Waffenruhe mit den bisherigen Kriegsvorbereitungen beendet, der Krieg gegen die PKK als größtem Hindernis für die militaristische Politik im Mittleren Osten mit dem Ziel ihrer Vernichtung begonnen und der HDP wie anderen früher schon mit massenhaften Festnahmen begegnet worden. Unter dem Eindruck des Sieges der YPG/YPJ in Kobanê gegen den von der AKP-Regierung unterstützten und mit Waffen ausgestatten Islamischen Staat (IS) hätte Erdoğan in der Krise seiner Mittelost-Politik die Türkei zusammen mit Saudi-Arabien und Katar in einen Konfessionskrieg gegen den Iran gezogen. Weil eine solche Orientierung die schonungslose Ausbeutung der Werktätigen bedingt und die lahmende Wirtschaft herausfordert, wären alle Kriegsausgaben und die ökonomische Krise auf die Werktätigen abgewälzt und deren Kampfmöglichkeiten zerschlagen worden. Alle möglichen Aufstände wären mit blutigen Polizeiangriffen, die selbst die gegen den Gezi-Widerstand überstiegen hätten, niedergeschlagen worden.
Die Überwindung der Wahlhürde durch die HDP und die Verhinderung der Möglichkeiten für die AKP, allein die Verfassung zu ändern und die Regierung zu stellen, hat mit der Abwehr der oben genannten möglichen Gefahren eine große Chance geschaffen.
»Chancen« bringen nur etwas, wenn sie »genutzt« werden. In dieser Hinsicht können wir nicht behaupten, dass die gefährliche Entwicklung vollends gestoppt worden sei. Denn die AKP und insbesondere die Gruppe um Erdoğan sind weit davon entfernt, die Wahlniederlage zu akzeptieren. Die AKP spielt nach der Wahl ein gefährliches Spiel, um von neuem an die Macht zu kommen. Sie ist dazu gezwungen. Denn seit ihrer Gründung bis heute nährt sie sich von ihrer 13 Jahre währenden Macht. Als die AKP 2002 an die Macht kam, verfügte sie im Staatsapparat über kein Militär, keine Polizei, Richter oder zivile Bürokratie. Aus diesem Grund verbündete sie sich dort mit verschiedenen Kreisen. Insbesondere mit dem Fethullah-Gülen-Orden, dem nach dem faschistischen Putsch des 12. September 1980 als »Export der Khomeini-Revolution« der Raum gegeben wurde, sich innerhalb des türkischen Staatsapparats zu organisieren. Gleichzeitig arrangierte sich die AKP mit den »liberalisierenden Konservativen« aus der Zeit Özals und sogar den liberalen Bürokraten. Heute sind die geschlossenen Bündnisse aufgelöst. Und die AKP verfügt immer noch nicht über eine mit ihr vollständig verbündete Bürokratie. Eine AKP, die nicht an der Macht ist, kann diesen Staatsapparat nicht beherrschen. Diese Partei war nicht als »ideologische« Partei gegründet worden. Sie wuchs als eine Clique, in der jeder andere Interessen verfolgte. Die unterschiedlichen Kreise in dieser Partei, die auch von den USA unterstützt wurden, hatten sich mit dem Ziel zusammengeschlossen, sich auf den Staat gestützt zu bereichern. Diese Kreise bleiben bei keiner AKP, die nicht an der Macht ist.
In der Opposition könnte die AKP ihr Medienmonopol nicht aufrechterhalten. Die ganzen an Kapitalgruppen gebundenen Medienorgane können sich ohne staatliche Unterstützung nicht halten. Und nicht zuletzt hat die AKP im Zuge ihrer in den letzten Jahren verfolgten Linie sowohl innerhalb des Staatsapparats als auch in der Öffentlichkeit eine unglaubliche Polarisierung gegen sich geschaffen, eine Polarisierung mit einem solchen gegenseitigen Hass wie nie zuvor in der politischen Geschichte der Türkei. Die Kader der AKP und insbesondere Erdoğans wissen sehr gut, dass ein Regierungsverlust für sie Verurteilung und Haft bedeutet.
Kurz, eine AKP in der Opposition kann sich nicht verteidigen, nicht einmal ihre Existenz sichern. Das ist ein solch klares Bild, dass die Äußerung eines der AKP-Gründer und heutigen Vizeministerpräsidenten Bülent Arınc vom 10. Juni Eingang in die türkischen Medien fand: »Wir müssen die Macht sein, wir sind eine Partei, die der Macht bedarf.«
Ist es möglich, dass die AKP diese ganzen Ängste mit einer »Koalition« beseitigen kann? Nein. Denn keine Partei, die mit der AKP koalieren würde, könnte die bekannt gewordenen Korruptionsfälle vom vergangenen Dezember unberücksichtigt lassen. Sonst würde sie bei der nächsten Wahl abgestraft werden.
Wie kann die AKP zur Macht werden?
Sie hat ihre Absichten am 8. Juni mit den Titelzeilen in den ihr verbundenen Medien selbst enthüllt, mit der raschen Ausführung dieses ausgeheckten Plans drei Tage später in Amed (Diyarbakır) machte sie einen schweren Fehler. Die AKP-Medien verlautbarten einen Tag nach der Wahl das Ziel der AKP: »vorgezogene Neuwahlen« statt »Koalition«. Zwei Tage später führte sie mit einer blutigen Provokation in Amed vor, wie sie dieses Ziel mit der »Schaffung eines blutigen Chaos« erreichen wollte. Nachdem demokratische Medien wie Özgür Medya, Özgür Gündem, Yeni Özgür Politika, Med Nûçe TV, İMC TV, Hayat TV und TV 10 dieses gefährliche Spiel der AKP für »vorgezogene Neuwahlen« mit der Öffentlichkeit geteilt hatten, sind die AKP-Strategen zur »Verteidigung« übergangen. So äußerte auch Davutoğlu: »keine vorgezogene Neuwahl, sondern Koalition« und »wir werden ein Chaos nicht zulassen«.
Es ist eine Realität, dass der Plan der Regierung, mit Chaos zu vorgezogenen Neuwahlen zu kommen, genau im richtigen Moment aufgedeckt wurde und die kurdische Gesellschaft auf die Provokation der »tiefen AKP« in Amed nicht eingegangen ist und bewaffnete Auseinandersetzungen verhindert hat.
Nun liegt vor der Türkei eine kritische Phase der »Koalitionsbildung«. Die HDP und alle demokratischen Kreise haben die Initiative ergriffen. Die HDP ist ihrer Verantwortung in der Wahl gerecht worden, sie hat die Provokation von Auseinandersetzungen in Kurdistan verhindert, sie hat die demokratische nationale Einheit der Kurden gestärkt, die Wahlhürde überwunden und die AKP in die Minderheit gerungen. Nun haben die zwei »großen« Parteien der Wahl die Aufgabe und Verantwortung, die Türkei nicht ohne Regierung zu lassen. AKP und CHP sind gezwungen, auf der Grundlage der Regierungsbildung den Lösungsprozess und die Gespräche mit Öcalan weiterzuführen, die politische Vorherrschaft Erdoğans zu beenden und im Land und in der Region Frieden zu sichern. Ohne Zweifel tragen alle ins Parlament eingezogenen Parteien eine Verantwortung: als Ergebnis dieser historischen Wahl im türkischen Parlament als eine »konstituierende Versammlung« zu arbeiten. Eine solche »konstituierende Versammlung« muss sich unter Beteiligung aller Parteien und der Zivilgesellschaft dem Ziel der Demokratisierung der türkischen Republik und einer demokratischen Verfassung widmen.
Und zum Ende muss erklärt werden, dass alle Ergebnisse dieser Wahl vom 7. Juni hervorgegangen sind aus der Realisierung der vom PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vorbereiteten theoretischen und praktischen Linie, die von aufopferungsvollen Kadern verwirklicht wurde. Die Linie der Theorie der »demokratischen Nation, des demokratischen Konföderalismus, der demokratischen Republik und der demokratischen Autonomie« hat sich praktisch mit dem breiten Bündnis um die HDP, der HDP-Gründung selbst und der Entscheidung, als Partei anzutreten, vereint. Diese »Veränderung«, die nicht nur die Türkei, sondern den Mittleren Osten ändern wird, hat zudem die Menschen aus allen Teilen der Türkei erreicht.
Demokratischer Konföderalismus und die palästinensischen Erfahrungen
Die neuen Normen schaffen
Free Haifa ~ Reading, Writing and Freedom Arithmetics
Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung des Autors die Übersetzung eines Textes vom Blog »Free Haifa ~ Reading, Writing and Freedom Arithmetics« (https://freehaifa.wordpress.com/2015/05/09/democratic-confederalism-and-the-palestinian-experience/), der anlässlich der zweiten Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern« des »Network for an Alternative Quest« in Hamburg, April 2015, erstellt worden war.
Öcalan lesen in Haifa, Palästina
Während in den meisten arabischen Ländern die Linke sich auf einem anhaltenden Rückzug befindet, sehen wir, wie es der kurdischen Linken gelungen ist, sich als dominierende Kraft unter den kurdischen Massen im größten Teil Kurdistans zu etablieren, auch wenn es zwischen verschiedenen Nationalstaaten aufgeteilt ist.
Das macht das Studium der kurdischen Erfahrung und der revolutionären Theorie, die sie inspiriert, zu einer Notwendigkeit für palästinensische und arabische Aktivist*innen auf der Suche nach einer neuen Agenda für die Befreiung von Imperialismus, Zionismus und lokaler Tyrannei.
Praktische und theoretische Grundlage für demokratischen Konföderalismus
Abdullah Öcalan empfiehlt in seinem Buch »Demokratischer Konföderalismus« diese »Bottom-up«-Organisierung der Gesellschaft, die solide auf der kurdischen Erfahrung fußt, aber ebenso auf einer breiten und tiefgründigen Sicht der Geschichte. Er führt an, wie alte Feudalreiche gediehen, indem sie einer breiten Spanne verschiedener Kulturgesellschaften die Koexistenz erlaubten und auf die Organisation vieler gesellschaftlicher Aspekte auf lokaler Ebene bauten.
Die spezifischen örtlichen Bedingungen, die der kurdischen Gesellschaft in Nordkurdistan halfen, das Modell der lokalen Selbstverwaltung durch die Gemeinderäte zu übernehmen, wie Öcalan und andere Autor*innen anführen, mögen uns an die alten sozialen Bindungen in einer überwiegend ländlichen, unter schweren Bedingungen lebenden Bevölkerung erinnern, an ureigenen Argwohn der herrschenden staatlichen Institutionen aufgrund der repressiven Versuche, ihr Nationalstaatskonzept mechanisch aufzuzwingen, und, natürlich, an die führende Rolle der Befreiungsbewegung bei der Organisierung der Menschen.
Das Konzept der Bottom-up-Demokratie wurde in verschiedener Form in vielen revolutionären Bewegungen übernommen. Wir können mit den Arbeiter*innenräten beginnen – bekannt unter ihrem russischen Namen Sowjets –, die in Russland in der Revolution von 1905 geboren wurden und von den Bolschewiki als Organisationsprinzip ihres Regierungssystems entwickelt wurden. Diese Räte verloren ihre reale Basis in der Bevölkerung nach der ersten revolutionären Phase. Eine der bekannteren heutigen Erfahrungen mit dem Aufbau von Basisdemokratie ist die »partizipative Demokratie«, die Chavez in Venezuela zu fördern versuchte.
Obwohl es nicht Aufgabe dieses Artikels ist, die verschiedenen Paradigmen der Volksdemokratie zu vergleichen, ist es wichtig anzumerken, dass Öcalan mit dem Vorschlag des demokratischen Konföderalismus eine Struktur nahelegt, in der die Macht des Volkes von der Staatsmacht getrennt sein kann. Er untersucht auch eine Option für eine langfristige Koexistenz dieser »Doppelherrschaft«.
Das Konzept des demokratischen Konföderalismus basiert auf der Organisierung der Gesellschaft auf lokaler Ebene, um sich um ihre realen Bedürfnisse zu kümmern. Es betont sowohl die zentrale Rolle der Frauenbefreiung bei der Emanzipation der Gesellschaft als Ganzem als auch den ökologischen Ansatz für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Aus den lokalen Versammlungen werden zur Koordinierung gemeinsamer Ziele Versammlungen auf übergeordneter Ebene gebildet, während das Zentrum der Macht auf der unteren Ebene verbleibt.
Dies bedeutet gewissermaßen eine Anpassung des Konzepts der Volksdemokratie an die besonderen Bedingungen des kurdischen Volkes. Da jeder Vorschlag zur Bildung eines eigenen kurdischen Staates auf größte Ablehnung und Repression stößt, wird das Gleichgewicht der Kräfte vor Ort zugunsten der lokalen Gesellschaft verändert. Dieses Paradigma berücksichtigt auch die Vereinigung der kurdischen Bevölkerung durch die Organe des demokratischen Konföderalismus ohne direkte Infragestellung der »heiligen« Staatsgrenzen des kriegsanfälligen Mittleren Ostens.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Situation in Palästina
Die Grundlagen der israelisch-palästinensischen und israelisch-arabischen Konflikte unterscheiden sich sehr von denen des Kampfes der Kurd*innen gegen ihre verschiedenen Unterdrücker. Obwohl die Kurd*innen scharfen repressiven Maßnahmen ausgesetzt waren, wurden einige davon, wie das Verbot der Muttersprache, nicht vom Zionismus angepasst. Öcalan erinnert daran, dass es eine lange Geschichte guter Beziehungen zwischen den kurdischen Gemeinschaften und ihren verschiedenen Nachbarn gibt. Lediglich die Bildung der Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg schuf die Grundlage für die aktuelle Unterdrückung der Kurd*innen.
Im Gegensatz dazu wurde der Zionismus in Palästina als externe und feindliche Macht eingeführt, als Teil der europäischen Kolonialisierung unterworfener Länder auf der ganzen Welt. Heute, nachdem die direkte kolonialistische Herrschaft auf der ganzen Welt von Befreiungsbewegungen gestürzt wurde, ist Israel der einzige Fall von aktivem Kolonialismus, der noch im Stadium der Expansion begriffen ist: Es bemächtigt sich des Landes der einheimischen Bevölkerung, verweigert ihr jegliches ziviles und nationales Recht und betreibt systematische ethnische Säuberung in den 1948 wie auch 1967 besetzten Gebieten. Dies führt zu einem weiteren wesentlich unterschiedlichen Charakteristikum des Konflikts: Während Öcalan von einem Nationalstaat spricht, der lokale Communities mit Nachdruck zu assimilieren sucht, bleibt es das höchste Ziel des Zionismus, Palästinenser*innen aus ihrer Heimat zu vertreiben.
Die unmittelbare Gefahr einer völligen Vernichtung ihrer Gesellschaft zwang die Palästinenser*innen zur Mobilisierung auf sehr hohem Niveau. Seit Beginn der zionistischen Kolonialisierung vor mehr als hundert Jahren sind die Palästinenser*innen im Massenkampf wie im bewaffneten Widerstand engagiert. Einer der herausragendsten Punkte in diesem Kampf war zwischen 1936 und 1939 ein Generalstreik der palästinensischen Bevölkerung gegen die britische Besatzung und die zionistische Kolonialisierung, der ein volles halbes Jahr anhielt und viele Sektoren der Wirtschaft lähmte. Es folgten drei Jahre bewaffneten Aufstands, als der größte Teil der ländlichen Gebiete unter Kontrolle der Guerilla stand. Diese Kampfperiode offenbarte die verschiedenen Ansichten der Volksbewegung einerseits, die die Menschen zu organisieren und sich um deren alltäglichen Bedürfnisse zu kümmern versuchte, und der traditionellen Führung andererseits, die den Kampf zu begrenzen suchte und zu einem Kompromiss mit der britischen Besatzung tendierte.
Die nächste massive Explosion des revolutionären Kampfes der Palästinenser*innen erfolgte 1967 nach der Niederlage der arabischen Armeen gegen die israelische Aggression. Die Palästinenser*innen, die meisten von ihnen Flüchtlinge nach der Nakba [arab.: »Unglück«; Vertreibung der arabischen Bevölkerung] 1948, verstanden, dass Palästina nicht durch staatliche Kriegsführung befreit werden würde, und mobilisierten für einen revolutionären Volkskrieg, gestützt vor allem auf die Bewohner*innen der Flüchtlingslager. Dieser revolutionäre Krieg brachte die Palästinenser in Konflikt mit den Interessen der lokalen arabischen Regime. Als eine Folge davon wurde die palästinensische Guerilla von der jordanischen Armee im »Schwarzen September« 1970 zerschlagen, 1976 im Libanon durch lokale Faschist*innen mit Hilfe der syrischen Armee wieder unterdrückt und 1982 durch die israelische Invasionsarmee zum Verlassen des Libanon gezwungen.
Später verlagerte sich mit der ersten (1987–1993) und der zweiten (2000–2005) Intifada das Zentrum des Kampfes wieder nach Palästina.
In all dieser Zeit konzentrierten sich alle Anstrengungen auf den Hauptkonflikt, zunächst gegen die britische Besatzung und die zionistische Kolonialisierung und später ganz gegen Israel als Verkörperung der kolonialistischen Bewegung. Die Frage der Selbstorganisierung der einheimischen Bevölkerung wurde als sekundär angesehen. Die Konzentration auf den Kampf um die Staatsgewalt wurde getrieben von der anhaltenden Überzeugung, dass weitere militärische Anstrengungen die Befreiung herbeiführen könnten und dass sich die entstehende patriotische Regierung dann mit den internen Bedürfnissen der lokalen Gesellschaft befassen würde.
Auf lange Sicht, da sich der militärische Sieg als trügerisch erwies, beeinträchtigt die Schwäche der lokalen gesellschaftlichen Selbstorganisierung die Fähigkeit standzuhalten angesichts des konstanten Drucks und der Aushöhlung durch die Besatzungsmacht. Auf der anderen Seite ist es für die Palästinenser*innen, selbst wenn sie sich auf die gesellschaftliche Organisierung zu konzentrieren versuchen, äußerst schwer zu erreichen unter den Bedingungen militärischer Besetzung, da ihre Ökonomie von der hegemonialen israelischen kapitalistischen Wirtschaft unterworfen ist wie auch marginalisiert wird und jegliche politische oder gewerkschaftliche Organisierung unterdrückt werden kann.
Zukünftig mag demokratische grenzüberschreitende Massenorganisierung, wie sie Öcalan für die Vereinigung des kurdischen Volkes vorschlägt, auch der beste Weg sein, um die palästinensische Befreiungsbewegung wiederzubeleben, deren alte Institutionen zu staatsähnlichen Strukturen ohne wirkliche Souveränität geworden sind.
Im Hinblick auf die weitere Zukunft Palästinas nach der Niederlage des Zionismus und nach der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge stehen wir für einen einzigen demokratischen Staat in ganz Palästina. Wir lehnen die Vorstellung von einem »binationalen Staat« ab, der ein System der Doppelherrschaft verankert, das vielleicht Relikte des Zionismus verewigt. Allerdings kann eine Art kommunaler Demokratie ein praktikabler Weg sein, um der ethnischen und kulturellen Vielfalt der Bevölkerung Platz zu bieten.
Einige palästinensische Erfahrungen mit Volksdemokratie
Seit dem Streik und Aufstand von 1936–1939 praktizierten Palästinenser*innen Selbstorganisation und Selbstverwaltung inmitten eines offenen Konflikts mit mörderischen Feinden. Auf dem Höhepunkt der bewaffneten palästinensischen Revolution in Jordanien und im Libanon gab es in den Flüchtlingslagern neue Erfahrungen mit Organisierung und Volksdemokratie. Palästinenser*innen in den Flüchtlingslagern im Libanon können trotz aller dort erlittenen Rückschläge immer noch ein gewisses Maß an Selbstverwaltung genießen.
Die erste Intifada wurde hauptsächlich von lokalen Graswurzelorganisationen organisiert, dabei zielte ein wesentlicher Teil ihrer Agenda auf alle Aspekte der täglichen Herrschaft der Besatzung über das Leben der Bevölkerung ab. Eine Zeitlang schlossen die Besatzer*innen ganz einfach alle Schulen und die Volkskomitees der Intifada organisierten »Volksstudien«-Programme.
Ich möchte die in den 1948 besetzten Gebieten gemachten lokalen Erfahrungen genauer untersuchen, die international wenig Anerkennung finden, wo ich aber durch meine Beteiligung am Kampf in den letzten vierzig Jahren über persönliche Erfahrungen verfüge.
Arabische Palästinenser*innen in den 48er Gebieten waren die Überreste einer zerstörten Gesellschaft nach der Nakba 1948, als alle Städte in den besetzten Gebieten und mehr als 500 Dörfer ethnisch gesäubert und zerstört wurden. Nach der Nakba zählten sie weniger als 200 000, heute fast wieder anderthalb Millionen.
1976, nachdem eine ganze neue Generation herangewachsen war, organisierten sie sich zum ersten Mal, um einem Regierungsplan massenhafter Landenteignung entgegenzutreten. In vielen Dörfern organisierten die Leute lokale »Komitees zur Verteidigung des Bodens«. Am 30. März 1976, dem »Tag des Bodens«, gab es den ersten Generalstreik seit der Nakba. Polizei und Armee griffen die Dörfer an und töteten dabei sechs Menschen. Nach wie vor wird in der Geschichte des palästinensischen Volkes stolz der »Tag des Bodens« erinnert und jedes Jahr als nationaler Gedenktag begangen.
Seitdem ist das Konzept der »Volkskomitees« als Hauptorgan des massenhaften Kampfes Teil der lokalen Tradition in vielen arabischen Dörfern und Stadtteilen geworden. Normalerweise setzt sich das »Volkskomitee« zusammen aus Vertreter*innen aller politischen Parteien wie auch anderer örtlicher Institutionen und Freiwilliger.
Eine weitere lokale Tradition ist das »Protestzelt«, das errichtet wird, wenn der Kampf an einem bestimmten Ort eine ständige Mobilisierung erfordert. In vielen Fällen werden Protestzelte auf enteignungsgefährdeten Landflächen aufgestellt oder in der Nähe von Häusern, welche die Behörden planen zu zerstören. Manchmal wird das Protestzelt zum Zentrum des politischen und kulturellen Lebens für die Bevölkerung der jeweiligen Örtlichkeit.
Es gab zwei andersartige Erfahrungen mit lokaler Organisierung, die sich an den unmittelbaren Bedürfnissen der Bevölkerung orientierten. In den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, kurz nach der Nakba, war die Kommunistische Partei die einzige verbliebene aktive Massenorganisation innerhalb der palästinensischen arabischen Bevölkerung in den 48 besetzten Gebieten. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Restrukturierung der Gesellschaft auf politischer und kultureller Ebene nach dem Trauma der Nakba. Sie experimentierte auch mit anderen Organisationsformen, wie der Organisierung gemeinsamer Geschäfte und einiger Produktionskollektive. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die »Islamische Bewegung« die populärste politische Partei. Eine ihrer Parolen ist die von der »sich selbst erhaltenden Gesellschaft« und sie baut ein Wohltätigkeits- und Dienstleistungsnetzwerk auf, wo immer sie über größeren Einfluss verfügt. Doch beide Erfahrungen sind meist parteigebunden und versuchen nicht, die Bevölkerung in einem für alle offenen demokratischen Rahmen zu organisieren.
In unserer lokalen Erfahrung ist die verbreitete demokratische Organisation konzipiert und funktioniert als ein Kampfmittel, wird dabei aber nur selten als Organ der Selbstverwaltung gebraucht. Es gibt etliche Gründe dafür, im Wesentlichen die Zerstörung der alten ländlichen Ökonomie, die Marginalisierung der lokalen palästinensischen gegenüber der israelischen kapitalistischen Wirtschaft und lokale Klassenwidersprüche. Es mangelt aber auch an ernsthaftem Überlegen und Experimentieren mit lokaler Organisierung, die eine stärkere lokale Gesellschaft mit mehr Solidarität untereinander aufbauen könnte.
Demokratischer Konföderalismus und der Arabische Frühling
Als Öcalan das Konzept des demokratischen Konföderalismus erstmals vorstellte, geschah das im Kontext starker Nationalstaaten. Das neue Konzept konzentrierte sich auf die Verteidigung und Stärkung lokaler Gesellschaften. Es erlaubt lokale Organisierung, ohne notwendigerweise die staatlichen Strukturen anzugreifen.
Zur selben Zeit analysierte Öcalan aber auch die Schwächen der gesamten regionalen politischen Struktur und deren Unzulänglichkeit für die Bedürfnisse aller regionalen Nationen und Gemeinschaften. Seine umfassendere Vision war die demokratische Neuorientierung auf die Region als Ganzes.
Das Versagen der ganzen lokalen staatlichen Strukturen konnte nicht dramatischer und tragischer demonstriert werden als mit den jüngsten Entwicklungen in den arabischen Ländern, mit dem, was als »Arabischer Frühling« begonnen hatte, jetzt aber durch eine Welle konterrevolutionärer Unterdrückung charakterisiert wird.
Seit 2011 reagierten die lokalen Eliten, verschanzt im Innersten der Staatsapparate, mit einer Kombination aus staatlicher Repression und Anstiftung zur sektiererischen und ethnischen »Fitna« (ein spezielles arabisches Wort für gefährlichen Bürger*innenkrieg) auf die Konfrontation mit einer Welle von Massenkämpfen und den Forderungen nach demokratischem Wandel. Die Aushöhlung der gesellschaftlichen Fundamente durch diese Konflikte schuf auch die Bedingungen für das Erstarken von religiösem Extremismus und Gruppen, die mit dem Terrorisieren der Bevölkerung die Kontrolle zu erlangen suchen.
Es ist kein Wunder, dass die kurdische Bevölkerung mit ihrer langen Tradition der Selbstorganisation und Selbstverteidigung besser aufgestellt war, um diesen rauen neuen Realitäten zu begegnen. Das hat viel mit der Theorie und Praxis des demokratischen Konföderalismus zu tun.
Konfrontiert mit der Verwandlung der Staatsapparate in eine nackte Unterdrückungsmaschinerie engagieren sich jetzt viele Teile der Bevölkerung in den betroffenen arabischen Ländern heldenhaft in Experimenten der Selbstorganisation, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung. In Libyen und im Jemen verfügen verschiedene örtliche Milizen nun über mehr Macht als die staatlichen Armeen. Syrien und Irak sind zerrissen durch den Bürger*innenkrieg. In Ägypten führt der allmächtige Staatsapparat einen kompromisslosen Krieg gegen die lokale Gesellschaft, was symbolisiert wird durch die Verhängung der Todesstrafe gegen Hunderte von Demonstrant*innen in einem einzigen Prozess und durch die höchst unmenschliche Belagerung des palästinensischen Gazastreifens.
Die Lösung sollte in Form einer demokratischen Neuordnung der Gesellschaft erfolgen, in der Gestalt des demokratischen Konföderalismus oder irgendeinem ähnlichen Rahmen. Sie sollte auf dem Mut und der Organisierungsfähigkeit aufbauen, welche die Menschen in den Jahren des Kampfes erprobt und entwickelt haben. Aus der Not sollte sie eine Tugend machen. Aus der Konfrontation mit der Grausamkeit der Regime und des Extremismus sollte sie die neuen Normen schaffen für Solidarität und gegenseitigen Respekt zwischen allen Teilen der Gesellschaft, einschließlich aller unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Ethnien.
Die 23. Hüseyin-Çelebi-Literatur- und Gedichtveranstaltung
Die Veranstaltung wird 2015 der armenischen Gesellschaft gewidmet
Verband der Studierenden aus Kurdistan e. V. (YXK)
Auch in diesem Jahr organisiert der Verband der Studierenden aus Kurdistan e. V. (YXK) zum mittlerweile 23. Mal die Hüseyin-Çelebi-Literatur- und Gedichtveranstaltung. Für dieses Jahr begann die Sammlung der Werke am 15. Mai und endet am 31. August. Die Verleihung der Preise für die eingegangenen Werke findet am Tag der Veranstaltung, dem 17. Oktober, in Dortmund statt.
Gedenken an Hüseyin Çelebi
Der Genosse Hüseyin Çelebi ist im Jahr 1992 innerhalb der Reihen der kurdischen Freiheitsbewegung gefallen. Mit unserer Veranstaltung gedenken wir unseres Ehrenvorsitzenden Hüseyin Çelebi und aller GenossInnen, die im Kampf für eine freie Gesellschaft gefallen sind. Wir sehen es von großer Bedeutung, GenossInnen zu ehren, die in der Phase des Umbruchs in Kurdistan und im Mittleren Osten einen Kampf für die Freiheit der dortigen Gesellschaften geführt und ihr Leben dabei gelassen haben. Denn die Fortschritte, die wir heute erreicht haben, haben wir ihnen zu verdanken.
»Und überall da, wo wir Unrecht erfahren, werden wir Widerstand leisten«
Die Menschheitsgeschichte ist geprägt von Unterdrückung, Ausbeutung und Unrecht. Jedoch gab es gleichzeitig auch immer einen Kampf von Menschen, die entschlossen für die Freiheit gekämpft haben. Diese Menschen haben den Widerstand bis zum heutigen Tag weitergetragen.
Ihre Vorstellung von Freiheit ebnet den Weg für ein alternatives Gesellschaftsmodell. Die kurdische Freiheitsbewegung führt einen Kampf mit internationalistischer Perspektive, was sich auch bei den Arbeiten unseres Genossen Hüseyin Çelebi widergespiegelt hat.
Renaissance im Mittleren Osten!
Die kurdische Freiheitsbewegung strebt eine tiefgreifende Demokratisierung und eine Renaissance des Mittleren Ostens an. Es wird versucht mit einem neuen humanistischen Geist die alten Werte der Menschheit wieder blühen zu lassen, die zu zerstören versucht wird. Diese neue Lebendigkeit zeigt sich besonders in der Kunst, Kultur und in vielen anderen sozialen Bereichen. Die kurdische Gesellschaft hat eine herausragende Willensstärke und verteidigt sich in politisch-ethischer Hinsicht gegen die Einflüsse der kapitalistischen Moderne. In allen vier Teilen Kurdistans durchlebt sie gemeinsam mit anderen Gesellschaften eine kulturelle, soziale und politische Wiederauferstehung und führt einen Kampf um Freiheit. In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung, Rojavas zu gedenken. Rojava ist der Ausdruck für das gemeinsame, freie, faire und geschwisterliche Zusammenleben der kurdischen mit anderen Gesellschaften. Rojava darf nicht nur als Produkt des vierzigjährigen politischen Widerstands der kurdischen Freiheitsbewegung dargestellt werden. Es ist zugleich ein Beispiel und eine Antwort auf die Hoffnung der Gesellschaften des Mittleren Ostens auf ein friedliches, freies und würdevolles Leben.
Ein unvollendeter Roman
Der Prozess der Befreiung der kurdischen Gesellschaft und der in Kurdistan lebenden Völker ist ein noch nicht zu Ende geschriebener Roman über die Freiheit. Alleine das Leben und der Widerstand der gefallenen FreiheitskämpferInnen, die ihr Leben für ein freies Leben geopfert haben, sind ein Epos, eine Geschichte, ein Gedicht und ein Lied. Darum ist Mesopotamien ein Meer voller HeldInnen. Sofort fallen uns viele Namen ein, die wir nennen könnten, und gewiss fehlen dabei noch tausende Namen. Namen wie Ibrahim, Mahir, Deniz, Mazlum, Kemal, Hüseyin, Engin, Zilan, Apê Musa, Leyla Qasimlo, Sara, Rojbîn und Ronahî ...
Eine weitere Farbe: Armenisch
Die Hüseyin-Çelebi-Literatur- und Gedichtveranstaltung hat sich zu einer Plattform verwandelt, auf der Menschen ihre Gefühle, Gedanken und Ideen in verschiedenen Sprachen mit der Welt teilen und ihre künstlerischen Talente ausdrücken können.
In diesem Jahr bereichern wir uns an einer vergessenen Farbe, die in Kurdistan wie auch in der Türkei vor vielen Jahren noch stark präsent war: Armenisch. Es sind die armenischen Klagelieder und Gedichte, die uns vom Leid des armenischen Volkes erzählen. Der Genozid an den ArmenierInnen, AramäerInnen und anderen Völkern Mesopotamiens im Osmanischen Reich von 1915, welcher sich zum 100. Mal jährt, darf nicht in Vergessenheit geraten. Es ist die Aufgabe der Menschheit, sich die leidvollen Geschehnisse stets in Erinnerung zu halten und mit ihr abzurechnen, damit die kommenden Lieder und Gedichte von einer schöneren Zeit erzählen. In diesem Zusammenhang widmen wir in diesem Jahr die 23. Hüseyin-Çelebi-Literatur- und Gedichtveranstaltung stellvertretend für alle vom Genozid betroffenen Völker, Religionen und Kulturen der armenischen Gesellschaft.
Teilnahmebedingungen:
Zur Teilnahme müssen die Werke in den Sprachen Kurdisch (Kirmanckî, Kurmancî, Soranî), Armenisch, Deutsch oder Türkisch eingesendet werden.
- Die Werke dürfen zuvor nicht veröffentlicht worden sein.
- Alle Teilnehmenden dürfen mit maximal zwei Gedichten und einer Kurzgeschichte teilnehmen.
- Die Werke müssen auf weißem Papier leserlich geschrieben sein.
Die Teilnehmenden werden gebeten, ihre Werke mit einem kurzen Lebenslauf sowie einer Kontaktadresse aufzuschreiben und bis spätestens zum 31. Juli 2015 an die unten angegebene Postadresse, oder per E-Mail, einzusenden.
Teilnehmende JurorInnen:
Kategorie Kurmancî Gedicht:
Fatma Savci, Rênas Jiyan, Medeni Ferho
Kategorie Kurmancî Kurzgeschichte:
Dilawer Zeraq, Sîdar Jîr, Mazhar Roj
Kategorie Kirmanckî Gedicht und Kurzgeschichte:
Deniz Gündüz, Haydar Diljen, Ihsan Espar
Kategorie Soranî Gedicht und Kurzgeschichte:
Xeyrî Sengalî, Mansour Teyfori
Kategorie Armenisch Gedicht und Kurzgeschichte:
Dr. Vazrig Bazil, Aris Nalci Pakrat Estukyan
Kategorie Türkisch Gedicht:
Hicri Izgören, Sükrü Erbas, Sezai Sarioğlu
Kategorie Türkisch Kurzgeschichte:
Günay Aslan , Güler Yildiz, İrfan Aktan
Kategorie Deutsch Gedicht und Kurzgeschichte:
Fatima Moumouni und StudentenInnen der YXK
Die Werke können per Post oder E-Mail an die folgenden Adressen eingesendet werden:
Literaturveranstaltung
Postfach 10 03 10
44003 Dortmund
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
weitere Informationen: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Homepage: http://hueseyincelebi.webs.com
https://www.facebook.com/HuseyinCelebiLiteraturveranstaltung
Erklärung des Exekutivrats der KCK zu den Parlamentswahlen in der Türkei
Die Wahlergebnisse müssen richtig interpretiert werden!
ANF, 09.06.2015
Der Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) betont den großartigen Sieg der HDP, die Parlamentswahl am 7. Juni sei ein historisches Ereignis gewesen, das zugleich als Sieg des Zusammenkommens der Völker der Türkei und Kurdistans zu werten sei:
»Der Erfolg der HDP ist die Konkretisierung von Öcalans Projekt der demokratischen Nation als HDP und HDK. Dieser Sieg ist ebenfalls dem Widerstand in allen vier Teilen Kurdistans, insbesondere dem in Kobanê und Şengal (Sindschar), zuzuschreiben.
Den Sieg verdanken wir zuerst den Märtyrern in diesem Wahlkampf, die sich in Agirî (Ağrı) mit ihrem Körper heldenhaft dem Komplott entgegengestellt haben. Der in Çewlîg (Bingöl) getötete Hamdullah Öğe und die im Massaker von Amed (Diyarbakır) ums Leben Gekommenen sind die Hauptarchitekten des Erfolgs.
Die Menschen der Türkei, die trotz Bombenangriffen und Brandstiftung gegen Wahlbüros oder Anschlägen auf Wahlkundgebungen unerschrocken blieben, entwickelten den Wahlsieg. Aufgrund dessen gedenken wir der gefallenen Märtyrer, schulden ihnen Dank und Respekt und gratulieren allen Menschen.«
Wir gratulieren allen linken Organisationen und demokratischen Kräften
Die KCK betont, dass der Zusammenschluss zahlreicher Sozialisten, linker Gruppen und demokratischer Kräfte mit der kurdischen Freiheitsbewegung eine wichtige Rolle gespielt habe: »Der Gewinn dieses Bündnisses ist ein Erfolg für die demokratische Türkei und das freie Kurdistan und diese Linie muss von nun an befolgt werden. Dabei grüßen wir MLKP, EMEP, SDP, Partizan, MKP, Devrimci Karargah, Yeşiller ve Sol Karargah, ÖDP, Halk Evleri und alle anderen an der Wahlarbeit beteiligten demokratischen und linken Kräfte und gratulieren ihnen ebenfalls.«
Nationale Einheit wurde gestärkt
Für den Wahlerfolg hat auch das Wahlbündnis zwischen der DDKD und des Azadi-Umfelds eine wichtige Rolle gespielt, die mit ihrer Unterstützung für Nubahar und Zehra eine Haltung eingenommen haben, welche die nationale Einheit gestärkt hat. Ohne Zweifel haben auch die südkurdischen politischen Kräfte, insbesondere die YNK und die Goran-Bewegung mit ihrer Unterstützung für die Wahlkampagne der HDP eine Rolle für den Wahlerfolg gespielt und sind ihrer Verantwortung für die Stärkung der nationalen Einheit gerecht geworden.
Alle religiösen und ethnischen Gemeinschaften haben die Tür zu einer demokratischen Türkei weit aufgestoßen
Auch führt der Exekutivrat an, dass der HDP-Sieg und die Stärke der Gesellschaft bei dieser Wahl den gesellschaftlichen Gruppen und verschiedenen Religions- und Volksgruppen zu verdanken sei, die mit ihrer Haltung und realisierten Schaffung einer demokratischen Bevölkerung den Schritt zu einer demokratischen Türkei getan hätten.
Eine wesentliche Rolle bei der Schaffung ihres eigenen freien und demokratischen Lebens hätten die Religionsgemeinschaften wie die Aleviten, Êzîden, Assyrer oder Armenier gespielt, die zugleich Teil des guten HDP-Ergebnisses geworden seien. Außerdem hätten diese Religions- und Volksgruppen ihren Ruf nach einer Akzeptanz ihrer Identität zum Ausdruck gebracht und die Verantwortung für eine sich künftig demokratisch und frei entwickelnde Türkei übernommen.
Die Heldinnen dieser Wahlanstrengungen sind die Frauen
Die Erklärung des Exekutivrats unterstreicht die Rolle der »heldenhaften, unermüdlichen« Frau, die durch ihre gute Organisation, hohen Arbeitseinsatz und Leidenschaft für die Freiheit zum stärksten Motor der demokratischen Entwicklung und der größten Teilhaberin des Wahlerfolgs geworden sei und zugleich mit der Frauenquote von 40 % der Abgeordneten die freiheitliche Seele der demokratischen Revolution bilde.
Das kurdische Volk ist der Motor der demokratischen Revolution
Laut KCK ist das kurdische Volk Hauptakteur bei der Realisierung einer demokratischen Revolution in der Türkei: »Die Lehre aus diesem Wahlergebnis ist der Sieg über die institutionalisierte, in Kurdistan autoritär und hegemonial agierende AKP.«
Die Haltung der kurdischen Bevölkerung habe gezeigt, dass Abdullah Öcalan, die kurdische Freiheitsbewegung und die HDP nicht nur ein Teil, sondern die eigentlichen Ansprechpartner im Friedensprozess seien, womit auch die Fragen nach Beteiligten, Vertretern und Ablauf des Prozesses beantwortet würden.
Die KCK gratuliert der kurdischen Bevölkerung für ihre Hauptrolle, die sie aufgrund ihres geschlossenen, einheitlichen Antretens bei der Wahl für den Sieg gespielt habe, und ihrem Wunsch nach einer demokratischen Türkei und einem freien Kurdistan.
Der Wahlsieg ist der Ideologie und Politik Abdullah Öcalans zu verdanken
Der Wahlerfolg sei der Ideologie und Politik Abdullah Öcalans zu verdanken, der trotz Isolation eine große Rolle spiele: »Es hat sich gezeigt, dass der Einfluss Öcalans unabhängig von seiner Lage und seinen Bedingungen nicht verhindert werden kann. Diese Wahl beweist seinen enormen Einfluss auf Frieden, Freiheit und Demokratie in der Türkei und zugleich die untrennbare Verbindung mit seiner Freiheit. In dieser Hinsicht ist es für die Lösung der kurdischen Frage und die der Aleviten von Bedeutung, dass die Isolation Öcalans aufgehoben und ihm der Weg zur Freiheit geebnet wird.«
Die Krönung wird die Demokratisierung der Türkei
Weiter verwies die KCK darauf: »Der Erfolg der HDP ist ein Sieg der demokratischen Kräfte. Aus diesem Grund ist die Realisierung der Demokratie Aufgabe der HDP, welche die demokratische Revolution durchführen und mit einem demokratischen Programm alle demokratischen Kräfte in Bewegung setzen wird. Die demokratisch-revolutionäre Stimmung in der Türkei muss durch das Erweitern des demokratischen Bündnisses mit der Demokratisierung gekrönt werden.
Mit dem Wahlerfolg der HDP hat das mit der Verfassung des 12. September entstandene politische System eine Niederlage einstecken müssen. Die Türkei kann mit dieser Verfassung nicht weiterregiert werden und braucht dementsprechend eine neue demokratische und freiheitliche Verfassung.«
Die aktuell verfassunggebende Versammlung hat das Potenzial, das Parlament zu stellen
Trotz aktuell unfähigem Parlament seien alle Ethnien, Religionen und gesellschaftlichen Gruppen in ihm vertreten, sagt die KCK und spricht ihm den notwendigen Charakter zu, die erforderliche demokratische Verfassung zu entwickeln. Diese verfassunggebende Versammlung habe das Potenzial, langfristig die Türkei zu demokratisieren, den Frieden herbeizuführen und alle Probleme weitestgehend zu lösen.
Es ist die Niederlage der AKP und der faschistischen Islamisten
Bei dieser Wahl hätten abgesehen von der AKP auch der IS und mit ihm ideologisch verbundene Parteien wie z. B. Al-Nusra eine Niederlage hinnehmen müssen. Mit Beginn der Demokratisierung in der Türkei würden die faschistischen Organisationen im Mittleren Osten ebenfalls ausgeschaltet und die Demokratie verbreitet. Weiter heißt es, die ethnisch-religiös geprägten Auseinandersetzungen im Mittleren und Nahen Osten würden beendet und der Weg für das Miteinander der verschiedenen Gesellschaften bereitet werden.
Die AKP kann die Wahlergebnisse nicht interpretieren
Mit ihrer Äußerung »Die HDP kann lediglich einen Film über den Friedensprozess drehen« hat die AKP laut Exekutivrat bewiesen, dass sie die Ergebnisse in keiner Weise richtig interpretieren könne. Die Gruppen, die nicht hinter dem von Abdullah Öcalan und der Freiheitsbewegung begonnenen Friedensprozess ständen, hätten gezeigt, dass sie sich aus anderen Gründen am Prozess beteiligten. Dagegen habe die kurdische Bevölkerung mit ihrer Haltung nochmals unterstrichen, dass sie hinter dem Friedensprozess stehe und dieser unausweichlich sei, wogegen die Gruppen, die nicht mehr an einen positiven Ausgang glaubten, ihr wahres Gesicht gezeigt hätten. Die AKP ermahnend betont die KCK, dass der Friedensprozess noch zwingender sei als zuvor und die Hinhaltetaktik der AKP ins Leere gehe, weil die Lösung der kurdischen Frage näher gerückt sei.
Die Ergebnisse müssen richtig interpretiert und die erforderlichen Schritte eingeleitet werden
Zum Abschluss erklärt der KCK-Exekutivrat, dass Nordkurdistan nun eine nationale Einheit gebildet habe, die der türkischen Regierung und dem Staat den Ansprechpartner und Verantwortlichen für die kurdische Frage gezeigt habe. Die HDP verkörpere mit ihrem Verständnis von einer demokratischen Nation eine große Möglichkeit zur Lösung der kurdischen Frage. Aus diesem Grund wird an alle politischen Parteien appelliert, eine korrekte Analyse vorzunehmen und die notwendigen Schritte einzuleiten.
Darüber hinaus werden alle demokratischen Kräfte dazu aufgefordert, die anfallende Verantwortung zu übernehmen, neu entstandene Bündnisse zu stärken und den jahrzehntelangen Widerstand mit der Demokratisierung zu krönen.
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