Aktuelle Bewertung

Die Entwicklungen in Rojava, Südkurdistan und Nordkurdistan

Songül Karabulut und Deniz Irmak

Die seit drei Jahren andauernden und sich verstärkenden Kämpfe in Irak und Syrien weiten sich langsam in Richtung Türkei und Nordkurdistan aus. Diese Ausweitung steht unmittelbar mit der Außenpolitik des türkischen Staates in der Region in Zusammenhang.

Die AKP-Regierung und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sind, um ihre politische Macht aufrechtzuerhalten, dem Irrtum verfallen, das größte Problem des Mittleren Ostens, die kurdische Frage, erledigen zu können, indem sie mit taktischer Annäherung und Täuschung Zeit gewinnen, um es zu beseitigen.680x680nc ank 10 10 15 baris miting patlama67

So wie ihre Vorgänger aus dem Angriff auf die Türme des World Trade Centers 2001 ein internationales Bündnis gegen die PKK und deren Liquidierung herauszuschlagen versuchten, so versucht die AKP, aus den 2010 begonnenen Aufständen der arabischen Völker, dem »arabischen Frühling«, im Mittleren Osten erneut eine antikurdische Atmosphäre und Feindseligkeit zu schaffen mit dem Ziel, alle kurdischen Errungenschaften zu zerstören.

Erdoğan und die AKP-Regierung agieren seit dem ersten Tag ihrer Machtübernahme in der Türkei mit dem Streben nach einer Konsolidierung ihrer Hegemonie und ihrer regionalen Ausbreitung. Ironischerweise ist ihr Motiv zur Durchsetzung ihres Zieles dasselbe, mit dem sie an die Macht gelangten, nämlich die Lösung der kurdischen Frage. Dabei hatten die vorangegangenen Regierungen genau deshalb ihre Macht verloren, weil sie dieses grundlegende Problem der Türkei und das ursächliche Demokratisierungsproblem nicht hatten lösen können und der Türkei große finanzielle und immaterielle Verluste bereitet hatten. Die Gesellschaft in der Türkei brachte Erdoğan und die AKP deshalb an die Macht, weil sie deren Versprechungen zur Lösung dieser Probleme in der Hoffnung auf eine demokratische Lösung geglaubt hatten. Erdoğan und die AKP-Regierung setzten in den ersten Jahren nach ihrer Machtübernahme darauf, durch diese Enttabuisierung der Kernprobleme der Türkei Unterstützung sowohl im Inland als auch aus dem westlichen Ausland (EU und USA) zu erhalten. So waren zwar die Probleme beim Namen benannt und dadurch ihre Verleugnung durchbrochen, aber die lang ersehnte Lösung dieser Probleme, allen voran der kurdischen Frage, der Frage der Aleviten, der Armenier, der Zypernfrage, der Demokratisierungs- und Freiheitsfrage u. v. a., blieb aus. Als die Gesellschaft dann aber verstärkt auf die Lösung ihrer Probleme drängte, trat für die AKP das Dilemma auf, dass das Demokratiespiel und Hegemonialbestrebungen nicht mehr parallel aufrechtzuerhalten waren. Die AKP war am Scheideweg angelangt, entweder musste sie ihr Demokratiespiel ernst werden lassen und entsprechende Schritte einleiten oder voll auf Hegemonialbestrebungen setzen. Sie entschied sich für Letzteres.

Die kurdische Frage ist jedoch das ursächliche Problem, das sowohl die Demokratisierung als auch die Hegemonie Erdoğans und der AKP verhindert. Ohne die Lösung der kurdischen Frage ist in der Türkei weder eine Demokratisierung möglich noch die Entfaltung einer Hegemonie ohne die Auslöschung der kurdischen Gesellschaft und ihrer Befreiungsbewegung. Daher begannen Erdoğan und die AKP-Regierung nach der Machtübernahme als einzige Kraft damit, das kurdische Volk und seine Befreiungsbewegung mit aller Kraft zu unterwerfen, um im Gegenzug ihre Hegemonie auszubauen. Und genau deshalb werden die gesellschaftlichen Umbrüche in Syrien und Irak, der »arabische Frühling«, für das Ziel Erdoğans und der AKP als eine nicht zu verpassende Möglichkeit bewertet. Die AKP nutzt die konjunkturelle Situation, die aus der Feindschaft zwischen den USA und Iran und Syrien entstanden ist, um mithilfe der Sunniten das Regime in Syrien zu stürzen und um in Irak das gestürzte sunnitische Regime in Bagdad erneut an die Macht zu bringen.
Der Mentalität Erdoğans und der AKP entsprechend passen Ziel und Methode herrlich zusammen. Die Leiden der islamischen Welt und die Feindseligkeit des Westens ausnutzend wollten sie ihren Traum von Hegemonie im Mittleren Osten wenigstens in der sunnitisch-islamischen Welt realisieren. Für dieses Ziel bedarf es jedoch in Syrien und Irak eines Regimewechsels. In beiden Staaten ist die Existenz der kurdischen Bewegung und der Kurden ein ursächlicher Hinderungsgrund. Dafür setzten sie auf den staatlichen Islam und den arabischen Nationalismus. Daraus folgend versuchten sie, das kurdische Volk in Rojava und in Südkurdistan mit unterschiedlichen Mitteln unter Druck zu setzen. Während in Rojava seit dem Beginn des Aufstandes in Syrien mit allen Mitteln die Kurden gegen die sunnitischen Araber aufgehetzt werden sollen, wurde auch in Irak auf Polarisierung gesetzt und tatkräftig dazu beigetragen.

Zu diesem Zwecke sollten die seit 2013 anhaltenden Bemühungen des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan für eine demokratische Lösung, die sich in Form von Friedensgesprächen ausdrückten, für ihr banales Kalkül instrumentalisiert werden. Aber weder die Welt- noch die Regionalpolitik funktioniert so schlicht, und auch der demokratische Lösungsprozess Öcalans ist nicht so leicht instrumentalisierbar.

Die Befreiungsbewegung und das kurdische Volk in Rojava analysierten die globale und regionale Situation um den »arabischen Frühling« herum sehr objektiv und realisierten dementsprechend ihre Organisierung sowie Institutionalisierung in Rojava. Die Bevölkerung dort hat die Strategie der demokratischen Selbstverwaltung innerhalb eines demokratischen Syrien gewählt. Das brachte ihr wichtige Positionen und Errungenschaften ein.

Dass sich die Revolution in Rojava trotz der simplen Rechnung weiter entwickelt hat, zwang AKP und Erdoğan, die sich ins Zentrum der globalen und regionalen Reaktion stellen, zu einer neuen List: Die Türkei hetzte die Banden des Islamischen Staates (IS) auf die Menschen. Şengal (Sindschar) und Kobanê sind noch sehr frisch in Erinnerung. Aber als sich die Kurden als einzige Kraft in der Region gegen die Brutalität und die Massaker des IS gegen Êzîden, Christen und Aleviten stellten, gewannen sie auch an internationaler Legitimation. Die Hegemonialpolitik der AKP richtet sich nicht allein gegen die PKK und die Kurden, sondern gegen die Gesellschaft allgemein, sodass auch andere Völker in der Region auf die AKP zu reagieren begonnen haben. Die arabischen und andere Volksgruppen in der Region haben erkannt, dass die AKP für das vergossene Blut verantwortlich ist. Und die internationale Öffentlichkeit und unterschiedliche globale Kräfte haben ebenfalls begriffen, dass diese simple, aber eben auch gewagte Hegemoniepolitik, die den IS stärkte, für sie zu einer Gefahr geworden ist.

Trotz massiver Intervention konnten die Türkei und der IS nicht verhindern, dass Girê Spî (Tall Abyad) Mitte Juni von YPG und YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) befreit und die Kantone Cizîre und Kobanê verbunden wurden. Die Wiederaufbauarbeit hat trotz Embargo begonnen (der Grenzübertritt nach Rojava ist weiterhin beträchtlich erschwert). Nun haben wir eine neue Situation in Syrien. Auch Russland ist dort seit Ende September militärisch aktiv. Während es das Regime militärisch zu stärken versucht und dafür alle Kräfte angreift, die das Regime bedrohen, haben die USA in erster Linie ein Problem mit dem IS, operieren zudem gegen das Regime und sind auf einen Regimewechsel aus. [Mehr über die Politik Russlands in der Region auf S. 37] Beide Global Player erklären die Kurden zur wichtigsten Kraft im Kampf gegen den IS. Diese hingegen schlagen sich nicht auf die eine oder andere Seite. Sie versuchen vielmehr, einen eigenen Weg zu beschreiten. Zudem haben sich Militäreinheiten unterschiedlicher kurdischer, arabischer und assyrischer Organisationen unter dem Namen »Einheiten Demokratisches Syrien« zusammengeschlossen. (s. Kasten I) KastenIDas ist eine äußerst wichtige Entwicklung in Richtung eines demokratischen Syrien. Seit Längerem wird spekuliert, wann die Selbstverteidigungseinheiten in Rojava eine militärische Offensive in Kaniya Dil/Cerablus (Dscharabulus) und Azaz vorbereiten. Das wiederum würde die Befreiung der Gebiete zwischen Kobanê und Afrîn bedeuten und die Verbindung aller drei Rojava-Kantone. Damit hätten die Völker in Rojava die Gefahr durch den IS minimiert, weil die gesamte Grenze zur Türkei von Einheiten der Rojava-Verteidigung kontrolliert werden könnte. Zudem gab es folgende Entwicklung: Die USA vollziehen im Kampf gegen die Terrormiliz IS in Syrien einen Strategiewechsel, das 500 Millionen Dollar teure Programm für Training und Ausbildung gemäßigter syrischer Rebellen, an dem auch die Türkei beteiligt war, wird ausgesetzt. Stattdessen unterstützt Washington nun vor Ort Einheiten, die gegen den IS kämpfen, direkt mit Waffen, Ausrüstung und auch mit Luftschlägen. Ministerpräsident Davutoğlu ließ verlautbaren, dass sie das als einen Angriff auf sich selbst betrachteten. All diese Entwicklungen zeigen klar, wie die Politik der AKP kläglich gescheitert ist.

Die AKP und Erdoğan erwarteten auch im Inland schwere Zeiten. Die Hegemonialpolitik der AKP führte in der Türkei zu zunehmend autokratischen und diktatorischen Zügen. Die Gesellschaft wurde in all ihrer Vielfalt staatlicher Repression unterworfen. Mit jedem Tag wurde das Ziel der AKP auch im Inland entlarvt, und der Wolf im Schafspelz trat immer mehr ans Tageslicht. Die bevorstehenden Wahlen am 7. Juni boten der Gesellschaft die Möglichkeit, sich dem entgegenzustellen. Nun zeigte sich, dass sich der demokratische Lösungsprozess nicht so leicht von Erdoğan und seiner AKP ausschlachten ließ. Der ging es ausschließlich darum, die PKK ihre bewaffneten Guerillakräfte außerhalb der türkischen Grenzen schaffen zu lassen, um sie in Syrien und Irak (dahin sollten sie verlagert werden) von der Hand fanatischer islamischer arabischer Nationalisten wie dem IS vernichten zu lassen, ohne eigene Verluste hinnehmen zu müssen. Das verstand Erdoğan unter Lösungsprozess. Um ihren Plan erfolgreich beenden zu können, vermied die AKP bewusst offizielle Verhandlungen, um der Befreiungsbewegung keine Legitimation zu verschaffen, und sprach sich gegen die Forderung nach der Beteiligung einer dritten Partei in dem Prozess aus.

Öcalan hatte jedoch die Gesellschaft der Türkei als Dialogpartnerin im Lösungsprozess vorgesehen und, indem das Problem auf die Tagesordnung gesetzt wurde, Möglichkeiten geschaffen, diese Frage und die Demokratisierungsprobleme zu lösen. Auf seine Initiative hin entstand die HDP, die Demokratische Partei der Völker, die alle sozialen Gruppen innerhalb der Türkei repräsentiert und somit Vertreterin für alle Probleme in der Türkei ist, als Produkt der Verhandlungspartnerschaft der Gesellschaft. Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni in der Türkei und in Nordkurdistan hat jeder das geerntet, was er gesät hatte. Obwohl die AKP und Erdoğan alle Möglichkeiten genutzt haben, die ihnen ihre Herrschaft bot, hat ihnen die Gesellschaft gezeigt, dass es nichts fruchtet, Hegemonie, Autokratie und Krieg zu säen, und sie in ihrer Macht beschränkt. Und dieselbe Gesellschaft hat die HDP, die mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten die fruchtbaren Samen der Demokratie, des Friedens und der Geschwisterlichkeit im Land aussät, sicher ins Parlament gebracht. Aus diesem Blickwinkel markiert die Wahl vom 7. Juni den Beginn einer neuen Phase in der Türkei.

Das Volk hat durch die Entmachtung der AKP »Nein zu Hegemonie und Autokratie« gewählt und mit der Stärkung der HDP seine große Unterstützung für die Demokratisierung und die demokratische Lösung der kurdischen Frage gezeigt. Diese Wahl bedeutet zudem den Bankrott der Staatsdoktrin »ein Volk, eine Flagge, eine Sprache«. Die ganzen in der Geschichte der Republik bisher verleugneten konfessionellen, kulturellen sowie sozial benachteiligten Gruppen sind unter dem Dach der HDP ins Parlament eingezogen.

Der Kampf, den das kurdische Volk und seine Freiheitsbewegung außerhalb der türkischen Grenzen führen, hat nicht nur die AKP und Erdoğan mit ihren Fantasien von der Führerschaft in der sunnitisch-islamischen Welt auflaufen lassen. Der Krieg, den diese in Rojava und Südkurdistan führen, hat, wie die Wahl vom 7. Juni verdeutlicht, auch dem Verlust ihrer politischen Herrschaft den Weg geebnet. Der Krieg, den Erdoğan derzeit in der Türkei und in Nordkurdistan gegen das kurdische Volk, die Befreiungsbewegung und die demokratischen Kräfte vom Zaun gebrochen hat, ist der Krieg um die erneute Etablierung der politischen Herrschaft.

Die Bombenanschläge in Amed, Pirsûs und Ankara: Sind die IS-Banden die neuen Todesschwadronen der Türkei?

Zwei Tage vor den Parlamentswahlen explodierte in Amed (Diyarbakır) auf einer Wahlkundgebung der HDP eine Bombe. Der Täter wurde als türkischer Staatsbürger und IS-Mitglied identifiziert. Nach den Wahlen ereignete sich am 20. Juli ein weiterer Bombenanschlag. Ein Selbstmordattentäter riss auf einem Jugendcamp in Pirsûs (Suruç) 32 junge Sozialisten mit in den Tod. Auch er wurde als IS-Mitglied öffentlich gemacht. Dieser Anschlag wurde von der Türkei zum Anlass genommen für den lange geforderten Beitritt zur internationalen Anti-IS-Koalition. Die Welt jubelte regelrecht, sie sei endlich zur Besinnung gekommen. Aber statt ernsthafte Militärschläge gegen den IS zu fliegen, bombardierte das Militär PKK-Stellungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der türkischen Staatsgrenzen; seit dem 24. Juli halten die schweren Angriffe ununterbrochen an. Mit diesem abgekarteten Spiel gleichzeitiger, aber sehr umfangreicher Angriffe gegen die PKK war geplant, der internationalen Öffentlichkeit das banale und niederträchtige Trugbild der Gleichwertigkeit von IS und kurdischer Freiheitsbewegung vorzugaukeln. Und durch dasselbe Spiel sollten die Angriffe und das politische Massaker gegen unser Volk und seine Befreiungsbewegung, die auf eine demokratische Lösung drängen, kaschiert und legitimiert werden. Der türkische Staat versucht mit diesen Scheinangriffen zudem, seine seit langer Zeit bestehenden und auf internationale Kritik stoßenden schmutzigen Beziehungen mit dem IS zu vertuschen. Die AKP und Erdoğan spielen dieses abgekartete Spiel mit ihm, obwohl sie ihn vor den Augen der Weltöffentlichkeit unterstützen.

Die USA haben wie erwartet pragmatisch darauf reagiert und als Gegenleistung für die Zustimmung zu den türkischen Angriffen auf die PKK die Öffnung der NATO-Air-Base Incirlik und anderer Militärstützpunkte für die internationale Anti-IS-Koalition erreicht. Und in der Syrienpolitik haben AKP und Erdoğan im Gegenzug zu ihrer Verpflichtung der Gesellschaft ein »Bild der Allianz« geliefert, das sie lange hatten entbehren müssen und dringend nötig hatten. Denn die im Kampf gegen den IS entstandenen Beziehungen der USA zu Rojava wurden in staatlichen Kreisen mit Argwohn betrachtet. Hinzu kommt, dass die USA grünes Licht gegeben hatten für die Angriffe auf die Befreiungsbewegung, um deren Aufschwung im Mittleren Osten zu bremsen. Einerseits sollte der türkische Staat also schrittweise in die Anti-IS-Koalition geholt und andererseits ein durch ihre aktive Rolle in der Region bestimmter zu großer Auftrieb für die Befreiungsbewegung verhindert werden.

Nach Pirsûs wurden dann schließlich am 10. Oktober bei einer Friedenskundgebung im Herzen von Ankara vor dem Hauptbahnhof zwei Selbstmordattentate verübt mit mehr als hundert Toten und Hunderten Verletzten. Auch hier waren es zwei IS-Mitglieder, die den Behörden zudem bekannt waren. (siehe Kasten II) KastenIIAlle drei Bombenanschläge begründen eine sehr brisante These: Setzt die Türkei den IS auch gegen die Opposition im eigenen Land ein? Ist der IS in der Türkei die neue Todesschwadron? Versucht die AKP so die Opposition zu bekämpfen, ohne selbst dafür zur Verantwortung gezogen zu werden?

Wie versuchen Kurden und demokratische Kräfte die AKP zurückzudrängen?

Das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte arbeiten auf der einen Seite daran, die HDP, die eine Verhandlungspartnerin für die Probleme und den Willen zur Lösung darstellt, weiter zu stärken, und auf der anderen Seite am Aufbau ihrer Demokratie in den befreiten Gebieten. Dementsprechend sind die an zahlreichen Orten in Nordkurdistan und der Türkei gebildeten Volksräte und die deklarierte demokratische Autonomie bzw. kommunale Demokratie zu betrachten. Die Reaktion der Bevölkerung auf die Errichtung eines autoritären und faschistischen Polizei- und Geheimdienststaates durch die AKP und Erdoğan, die Selbstverwaltung auszurufen, ist daher von größter Bedeutung. Es geht nicht um eine Abspaltung, sondern vielmehr darum, zwischen der Bevölkerung und dem immer autoritäreren, die Gesellschaften strangulierenden Staat eine Distanz herzustellen. Auf diese Weise soll er zu Sensibilität gegenüber der Demokratie und Respekt vor ihr gedrängt werden. Jeder Staat und jede Führung, denen nicht demokratische Grenzen gesetzt werden, neigen zur Diktatur. Denn ein Staat ohne Begrenzung wird in Ausbeutung, Unterdrückung und Repression enden. Demokratische Verfassungen und entsprechende exekutive Administrationen sind deshalb wertvoll, weil sie den Staat in bestimmten Grenzen halten und der Gesellschaft die Möglichkeit zum freien Handeln bieten. In Staaten ohne demokratische oder mit suspendierter Verfassung oder dort, wo den Völkern die demokratischen Wege zu einer neuen und adäquaten Verfassung versperrt werden, sind die Proklamation einer eigenen gesellschaftlichen Demokratie und die Schaffung einer Distanz und Abgrenzung zum Staat legitim. Andernfalls wäre die Gesellschaft der unbegrenzten Ausbeutung und Unterdrückung durch ihn ausgesetzt. Denn genau das bedeutet die Realität in Kurdistan. Erdoğan und der AKP-Staat drängen sich ungehindert der Gesellschaft auf, zerstören die Öffentlichkeit unter dem Deckmantel der öffentlichen Sicherheit, saugen die Gesellschaft tagtäglich aus und beuten ihre Reichtümer aus. Das Volk demonstriert diesen Angriffen gegenüber seinen Willen zum Schutz seiner Stadtteile, Orte und Dörfer. Durch das Aussperren des Staates aus diesen Orten weist es ihn zurück in die Grenzen der Demokratie. Wenn er diesem Willen des Volkes Respekt bezeugt und zwischen beiden eine neue und demokratische Verfassung beschlossen wird, dann entsprechend den Bedürfnissen der Gesellschaft in der Türkei. Von da an wird sich der Staat in seine verfassungsrechtlichen Grenzen zurückziehen und die Gesellschaft wird ihr demokratisches Leben innerhalb der anerkannten Freiräume organisieren. Ansonsten ist die Gesellschaft auf der Grundlage der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung dazu gezwungen, dem Staat Widerstand zu leisten. In dieser Situation wäre er gezwungen, sich mit der nackten Gewalt seines Militär- und Polizeiapparats der Gesellschaft entgegenzustellen, würde dann aber als Besatzungs- und Kolonialmacht seine Legitimation verlieren.

Ein Staat trachtet die Gesellschaft zu beherrschen

Das Faktum der Selbstverwaltung darf nicht nur für die Kurden als Realität verstanden, sondern muss als Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft im Allgemeinen betrachtet werden. Staat und Gesellschaft stehen naturgemäß stets im Kampf miteinander. Denn ein Staat trachtet die Gesellschaft zu beherrschen und zum Objekt seiner Autokratie zu machen, während die Gesellschaft wiederum ihre Freiheit, Gleichberechtigung und Vielfalt zu schützen versucht. Oft versteckt sich der Staat in seiner Auseinandersetzung mit der Gesellschaft hinter dem Deckmantel einer ethnischen, religiösen oder konfessionellen Identität, um seine charakteristische Realität zu vertuschen und Gesellschaften gegeneinander aufzuwiegeln. In Wirklichkeit aber stehen an der einen Front die Macht und Autokratie (der Staat) und auf der anderen Seite die kulturelle Vielfalt, Gleichberechtigung und Freiheit (Demokratie). Aus diesem Blickwinkel bedeutet es, dass dort, wo eine Gesellschaft ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen und Probleme lösen kann, ein entsprechend demokratisches Regime herrscht. Durch eine regionale Demokratie oder Selbstverwaltung wird die Einmischung des Staates in gesellschaftliche Angelegenheiten auf ein Minimum reduziert und folglich die Errichtung seiner Autokratie über das Volk verhindert und das Regime demokratisiert. Eine demokratische Verfassung ist das Zeugnis einer übereinstimmenden Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Daher ist regionale Demokratie oder Selbstverwaltung nicht nur ein Bedürfnis der Kurden, sondern aller Gesellschaften, die mit ihren eigenen Farben, Traditionen, Kulturen, Glaubensrichtungen, Ansichten und Idealen leben wollen.

Aus der Entwicklung der AKP sollten auch manche Parteien in Südkurdistan Lehren ziehen. Die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) fällt seit Längerem mit ihrer Pro-AKP-Haltung auf. Das geht sogar so weit, dass sie bei den Wahlen in der Türkei statt der kurdischen Parteien die AKP unterstützt und für sie wirbt. Bekanntlich versucht die Türkei Südkurdistan über die wirtschaftliche Karte zu kontrollieren. Die Autonome Region Kurdistan (KRG) ist gezwungen, ihr Erdöl über die Türkei zu verkaufen, weil als Alternative nur der Weg über den Iran bliebe. Damit die PDK beim Ölhandel die Kontrolle behält, wird der Weg über die Türkei bevorzugt. Diese versucht leider auch mit gewissem Erfolg, dem Verhältnis zwischen KRG und irakischer Zentralregierung sowie den innerkurdischen Beziehungen zu schaden.

Seit Längerem bestehen in Südkurdistan neben wirtschaftlichen auch ernsthafte Demokratieprobleme. Präsident Barzanî weigert sich, seine Machtposition zugunsten demokratischer Institutionen aufzugeben. Seit Jahren kann er nicht abgelöst werden, obwohl es die Verfassung vorsieht. Die Situation spitzt sich mit jedem Tag zu. Seit Monaten wird kein Lohn gezahlt, die Protestkundgebungen werden von PDK-Kräften angegriffen. Es kam zu Todesfällen und die Nachrichten über Verschwundene sind besorgniserregend. Jetzt hat die PDK einseitig die Regierungskoalition aufgelöst, indem sie die Goran-Partei hinauswarf. Der Parlamentspräsident wurde an seiner Einreise in die Hauptstadt Hewlêr (Arbil) gehindert, Goran aufgefordert, Hewlêr zu verlassen. Die PDK wirft Goran und der PKK vor, hinter den Protesten zu stecken. Diese Entwicklungen schaden nicht nur den kurdischen Interessen, sondern liegen auch nicht im Interesse der US-Verbündeten. [s. S. 31]

Den Entwicklungen, die wir hier in Grundzügen für die Türkei, Rojava und Südkurdistan aufzuzeigen versucht haben, ist eines gemeinsam. Während die Völker Demokratie, Freiheit und Frieden mit ihrem Leben verteidigen, wollen Machteliten ihre Macht mit Gewalt halten. Indem der Kampf der Völker voranschreitet und immer stärker wird, bewegen sich die Machthaber auf dem absteigenden Ast.