Der 2. Band der Autobiografie von Sakine Cansız erscheint im Januar 2016

»Es gab jedoch noch eine Lebensader ...«

Anita Friedetzky, Hamburg, den 13.10.2015

350 mein ganzes leben war ein kampf band 2»Sakine macht ja doch, was sie will«, zitiert diese den Direktor des letzten Knastes, aus dem sie 1990 nach elf (!) Jahren Haft endlich entlassen wird. Ganz nebenbei wird ihr eröffnet, dass sie eigentlich schon vor drei (!) Jahren rauskommen sollte, ihr dies aber, keine_r weiß warum, nicht mitgeteilt wurde. Sie bleibt einen Tag länger, weil sie darauf besteht, sich von all ihren Genoss_innen und Mitgefangenen verabschieden zu können. »Wir sehen uns [...]in den Bergen, wir sehen uns auf jeden Fall!«, macht sie ihnen Mut. Und weiter: »Mein Herz brannte. Ich ließ sie im Kerker zurück und ging fort.« Mit diesen Worten endet der zweite Band der nun auch auf Deutsch vorliegenden Autobiografie von Sakine Cansız: Mein ganzes Leben war ein Kampf, die sie 1996/97 auf Anregung Apos »in den Bergen« verfasst hat.

Der zweite Band ist die Schilderung ihrer Zwangs-Odyssee durch einige der fürchterlichsten Knäste der Türkei – Elazığ, Malatya, Diyarbakir, Amasya und Canakkale – er ist ein umfangreiches, faszinierendes und kostbares Zeitdokument, ein zum Teil sehr emotionaler persönlicher Bericht, beeindruckende Analyse – und Mut machende Kampfschrift zugleich.

»Wie kann Diyarbakır definiert werden? Es war ein Ort wie jeder andere und dennoch unvergleichbar. Die Nacktheit, der keine Menschlichkeit mehr innewohnte, wurde mit Folter bedeckt. Die Gefangenen schrien sich die Seele aus dem Leib, sangen die faschistischen Märsche des Feindes und schämten sich dafür. Der Feind genoss seinen Sieg und war gleichzeitig voller Angst. Die Gefangenen betrauerten ihre Niederlage. Es gab jedoch noch eine Lebensader, die dem Feind Furcht einflößte und die die heimliche Hoffnung der Gefangenen war.«

1979, noch vor dem faschistischen, mit NATO und EG abgesprochenen, Militärputsch 1980, wird Sakine zusammen mit weiteren Genoss_innen festgenommen und in ein Folterzentrum gebracht. Die ebenso korrupten wie sadistischen Scherg_innen des Systems versuchen aus den Widerstandskämpfer_innen mit den widerlichsten und perfidesten Folter- und Knastmethoden Informationen herauszupressen – »Es war diese Art von Schmerz, der das Gehirn betäubt«, beschreibt Sakine das Unfassbare. Gleichzeitig soll die noch im Aufbau befindliche Organisation, die PKK, im wahrsten Sinne des Wortes zerschlagen und sollen ihre Mitglieder und Sympathisant_innen eingeschüchtert werden. Wie wir heute wissen, ist der Junta und den Herrschenden das nicht gelungen. Dennoch hat auch dieser Kampf großes Leid und viele Tote gekostet.

»Die Größe dieser Aktion zu fühlen reichte aus, um einen Menschen am Leben zu halten [...] weil dieses Feuer die Herzen entflammte und der Schmerz lebendig blieb«, beschreibt Sakine ihre Gefühle, nachdem sich Mazlum Doğan Newroz 1982 während eines Hungerstreiks in seiner Zelle das Leben genommen hatte. »Das gesamte Leben im Gefängnis war darauf angelegt, die Persönlichkeit der Menschen zu zerstören. Alles, was einen Menschen zum Individuum macht, wurde vernichtet. Mazlum spürte die Gefahr und wollte etwas tun, um diese Entwicklung aufzuhalten.«

Sakine beschreibt den bitteren, eigentlich unbeschreiblichen Erfahrungsprozess, den sie und ihre Genoss_innen durchlaufen. Sie müssen nicht nur lernen, die Folterer mitsamt ihrer perfiden Unterdrückungsstrategien zu durchschauen und einzuschätzen. Die Gefangenen müssen auch sich selbst einschätzen und kontrollieren lernen. Sie organisieren sich und den überhaupt nicht alltäglichen Alltag. Sie lassen den unmenschlichen Angriff auf ihre Menschlichkeit an gegenseitiger Unterstützung, gegenseitigem Respekt, geschwisterlicher Liebe und revolutionärer Selbstdisziplin abprallen. Inmitten all des faschistischen Drecks gelingt es Sakine immer wieder die Selbstachtung zu wahren und anderen – vor allem auch Frauen – das Rückgrat zu stärken. Sie gibt die Hoffnung nicht auf. Mehrfach versucht sie zu fliehen. Manchmal scheitern diese Versuche durch Verrat, manchmal aber auch, weil die Genoss_innen »drinnen« oder »draußen« Fehler machen.

Sakines direkte und ungekünstelte Sprache, ihr lebhaftes Erzähl- und Redetalent lassen die Leserin und den Leser mitfiebern. Mensch kann sich in die Perspektive Sakines von »drinnen« nach »draußen« versetzen, freut sich mit ihr und leidet mit ihr.

Und es sind nicht nur Fluchtversuche, die scheitern. Da »kippen« auch immer wieder Genoss_innen unter Folter um oder lassen sich durch oftmals falsche Versprechungen aus der Gruppe brechen. Nicht selten verzweifeln sie danach an sich selbst oder werden zu skrupellosen Verräter_innen. Das alles geschieht nicht offen ausgesprochen, aber Sakine entwickelt im Laufe der Zeit ein Gespür für Ungereimtheiten im Verhalten: »Unter bestimmten Bedingungen kann man sein wahres Wesen nicht mehr verbergen. Jede Situation zeigt dann deutlich, wer du wirklich bist. Jedes Auge kann dich sehen und jedes Ohr dich hören«, schreibt sie.

Sie kämpft um sich und um jede und jeden, die/der unter der Folter zusammenzubrechen droht. Sie setzt darauf, Klartext zu sprechen, und lernt zwischen »Gestrauchelten« und solchen, »die auf die andere Seite wechseln«, zu unterscheiden. Dem Feind soll nichts und niemand kampflos »geschenkt« werden. Den Gestrauchelten bleibt der Weg zurück in die Gruppe offen, Verräter_innen müssen bestraft werden.

Es geht um den Erhalt des eigenen (revolutionären) Willens angesichts ständiger Beobachtung und Bedrohung durch die Wärter_innen, die Knastleitung und mitunter auch feindlich gesinnte Mithäftlinge. Für Sakine ist Selbstachtung ein hohes Gut. Das beginnt beim Sichtäglichwaschen (was keineswegs leicht zu bewerkstelligen ist) und reicht über Parolenrufen aus Protest, die eigenen Feiertage und Symbole feiern bis zum Hungerstreik bzw. Todesfasten, der extremsten Form des Widerstands im Knast.

»Der Feind greift mit allen Mitteln an, er nimmt dir das Recht auf ein anderes Leben, besetzt alle Zellen des Lebens, das ganze Leben wird zur Folter. In einer solchen Situation ist das Todesfasten die beste Aktionsform, um den Feind dazu zu bringen, den Gefangenen ein klein wenig Luft zum Atmen zu lassen. Du drängst uns in den Tod? Bitteschön, es gibt auch einen würdevollen Tod!«

Wenn Mitgefangene die Selbstachtung verlieren und sich gehen lassen, redet ihnen Sakine ins Gewissen. Manchmal mit Erfolg, manchmal, seltener, auch ohne. Sie selbst hält unter den widrigsten Bedingungen an ihrem Tagesablauf fest. Alle haben Respekt vor ihr, nicht nur, weil sie immer »knasterfahrener« wird, oder weil sie zum »Urgestein« der Bewegung gehört, sondern weil ihr Handeln und ihr Verhalten, ihre Aufrichtigkeit, ihre ganze Persönlichkeit eben jeder und jedem Respekt abverlangt – mitunter sogar dem Feind.

Mehrmals legt sie sich auch mit ihren eigenen Genoss_innen an. Sie beschreibt offen die Konflikte, zitiert die gegenseitigen Argumente. Es gibt Mängel in der Kommunikation untereinander, aber auch zwischen »drinnen« und »draußen«, unterschiedliche Auffassungen über Mittel und Methoden des Kampfes, unterschiedliche Einschätzungen. Das betrifft eine Frage wie: Unter welchen Bedingungen können sich Gefangene zum Tragen von Anstaltskleidung oder zum Absingen der türkischen Hymne zwingen lassen, aber auch, ob Hungerstreik und Todesfasten strategisch durchdachter und taktisch klüger eingesetzt werden sollten.

Sie kritisiert, dass wichtige Entscheidungen ohne sie bzw. ohne die Gruppe der Frauen gefällt werden. Und das, obwohl die Frauen nicht selten widerständiger als die Männer sind.

»Bei Fahrten zum Gericht oder zum Krankenhaus verhielten wir uns anders als die Männer. Sie mussten mit dem Gesicht zur Wand stehen und auf Kommando die Hacken zusammenschlagend militärisch grüßen. Bei den Frauen war es nicht so einfach, solche Verhaltensregeln durchzusetzen. Als sie uns zu Gebeten und Ähnlichem nötigen wollten, sagten wir einfach: Diese Regel akzeptieren wir nicht. So konnten wir die Umsetzung verhindern.«
Wir erleben, wie Sakine die Teilhabe der Frauen am Kampf und dem Aufbau der Organisation sukzessive einfordert und durchsetzt. Die permanente Entwicklung und Verbreiterung der kurdischen Bewegung bei gleichzeitiger Durchsetzung der Partizipation und führenden Rolle von Frauen in diesem Prozess fand und findet auch in den Knästen statt. Sakine ist hierbei treibende Kraft – so, wie sie es schon vor ihrer Knastzeit war und wie sie es bis zu ihrer Ermordung Januar 2013 in Paris bleiben sollte.

Auch im Knast werden es immer mehr Frauen, die sich dem kurdischen Widerstand anschließen – von zuvor kaum oder gar nicht Politisierten bis hin zu Frauen aus linken türkischen Organisationen. Sie organisieren Diskussionen und Bildung und machen sogar eine Zeitung zusammen. Sie praktizieren so grundlegende Prinzipien, auf denen auch heute noch die Organisierung der Bewegung fußt. Immer wenn »draußen« eine Aktion gelingt (»Weder Tod noch Folter konnten uns was anhaben. Ich hätte sterben können vor Freude.«) oder wenn eine Nachricht von »draußen« bzw. von Apo kommt, ist die Freude übergroß. Das Bewusstsein, EINE Bewegung zu sein, das macht Sakine deutlich, wird insbesondere auch durch die Rolle Apos gestärkt, zu dem Sakine unerschütterliches Vertrauen hat.

Sie berichtet neben vielen Dingen, die in diesem kurzen Abriss nicht erwähnt sind, auch über ihre fehlgeschlagenen Versuche, im Knast echte Liebesbeziehungen aufzubauen, und kommt zu dem Ergebnis, dass dies unter den gegebenen Umständen unmöglich sei. »Hätte es jemanden gegeben, den ich hätte lieben können, und wären die Umstände passend gewesen, hätte ich gerne jemanden geliebt«, resümiert sie. Und: »Liebe hat etwas mit Produktivität zu tun. Mit Liebe werden Werte erschaffen. Sie muss sich daran messen lassen, inwieweit sie Entwicklungen fördert und mit den eigenen Idealen in Einklang steht. Liebe ist kein heimliches Gefühl. Sie bezeichnet eine aktive Haltung.« Ihr geht deshalb die geschwisterliche Liebe zu den Genoss_innen »über alles. An diesem Punkt kannte ich keinen Maßstab.« Aber lest selber!


sakine cansız
mein ganzes leben war ein kampf
2. band | gefängnisjahre

Januar 2016
ISBN: 978-3-945326-11-4

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