junge verlierer
Buchbesprechung von Susanne Roden
Als Fan des kauzigen, kettenrauchenden Hauptkommissars Behzat Ç. aus den gleichnamigen Kriminalromanen, die inzwischen Kultstatus besitzen, staune ich nicht schlecht, als ich am Bücherregal der Bibliothek stehe und auf einen Erzählband des Autors Emrah Serbes blicke – »junge verlierer«. Der Titel und ein paar gezeichnete Turnschuhe in Draufsicht in weißer Farbe heben sich von dem wunderbar frischen Türkis des Einbandes ab. Der Blick wird dann in die rechte untere Ecke auf ein paar gelbe Hosenbeine gelenkt, die in eben den weißen Turnschuhen enden und auf eine Hand mit einer Zigarette. Da wären wir also gleich bei einem Kernthema: heimlich rauchen. Die Zigarette so in der Hand, dass sie sofort und leicht eingerollt werden kann und vor überraschender Entdeckung schnell verborgen werden könnte. Ach ja. Ich bin zwar kein Junge, aber mit ihnen aufgewachsen. Da es in meiner Jugend stark verpönt war – der DFB hob das Frauenfußballverbot erst Ende 1970 auf – durfte ich nur im Tor stehen. Aber immerhin. Ich war mit dabei. Und somit hat mich dann auch gleich die dritte Erzählung »Die Schwester von Korhan Abi« an so manches in meiner Jugend erinnert.
Der junge Ich-Erzähler muss im Tor stehen, weil er so ein schlechter Spieler ist. Der Organisator und Spielmacher Erhan ist nämlich sein bester Freund und bestimmt eben je nach Stimmungslage, was zu geschehen hat und ob er überhaupt im Tor stehen darf oder ob nicht. Es ist eine dieser »Männerfreundschaften«, hier als bereits in sehr jungem Alter beginnend beschrieben, die auf dem gemeinsam Erlebten und daraus resultierenden Mitwissertum basieren und deren Bindung auch durch eine starke einseitige Abhängigkeit existiert. Gleichzeitig wird in dieser Erzählung die Jugenderlebniswelt in Kontrast zur Erlebniswelt der Eltern gesetzt. Beide Seiten versuchen herauszufinden, was in dem jeweils anderen vor sich geht. Aber offen aussprechen tut es keiner so richtig. Der Vater soll einen Streikposten übernehmen, im Betrieb geht es hoch her. Die Mutter ist dagegen. An dem Jungen hingegen nagt das schlechte Gewissen wegen eines üblen Bubenstreiches und er erwartet jederzeit, dass ein Donnerwetter über ihn herein bricht. Die Ängste und schlaflosen Nächte führen zu Essstörungen, Leistungsabfall in der Schule und Kontaktängsten. Am Ende löst sich sein Kernproblem zwar in gewissem Sinne von selbst, aber seiner Not ernsthaft angenommen hat sich keine Person aus der Erwachsenenwelt. Sie haben viel zu viel mit sich selbst zu tun.
Gemeinsam ist fast allen Erzählungen die Beschreibung der patriarchalen gewalttätigen Struktur mit der abgesteckten Rolle der Frau innerhalb der Familie. Die jungen Männer versuchen über die Mutter herauszufinden, wie die Stimmung und Lage des Mannes bzw. Vaters ist. Über die Mutter versuchen sie Einfluss zu nehmen, sowohl positiv in ihrem Sinne oder um Gefahr für sich abzuwenden. Wenn jedoch die Dinge aus dem Ruder laufen, so machen sie der Mutter Vorwürfe, sie nicht genügend gegenüber dem Familienoberhaupt verteidigt zu haben. Es wird immer wieder deutlich, dass es keine Gleichstellung und kein partnerschaftliches Miteinander der Ehepartner innerhalb der beschriebenen Familien gibt. Rein theoretisch könnten die Erzählungen der Jugendlichen überall in der Welt stattfinden, aber die beschriebenen Strukturen, Verhaltensmuster und Verflechtungen sowohl innerhalb der Familien als auch in der Öffentlichkeit sind dann doch recht typisch für die türkische Gesellschaft.
Die kollektive Schwärmerei der Jugendlichen einer Straße für das besonders hübsche Mädchen Cahide, das Rangeln um das Einkaufstüten-nach-Hause-tragen für deren Mutter bis hin zu einem Autounfall, beschreibt die unerfüllten Sehnsüchte nach dem anderen Geschlecht. Zeitgleich aber beschreibt Emrah auch die Erlebniswelt und Wünsche eben dieses Mädchens und seines jungen Verlierers, zunächst als direkter Nachbar in besonderer Position, und muss am Ende mit ansehen, wie sowohl über seine Wünsche und Gefühle, aber auch wie über die des Mädchens hinweg eine schnelle Hochzeit und der Weggang in eine andere Stadt arrangiert werden. Und all das nur, um den angeblich gefährdeten Ruf innerhalb der Gesellschaft zu wahren. Und auch hierbei beschreibt Emrah sehr wunderbar, wie die Jugendlichen, noch an der Schwelle zum Erwachsenwerden, sofort die gängigen männlichen Rollen der Erwachsenen in ihrem Verhalten kopieren. Ihre anfängliche Schwärmerei für die »unerreichbare Göttin« schlägt sofort in negatives Reden über eine »Hure« und eine verbale Herabsetzung des weiblichen Geschlechtes um. Die traditionellen Machostrukturen haben einen unausrottbaren Einfluss und es ist schwer, eigene unabhängige Lebensentwürfe zu entwickeln. Aber die Ansätze sind da und Emrah erweckt sie zum Leben.
Emrah Serbes beschreibt in acht Erzählungen sehr einfühlsam, wie es ist, vom Jungen zum Mann zu werden. In jeder der acht Erzählungen wird aus der Perspektive eines Jungen im Alter zwischen 8 und 17 Jahren erzählt.
Serbes wählt dazu sehr unterschiedliche Orte wie eine Bar, ein Kaffeehaus, eine Urlaubsidylle am Meer, einen Gas- und Wasserflaschenhandel mit Lieferservice. Dabei findet dann wie so oft im Leben auch diese unglückliche Vermengung von privaten und öffentlichen Bekanntschaften statt, die es den Jungen noch zusätzlich erschweren, ihre eigenen Strategien zu entwickeln. Auch das Thema Kinderarbeit thematisiert Emrah. Als Mann ist Emrah Serbes in der Lage, das Innenleben einer Bar oder eines nur von Männern besuchten Teehauses genauestens zu beschreiben, die männlichen Verhaltensweisen und patriarchalen Muster genau zu durchleuchten. Und in die Sehnsüchte und Wünsche, Dummheiten und Streiche, aber auch in das Seelenleben von männlichen Jugendlichen kann er sich eben aus dem eigenen Erlebten bestens hineinversetzen. Somit wird ein realistisches Bild der Jungen gezeichnet, wohingegen die Frauen in seinen Kurzgeschichten eher als weich und sensibel dargestellt werden, so wie Männer wohl Frauen im Allgemeinen eben sehen.
Zitat aus der Erzählung »Omas erster Tod«, S. 21: »Als Yasemins Butterkeks ihr in den Tee fiel, weinte sie. Lehrerkinder sind immer ein bisschen abgehoben, sie schauen nicht hin, was sie machen. Wie ein Kavalier stand ich auf und ging zu ihr hin. Mit einem Löffel fische ich ihr den toten Keks aus dem Tee. Und sie drehte sich am Abend, als ihre Mutter sie abholte, noch einmal zu mir um und winkte mir. [...] Am nächsten Tag machte ich Yasemin einen Heiratsantrag. Ich fand, wir hatten genug miteinander geschäkert, und ich wollte nicht, dass die Ernsthaftigkeit unserer Beziehung verloren ging. [...] Ja und da sagte Yasemin zu mir, dass sie etwas Zeit brauche, um sich das mit uns noch mal zu überlegen. Vielleicht hat sie sich in dem Moment auch anders ausgedrückt, aber das hab ich vergessen. Schließlich ist jede Frau, die du liebst, wie ein schönes Lied. Du kannst dir nicht den ganzen Text merken, aber die Melodie bleibt in Erinnerung.«
Emrah Serbes beschreibt die Welt sehr gut beobachtet aus der Jugend- /Kinder-Sicht und trifft auch genau den richtigen Ton seiner jungen Helden, schnoddrig, manchmal altklug, den Mund voll nehmend, auf dem Weg, ihre unbedarfte Kindheit zu verlassen. Ihre Stimmen klingen manchmal tragisch, verzweifelt und wütend, aber durchaus auch urkomisch und in jedem Fall sehr liebenswert.
Der 1981 in Yalova geborene Autor Emrah Serbes hat in Ankara Theaterwissenschaften studiert. Während seines Studiums machte er Reportagen für die Zeitschrift Hayvan, schrieb Interviews für die Tageszeitung Birgün sowie Theaterkritiken für Radikal. Er zählt zu den bekanntesten Gegenwartsautoren in der Türkei. Bekannt wurde Serbes in der Türkei durch seine Romane mit dem eigenwilligen Kriminalkommissar Behzat Ç., die zwischen 2010 und 2013 auch für eine TV-Serie adaptiert wurden. Ja, und wie es nun zu dem Erzählband kam, hat Serbes auf einer seiner Lesungen verraten. Sein Verleger fragte ihn, ob er denn auch Erzählungen schreiben könne, und er habe einfach »Klar kann ich das« geantwortet. Dann hat er seine unfertigen Essays aus den Schubladen gekramt und seine Erzählungen, die hauptsächlich 12- und 13-jährige Jungs charakterisierten, wurden dann 2009 unter dem Titel »Erken Kaybedenler« («Die frühen Verlierer») veröffentlicht.
Emrah Serbes selber war gerade von Ankara nach Istanbul gezogen, als es mit den Protesten im Gezi-Park 2013 losging. Die von ihm beschriebenen Jugendlichen standen nun als 15-bis 17-Jährige ganz vorne und wollten ihrer persönlichen Enttäuschung über die türkische Regierung Ausdruck verleihen. Sie wollten selber mitten drin sein im Geschehen, im Kampf gegen Ungerechtigkeit, sie standen ganz vorne in der ersten Reihe, so Serbes. Und so ist dann auch ein Slogan bei den Gezi-Park-Protesten aus seiner Erzählung »Über mir wohnt ein Terrorist«, wo es um den kleinen Bruder eines Märtyrers, gefallen im Kampf für das Vaterland gegen den Terror, geht, der emotional aufgepeitscht endlich Rache üben möchte und am Ende selbst mit zu einer Demonstration geht: »Ihr braucht kein Tränengas zu schießen, meine Freunde sind von Natur aus sentimental.«
Emrah Serbes selber wurde durch seinen Einsatz bei den Protesten zu einer wichtigen Stimme für Meinungsfreiheit und Bürgerrechte, eine Stimme gegen Willkür und autoritäre Strukturen. Er wurde so vom Autor zum Aktivisten und zu einer Stimme des Volkes und das über die Grenzen der Türkei hinaus. Auch die Frage, wofür denn eigentlich das »Ç« des Kriminalkommissars Behzat Ç. stünde, konnte endlich geklärt werden. Nachdem der damalige Ministerpräsident Erdoğan die Protestierenden mit »Çapulcu« für »Plünderer oder Marodeure« bezeichnet hatte, tauchten überall Behzat-Ç.-Graffitis, mit einer Vervollständigung dieses Namens, auf – diese anarchisch ehrliche Romanfigur war zu einem von ihnen geworden. Der Begriff von den Protestierenden als Geusenwort einfach umgemünzt. Sprache lebt und es gibt zwischenzeitlich auch eine englische Entsprechung als chapulling.
Während einer türkischen Talkshow handelte sich Emrah Serbes dann weiteren Ärger ein, indem er den zweiten Vornamen Erdoğans »Tayyip« in das Wort »Tazyik« (»Druck«) verwandelt, um damit auf die durch die Polizei bei den 1.-Mai-Demonstrationen 2013 eingesetzten Wasserwerfer anzuspielen. Die Staatsanwaltschaft hatte als Höchststrafe 12 Jahre Haft wegen Beleidigung gefordert, die Anklage wurde jedoch November 2013 fallengelassen. Vermutlich mit dazu beigetragen hat der Druck durch die Öffentlichkeit. Man solidarisierte sich mit ihm über die sozialen Netzwerke mit dem Text »Emrah Serbes ist nicht allein« – »#Emrah Serbes yalnız değildir«. Das ging so weit, dass man die Botschaft innerhalb der Gesellschaft weitertrug, indem man sie auf Servietten und Bierdeckel malte, sie auf Gehwege oder Häuserwände sprühte.
In dem vorliegenden Erzählband »junge verlierer« zeigt sich dann auch die Stärke von Emrah Serbes. Er nimmt gesellschaftliche Strömungen mit in die Handlungsführung auf und flicht eine kritische Analyse der Verhältnisse in der Türkei ein. Die entwaffnende Kinderlogik ist dabei ein wunderbar hilfreiches Ausdrucksmittel. Was auf den ersten Blick als klar und nüchtern beschrieben wirkt, stellt sich dann teilweise auf den zweiten Blick als ergreifend komisch heraus. Aber auch für sentimentale und traurige Situationen findet Emrah Serbes in seiner Klarheit die passenden Worte.
Zitat aus der Erzählung »Omas erster Tod«, S. 14 und auch Klappentext: »[...] je größer ich geworden bin, desto kleiner wurden meine Wünsche, desto kleiner wurde meine Fähigkeit zu staunen, desto kleiner wurden meine Erwartungen. Seit ich groß geworden bin, bin ich so klein geworden, dass es in mir nichts mehr gibt, das überschäumt. Wenn man fürs Großwerden einen Preis bezahlen muss, dann ist es dieser: Ich bin einen halben Meter länger geworden und zwanzig Kilo schwerer und hab die Welt aufgegeben. Was der Dichter hier mit Welt meint, ist Yasemin.«
Emrah Serbes will die Menschen nicht nur unterhalten, sondern zum Nachdenken bewegen. Seine Sprache trifft den Nerv der Zeit, auch und gerade bei Jugendlichen. Die Proteste im Gezi-Park haben etwas verändert in der Gesellschaft, über Jahre Angestautes beim Volk hat dazu geführt, dass ihnen der Kragen geplatzt ist. Auch wenn sich keine politische Kraft direkt aus der Protestbewegung gebildet hat, so hat doch die prokurdische Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) diese Lücke geschlossen. Emrah Serbes ist überzeugt davon, dass sich die türkische Gesellschaft weiterentwickeln wird, spätestens nach der Abwahl von Erdoğan. Die türkische Gesellschaft muss sich die Demokratie ganz allein erarbeiten, so seine Überzeugung. Die Gezi-Bewegung hat die Seele des Landes erweitert, das verschwindet nicht mehr, so seine Aussage in einem Interview mit der taz, und so ist seine Grundeinstellung von Optimismus getragen, genau so, wie auch seine jungen Verlierer sich nicht unterkriegen lassen. Es braucht eben alles seine Zeit.