Interview mit der Repräsentantin der Selbstverwaltung der Kantone von Rojava in Europa
Avantgardefunktion, Lösungsmodell und Versöhnungsarbeit
Michael Knapp im Gespräch mit Sinam Mohamad
Sinam Mohamad nahm als internationale Vertreterin der autonomen demokratischen Administration von Rojava an der ExpertInnenkonferenz am 23. September in Berlin teil.
Könnten Sie sich bitte vorstellen?
Ich bin Sinam Mohamad, ich war 2011 im Vorstand des Volksrats von Westkurdistan, wir haben dann das Hewlêr-Agreement mit dem ENKS (Kurdischer Nationalrat in Syrien) abgeschlossen, und ich war im Hohen Kurdischen Rat, der sich in der Folge gebildet hatte. Danach hatten wir das Abkommen von Duhok, und wir bildeten einen neuen Hohen Rat, dem ich ebenfalls angehöre. Ich nahm an all diesen Verhandlungsprozessen teil. Ich wurde dann Kovorsitzende der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) und bin jetzt Repräsentantin der Selbstverwaltung der Kantone von Rojava in Europa. Ich bin die Vorsitzende der Außenbeziehungen von Rojava. Ich bin einerseits Repräsentantin der Rätebewegung und andererseits der Regierung von Rojava.
Welche Gruppen sind an der Regierung von Rojava beteiligt, welche Parteien, wie fügen sich die Räteselbstverwaltung und die Zivilgesellschaft in dieses System ein?
Wir haben viele verschiedene kurdische Parteien in der Regierung und auch Suryoye und arabische Parteien. Außerdem haben wir den TEV-DEM-Block, der im Moment am stärksten ist, u. a. mit sechs politischen kurdischen Parteien, und in der Verwaltung haben wir weitere kurdische Parteien, die nicht bei TEV-DEM dabei sind. Wir haben zwei Fraktionen der Linkspartei, die Partei der Suryoye-Einheit, die Arabische Nationale Union, des Weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft, Frauenorganisationen wie Yekîtiya Star und die Syrische Fraueninitiative, die nicht nur Kurdinnen einschließt, sondern auch Turkmeninnen, Drusinnen, Suryoye und andere. Wir haben auch Kontakt mit Frauen in Damaskus und anderen Gebieten in Syrien, wegen der Situation ist es jedoch nicht einfach, sich in der Verwaltung der Kantone zu treffen. Wir können sagen, dass die Araber_innen, die Kurd_innen und die Suryoye gemeinsam Rojava verwalten. So sieht die Situation im Kanton Cizîre aus, in Afrîn haben wir ebenfalls Kurd_innen und Araber_innen, in Kobanê sind es vor allem Kurd_innen.
Welche sechs Parteien sind in TEV-DEM repräsentiert?
Ich nenne jetzt einige Namen, etliche heißen nach ihren Generalsekretär_innen, da sie ansonsten die gleichen Namen tragen. In TEV-DEM sind die PYD (Partei der Demokratischen Einheit), die Liberale Partei, die Kommunistische Partei Kurdistans, Yekitî (Muhammed Abbas), die Friedens- und Demokratie-Partei in Syrien, die Demokratische Partei (Abdulkerim Zakho). Dies sind alles kurdische Parteien in TEV-DEM. In der Verwaltung sind PYD, Linkspartei, Kommunistische Partei, Liberale Partei, Yekitî (Muhammed Abbas), Friedens- und Demokratie-Partei in Syrien, die syrische Demokratische Partei Kurdistans (PDK-S), Grüne Partei, Partei des Demokratischen Wandels in Mesopotamien, zweite Linkspartei, Nationale Arabische Kommission, Nationale Freiheits-Union, hinzu kommen Frauenorganisationen der Araber_innen und Syrer_innen.
Manche bezeichnen diese Parteien als Marionettenparteien der PYD? Was sagen Sie dazu?
Die Parteien in Rojava sind sehr klein. Aber auch die kleinen Parteien haben ihre Basis. Keine Partei akzeptiert es, eine Marionette der PYD zu sein. Die Behauptung ist unwahr. Die PYD ist eine der Parteien, die wirklich in Rojava, in der Selbstverwaltung mit den Araber_innen und den Suryoye zusammenarbeitet. Und wenn Kurd_innen nicht akzeptieren, Marionetten zu sein, was ist dann erst mit den Araber_innen und den Suryoye? Diese Menschen treffen alle gemeinsam die Entscheidungen in der Verwaltung. So akzeptieren die Kurd_innen manchmal etwas, was die Araber_innen und die Suryoye aber nicht hinnehmen, und die legen Widerspruch dagegen ein. Die PYD verwaltet Rojava gemeinsam mit den anderen Parteien und Organisationen. Natürlich ist die PYD eine sehr große Partei mit tiefen Wurzeln dort. Aufgrund der großen Unterstützung aus der Bevölkerung wird es so dargestellt, als wären sie die einzigen. Das stimmt nicht. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die PYD, es ist nur eine Minderheit, welche die PDK-S unterstützt, und ihnen bricht viel Unterstützung weg, denn die Menschen sehen, wie die PYD sich einsetzt, und sie sehen, wie sie die Region verteidigt. TEV-DEM ist eine Schirmorganisation, zu der die PYD gehört. Auch wenn sie nicht zur PYD gehören, unterstützen sie TEV-DEM und damit die Menschen, die wirklich arbeiten.
Das Rätesystem ist in TEV-DEM organisiert?
Ja, wir haben das Rätesystem, es beginnt mit der kleinsten Einheit, der Kommune, in kleinen Straßen, Dörfern, auf dem Land, dann hin zum Viertel und zur Stadt. Es handelt sich um ein Delegiertensystem, das die Räte verbindet. Es wird von unten nach oben im Rat von Cizîre repräsentiert. Wir haben überall auch Stadtratswahlen gehabt. In Afrîn in sieben Distrikten. Es handelt sich nicht nur um die Räte, alle gehen zu den Wahlen. Hier werden die Kovorsitzenden der Stadtverwaltungen gewählt und dann die Stadträte.
Also gibt es zwei Stadträte, einmal TEV-DEM und einmal in der Stadt?
Das sind zwei unterschiedliche Strukturen. Zuerst werden die Vorsitzenden der Stadtverwaltung gewählt, dann die Stadträte.
Wie sind die ökonomische und die Gesundheitssituation in Rojava, gibt es immer noch ein Embargo?
Wir haben immer noch ein Embargo, in Cizîre ist es etwas leichter, denn die KRG macht manchmal die Grenze auf. Das größte Problem bestand in Afrîn und Kobanê. Das meiste von Kobanê ist zerstört und die Grenze zur Türkei ist geschlossen, im Moment machen sie diese zwei Tage in der Woche auf. Aber das hängt auch ganz von der Laune der Türkei ab. Nach der Befreiung Girê Spîs (Tall Abyads) und der Verbindung der Kantone sind die Dinge etwas einfacher geworden. Der Weg ist relativ sicher. In Girê Spî ist es ein bisschen schwierig. Ein Journalist war im Juli dort, er sagte zu mir, er fühle sich überall sicher, aber wenn er vielen Araber_innen dort in die Augen schaue, dann habe er das Gefühl, dass sie IS seien und nicht an unserer Seite, dass sie sich einfach nur fürchteten, von sich zu sagen, dass sie dem IS naheständen. Er erzählte mir, als er etwas kaufen wollte, habe der Verkäufer gesagt, dass es besser für sie gewesen sei, als der IS da war, denn dann konnte zu hohen Preisen gehandelt werden. Also, es gibt Menschen, die innerlich den IS unterstützen. Insofern bestehen einige Risiken, aber wir müssen dort arbeiten, denn nun ist der Ort befreit. Das Embargo existiert, es ist ein bisschen leichter. Insbesondere für Afrîn wiegt das sehr schwer. Denn die Türkei hält die Grenzen komplett dicht, niemand kann kommen und gehen. Sogar am Kongress der PYD konnte keine Delegation aus Afrîn teilnehmen. Auch illegal ist es sehr schwer. Das türkische Militär erschießt in Afrîn und auch in Cizîre viele Menschen, insbesondere junge Leute, welche die Grenze überqueren wollen. Früher verschlossen sie die Augen und man konnte kommen und gehen, aber jetzt ist es gefährlich, denn die türkischen Soldaten schießen auf alle, die sie an der Grenze sehen. Gerade erst letzte Woche ist es wieder passiert, ein junger Mann wurde erschossen, als er von Cizîre aus, möglicherweise um nach Europa zu gehen oder um etwas aus der Türkei zu bekommen, die Grenze überquerte. Wen immer die türkischen Soldaten an der Grenze sehen, wird erschossen. Sogar eine Frau wurde in Afrîn erschossen, als sie auf ihrem Land in der Nähe der Grenze arbeitete. Das Embargo ist eines von der türkischen Grenze, aber auch innerhalb Syriens. Von innen haben wir den IS und Dschabhat al-Nusra, die ebenfalls ein Embargo behaupten. Die Menschen können nicht nach Heleb (Aleppo) fahren. Afrîn ist vollständig belagert. Niemand kann den Ort verlassen oder dorthin kommen. Alles wird dadurch sehr teuer und das ist wohl einer der Gründe, warum die Menschen nach Europa kommen. Deswegen sagen wir, macht die Grenzen für Importe nach Rojava auf, dann würde niemand fliehen. Die Menschen könnten dann von der Türkei nach Rojava kommen und gehen. Sie könnten holen, was sie brauchen, Medizin, Nahrungsmittel, was auch immer, und dann wieder zurückkommen. Aber die Grenze wird nicht aufgemacht. Das ist die ökonomische Seite, nichts und niemand kann auch aus Idlib oder den anderen Städten nach Afrîn gebracht werden, auch das ist verboten. Es scheint also, dass sie insbesondere gegen Afrîn ein ökonomisches Embargo verhängen wollen. In Kobanê haben sie militärisch angegriffen, Afrîn wird vor allem ökonomisch bedroht. Das zielt darauf ab, die Bevölkerungszusammensetzung der Region zu verändern.
Wir haben aus Afrîn gehört, dass dort entschieden worden sei, niemand dürfe den Kanton verlassen? Stimmt das?
Ja, es geht darum, dass die Menschen ihr Land nicht verlassen sollen. Sie dürfen auch ihre Häuser und ihren Besitz nicht an jemand außerhalb des Kantons verkaufen.
Sie erwähnten die Situation der Araber_innen und Turkmen_innen in Girê Spî. Gibt es nach der Herrschaft des IS Versuche der Versöhnung? Wir hören in den Medien, insbesondere in der Türkei, immer wieder etwas von Vertreibungen. Könnten Sie dazu Stellung beziehen?
Girê Spî stand lange unter IS-Kontrolle. Eine Demokratie dort aufzubauen braucht Zeit. Jetzt werden in Girê Spî zivile Räte gebildet, in denen alle Komponenten vertreten sind, Araber_innen, Kurd_innen und Turkmen_innen. Ebenfalls mit den arabischen Stämmen, die dort präsent sind. Sie verwalten die Region gemeinsam in diesem Rat. Girê Spî wird durch sie verwaltet, nicht durch die PYD oder TEV-DEM, eben durch die Menschen, die dort leben. Etwa jeweils zu einem Drittel. In diesem Rat wurde beschlossen, dass keine Volksverteidigungseinheiten (YPG) sich dort aufhalten sollen. Die YPG sind abgezogen, es gibt nur noch zivile Sicherheitskräfte wie die Asayîș zur Verteidigung, falls etwas passiert. Es wird an einer Versöhnung zwischen allen Komponenten gearbeitet, zwischen denen, die wie früher in Frieden zusammen leben wollen, die nicht den Kampf zwischen Araber_innen, Kurd_innen und Turkmen_innen wollen. Aber die türkische Regierung will Spannungen provozieren, insbesondere über die turkmenische Bevölkerung. Sehr viele Turkmen_innen haben aber begriffen, was die Türkei tut, und sie haben sich entschlossen, mit den anderen Bevölkerungsgruppen zusammen am Rat teilzunehmen. Das ist für uns sehr wichtig. Die türkische Regierung beschuldigt die YPG der »ethnischen Säuberung«. Ich selbst schickte so viele Nachrichten an die Außenministerien zahlreicher Länder und wir riefen die Menschenrechtsorganisationen und alle Journalist_innen auf, nach Girê Spî oder an jeden anderen Ort zu kommen, für den die türkische Regierung einen solchen Vorwurf erhoben hat. Viele sind gekommen und sie haben gute Berichte geschrieben. Natürlich ist es ein Konflikt, ein Krieg, und wenn es Krieg gibt, dann fliehen natürlich viele Menschen. Auch Kurd_innen, Araber_innen oder Turkmen_innen, ja, das passiert. Aber das ist ein Resultat der Kämpfe und der Kriegssituation. Niemand bleibt in einem Kriegsgebiet. Alle würden davonlaufen. Aber danach kehren sie in ihre Dörfer zurück. Sie werden bombardiert, das passiert. Das passierte auch in Til Eren und Til Hasil. Der IS und die anderen Gruppen haben ethnische Säuberungen gegenüber der kurdischen Bevölkerung durchgeführt. Sie brachten die Menschen in Til Eren um, nur weil sie kurdisch waren. Aber alle haben dazu geschwiegen. Wie die türkische Regierung und auch die Nationale Koalition in Istanbul. Und jetzt klagt uns diese Koalition wegen Girê Spî an. Wann immer wir einen Ort vom IS befreien, dann verfasst die Nationale Koalition ein Statement dagegen und unterstellt ethnische Säuberungen. Sie tun das, weil es ihnen nicht passt, wenn wir die Orte vom IS befreien. Die Koalition in Istanbul unterstützte die Krankenhäuser in Til Hemis und Til Brak, als diese von ihm kontrolliert wurden, sie hat ihn unterstützt, wir haben darüber Dokumente.
Die südkurdische PDK und Vertreter_innen des ihr nahestehenden ENKS gaben Erklärungen ab, sie hätten an einer Delegation zur Untersuchung der Massaker von Til Hasil und Til Eren teilgenommen, aber festgestellt, dass es keine Massaker gegeben habe, sondern »nur einzelne Todesfälle«. Was sagen Sie dazu?
Ich war ebenfalls Teil dieser Delegation. Alle kurdischen Parteien, PDK, PDK-I, YNK und KNK, schickten ihre Mitglieder in diese Delegation. Ich empfing sie damals in Rojava. Wir besuchten zahlreiche Orte in Rojava, in Serê Kaniyê (Ras al-Ain) fanden damals Kämpfe statt, wie auch an vielen Orten im Kanton Cizîre. Wir brachten die Delegation überallhin, auch dorthin, wo gekämpft wurde, und sie sahen selber, wie dort gekämpft wurde. Dann haben wir uns mit 35 Menschen getroffen, die wir aus Til Hasil und Til Eren gerettet hatten. Sie interviewten sie allein, ohne dass wir dabei waren. Wir erlaubten ihnen, die Gespräche allein zu führen, um nicht den Eindruck zu erwecken, wir würden uns da einmischen. Wen immer sie sehen wollten, mit denen organisierten wir Gespräche. Kinder, Alte, alle kamen. Sie sind dann zu ihnen in einen Raum gegangen und haben mit ihnen gesprochen. Nach den Gesprächen weinten viele Mitglieder der Delegation, wegen dem, was die Menschen der Delegation erzählten. Wie es in Til Hasil und Til Eren gewesen war, wie sie die Menschen ermordet hatten. Wie ihnen kurdische Kollaborateur_innen geholfen und diese Menschen als Kurd_innen denunziert hatten und die dann mitten in der Stadt oder im Dorf ermordet worden waren. Sie haben das alles aufgeschrieben. Und danach sagen sie, es habe kein Massaker gegeben! Das ist eine ... ich finde dafür keine Worte. Die Delegation sah die Menschen und hörte, was sie erzählten. Wie können sie dann sagen, es gab kein Massaker, wie viele Menschen müssen für ein Massaker umgebracht werden? Müssen es 100 000 sein, um von einem Massaker zu sprechen? Viele von denen, die mit ihnen sprachen, waren die letzten Mitglieder ihrer Familien, vielleicht allein oder zu zweit, die anderen waren alle umgebracht worden. Sie haben es selbst gesehen und gehört. Die Teilnehmer_innen haben es uns ebenfalls erzählt. Dahinter steckten politische Motive, denn einige von ihnen arbeiteten als Kurd_innen in der Nationalen Koalition mit und sie wollen deren Kräfte nicht anklagen, ein Massaker begangen zu haben.
Es gibt immer wieder Gruppierungen, die der Selbstverwaltung von Rojava bzw. den Asayîș Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Was sagen Sie dazu?
Wir haben viele Menschenrechtsorganisationen, die Gefangene besuchen. So viele Menschen konnten jederzeit ins Gefängnis gehen, um die Situation zu kontrollieren, sie zu fragen, warum sie inhaftiert sind. Sie sind nicht inhaftiert wegen ihrer politischen Meinung, sondern wegen Anschlägen, ökonomischer Angelegenheiten, Drogenhandel oder auch Mord. Wenn jemand eine Bombe legt, dann wird er natürlich inhaftiert. In Rojava sind wir in einer Kriegssituation, deswegen ist Sicherheit sehr wichtig. Viele nutzen die Situation aus. Die Situation in den Gefängnissen ist relativ gut und wir planen sogar, die Gefängnisse umzuwandeln, um die Stigmatisierung zu beenden. Die Tore der Gefängnisse sind für alle Institutionen und Organisationen offen, um zu kontrollieren, wir versuchen aber auch, eine Justiz auf der Basis von Versöhnung aufzubauen.
Wie bewerten Sie die Diskussion um die türkische Pufferzone?
Ich denke, das werden sie nicht schaffen. Die Türkei hat so viel schon versucht, um einen Zusammenschluss der Kantone zu verhindern. Sie haben IS und Dschabhat al-Nusra unterstützt, die Menschen der Region anzugreifen, sie haben uns wegen angeblicher ethnischer Säuberungen angeklagt, Menschenrechtsverletzungen etc. behauptet, aber sie sind in jeder Beziehung gescheitert. Als nun Girê Spî befreit worden war und die Kantone Kobanê und Cizîrê verbunden worden waren, da sagten sie, wir müssen verhindern, dass Kobanê und Afrîn verbunden werden. Also versuchen sie, turkmenische Truppen in die Region dazwischen zu schicken, und diese Truppen stehen unter der Kontrolle der Türkei, sie haben nichts mit Syrien zu tun und von daher wird auch das nicht funktionieren. Dort leben nicht nur Turkmen_innen, dort leben Araber_innen und Kurd_innen, und sie können die Region nicht allein kontrollieren, niemand kann das. Die Araber_innen und die Kurd_innen dort werden sie nicht akzeptieren. Die meisten von ihnen stecken jetzt in Minbic (Manbidsch) und von dort bekommen wir immer wieder die Nachricht an die YPG: Befreit uns vom IS! Also, wenn die turkmenischen Truppen dort sind, dann können sie die Region offensichtlich nicht von ihm befreien. Das ist einfach wieder einer dieser andauernden Versuche der Türkei.
Die turkmenischen Milizen sollen enge Kontakte zu Dschaisch al-Fatah und Dschabhat al-Nusra haben. Bedeutet dies eine Unterstützung der Türkei für die Al-Qaida-Gruppen?
Die Eroberung von Idlib vor einigen Monaten unter der Führung von Dschabhat al-Nusra fand mit Unterstützung der Türkei statt. Anders hätten sie Idlib nicht vom Regime lösen können. Es gab unter den Kämpfern sogar türkische Soldaten. Selbst der Name Dschaisch al-Fatah ist an den Sultan Fatih angelehnt. Dschabhat al-Nusra war auch an der türkischen Grenze zwischen Kobanê und Afrîn. Jetzt sagten sie, ihr zieht euch etwas zurück, und setzen an ihre Stelle Ahrar al-Scham und die turkmenischen Gruppen im Namen der Freien Syrischen Armee (FSA) dorthin. Sie sagen, das sei FSA, kein Dschabhat al-Nusra, aber die Leute sind keine Idiot_innen, sie sehen wer das ist und wer die unterstützt.
Also einerseits scheint die Türkei dann zumindest formal Mitglied in der Anti-IS-Koalition zu sein und andererseits ihre Unterstützung vom IS auf Dschabhat al-Nusra übertragen zu haben. Unterstützt sie immer noch den IS?
Sie machen das nicht mehr so offen und wollen sich aber als Kämpfer_innen gegen den IS gebärden. Doch eigentlich greifen sie die Kurd_innen in Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), Qandil an. Die türkische Regierung verliert gerade gegen die Demokratie und die Menschen, und auch in den nächsten Wahlen werden sie verlieren. Ich denke, auf diese Weise gräbt Erdoğan sein eigenes Grab. Er hätte das nicht tun sollen. Er konnte sein Projekt in Rojava nicht realisieren und wendete sich gegen die Kurd_innen in der Türkei.
Wollen Sie die Kantone in naher Zukunft verbinden?
Ja, sobald es geht, werden sie verbunden. Es geht aber nicht nur ums Verbinden, es geht darum, die Menschen dort vom IS zu befreien. Wo immer der noch ist, besteht eine Gefahr für die Menschen in der Umgebung. Auch die Menschen unter seiner Herrschaft wollen befreit werden. Vielleicht hat man früher gedacht, er kann nicht besiegt werden, und es deswegen hingenommen, aber jetzt wurde an vielen Orten gezeigt, dass er besiegt werden kann. Jetzt sind sie davon überzeugt, dass er auch bei ihnen besiegt werden sollte. Aber allein können sie es nicht, denn sie bringen die Leute dort um, deswegen fragen sie die YPG, sie zu befreien.
Aber es gibt doch auch eine ökonomische Stärke, die mit der IS-Herrschaft kam. Zum Beispiel scheinen die Grenzen zur Türkei ja unter der IS-Herrschaft offen gewesen zu sein und jetzt ist alles zu. Es scheint ja eine Klasse der Profiteur_innen zu geben.
Ja, insbesondere im Grenzhandel gab es diese Profiteur_innen. In jedem Krieg gibt es sie. Und auch wenn die Grenze damals offen war, sie war ja nicht offen für die Menschen, sondern nur für den IS. Die Bevölkerung aber wollte diese Revolution, denn es ist eine Revolution für die Menschen, die wir machen. Das Volk akzeptiert den IS nicht. Warum macht die Türkei die Grenze nach Girê Spî nicht auf? Die Turkmen_innen, die Araber_innen, die Kurd_innen, alle kommen zurück. Diese Frage, warum macht ihr die Grenze nicht auf, muss an die Regierung der Türkei gestellt werden. Warum war die Grenze offen, als der IS da war? Seine Kämpfer_innen kamen von dort und er verkaufte zu der Zeit sogar Erdöl über diese Grenze in die Türkei. Die profitierte davon. Wenn sie die Grenze jetzt aufmachen, dann wäre es gut für alle, sogar für die Türkei.
Wie ist die aktuelle Lage in Hasaka?
Es gibt keinen IS mehr dort. Hasaka ist komplett befreit. Es gibt immer noch etwas Regime, wie in Qamişlo (Al-Qamischli). Aber sie sind sehr schwach und nicht aktiv, wir können sagen, sie sind nur pro forma da. Sie sind nur noch an einem Ort, und sollen sie auch dort sein, wir sind nicht dagegen, wir wollen niemand umbringen, nur damit wir dann dort sind. Aber wenn sie angreifen, dann werden wir uns selbst verteidigen. Wir sind gegen das Töten. Aber so etwas ist passiert, als das Regime unsere Leute angegriffen hat, dann haben wir geantwortet und es sind viele Soldaten des Regimes getötet worden. Bei den Kämpfen um Hasaka war das Regime an der Südseite an der Front zum IS, sie zogen sich zurück und viele von ihnen wurden vom IS getötet. Der rückte vor, sie fürchteten sich. Deswegen mussten die YPG vorrücken und begannen, den IS mit Hilfe der Koalition dort anzugreifen. Sie rückten vor und konnten ihn besiegen und die Region befreien. Das Regime zog sich aufgrund seiner Schwäche zurück. Der IS ist jetzt außerhalb Hasakas. Es gibt jetzt einen Rat der arabischen Stämme und sie haben zugestimmt, die Selbstverwaltung zu unterstützen. Die Kurd_innen, Araber_innen und Suryoye haben einen gemeinsamen Rat und verwalten die Stadt. Das Problem sind Selbstmordanschläge. Es gab zwei, bei denen 35 Zivilist_innen und 3 Asayiș-Mitglieder getötet wurden. IS-Zellen sind immer noch verdeckt da. Wir versuchen uns dennoch an einer Versöhnung zwischen allen Menschen, denn unsere Politik beruht auf Zusammenleben.
Gibt es eine Verbindung nach Șengal? Wird es einen Kanton Șengal geben?
Es gibt einen Korridor. Man kann nach Șengal (Sindschar) gehen. Aber ein Kanton ist eine Entscheidung der Menschen dort, wir können ihnen dabei helfen, wenn sie das wollen. Sie bauen ihre eigenen Räte und Verteidigungsstrukturen auf, denn sie haben die Erfahrung gemacht, was passierte, als niemand sie schützte, nicht die Peschmerga oder irgendjemand, und sie wurden ermordet ... Daher realisierten sie, dass sie ihre eigenen Kräfte schaffen müssen, und sie haben jetzt die YBȘ (Widerstandseinheiten Șengal) [ebenso wie die Frauenverteidigungseinheiten Șengal, YPJ-Ş] aus Männern und Frauen und sie arbeiten und verteidigen Șengal. Es ist ihre Idee, sich nur selbst verteidigen zu können und von niemandem abhängig sein zu dürfen. Sie haben ihre eigenen Räte.
Die YPG werden immer wieder als Milizen der PYD dargestellt – was sagen Sie dazu?
Das stimmt nicht, die PYD ist eine politische Partei, die YPG sind eine militärische Formation. Die YPG sind der Selbstverwaltung, keiner politischen Partei unterstellt. Das Verteidigungsministerium steht über ihnen. Das ist eine falsche Behauptung, die meisten Mitglieder der YPG sind keine PYD-Mitglieder. Es sind viele Araber_innen dabei. Ihr Ziel ist es, das Gebiet zu verteidigen. Der Kurdische Nationalrat versucht ein solches falsches Bild zu vermitteln, denn sie wollen eigene Parteimilizen aufstellen und legitimieren das mit der Behauptung, die PYD habe ja auch eine.
Was ist der Unterschied zu anderen Militäreinheiten?
Sie werden in Geschlechterbefreiung und Gesellschaftsvertrag ausgebildet. YPG-Mitglieder werden in Demokratie, Menschenrechten, Gender Equality ausgebildet und sie müssen an diese Werte glauben, sonst kann man nicht für die Selbstverwaltung arbeiten. Sie schützen die Christ_innen, die Araber_innen und alle Gruppen in Rojava, nicht nur die Kurd_innen, weil sie von diesen Werten überzeugt sind. Der ENKS sagt, ihr habt eure Kräfte, lasst unsere Kräfte auch hinein. Wir wollen aber nicht zwei Kräfte in Rojava haben. Es ist ein Risiko. Wenn man zwei Militärverbände hat, dann führt das zu Konflikten. Das wollen wir vermeiden. Entsprechend dem Hewlêr- oder dem Duhok-Abkommen haben wir gesagt, ihr müsst euch mit der YPG-Führung zusammensetzen und diskutieren, wie ihr euch den YPG anschließen könnt, um darin zu sein und nicht daneben an einer Partei orientiert. Um eine Kraft in Rojava zu bilden, ohne zu differenzieren, ob das eine Gruppe der PDK-S oder Yekitî oder so ist. Wenn das so passiert, dann ist das eine Miliz und das ist gefährlich. Wir wollen eine Verteidigungskraft aus allen Menschen Rojavas, von Araber_innen, Kurd_innen, Suryoye. Gruppen wie Suwar al-Raqqa, Burkan al-Furat koordinieren sich mit den YPG.
Sehen Sie das Modell Rojava als ein Modell für die gesamte Region?
Es gibt eine drusische Stadt bei Damaskus, die sich jetzt auch nach dem Modell Rojava die Selbstverwaltung erklärt hat. Wir unterstützen dies durch Botschaften und sind bereit, sie mit unseren Erfahrungen zu unterstützen. Wir sehen in der Selbstverwaltung das einzige Lösungsmodell für Syrien oder den ganzen Mittleren Osten. Ein Vertreter der Drus_innen kam gestern zum PYD-Kongress und brachte Grüße aus seiner Stadt. Es ist eine Erfahrung, die überall stattfinden sollte. Wir sind bereit, sie zu unterstützen.
Wie ist die Situation in Heleb?
Wir haben unser eigenes Viertel in Șeixmasud, gemeinsam mit den Araber_innen dort. Aber es gibt dort Schwierigkeiten mit Dschabhat al-Nusra. Es gibt keine kontinuierliche Verbindung nach Afrîn.
Wie sieht es mit der Situation der arabischen und Suryoye-Frauen aus?
Als die kurdische Frau an der Revolution teilnahm, war sie gut vorbereitet. Sie hatte sich viele Jahre vorbereitet, aber die Gesellschaft war nicht so offen, unter dem Assad-Regime konnte es keine Frauenbewegung geben. Ab 2011 begannen die Frauen, sich sehr frei in Rojava zu bewegen und alles schnell aufzubauen. Wir haben eine Grundlage als Frauen. Die kurdische Gesellschaft unterscheidet sich etwas von der arabischen. In der kurdischen Gesellschaft ist die Idee der Frauenbefreiung stark verankert, aber wegen unter anderem religiöser Ideen war das nicht so offensichtlich, doch wenn sich die Gelegenheit bietet, können wir sehr effektiv arbeiten, unsere Gesellschaft zu öffnen. Zu zeigen, dass ein Mädchen viele Dinge, die ein Mann tut, ebenfalls tun kann, warum darf sie dann nicht genauso an der Gesellschaft partizipieren? Auf diese Weise fingen sehr viele Frauen an zu arbeiten. Auf der sozialen, auf der ökonomischen, der politischen, der diplomatischen Ebene und sogar als Kovorsitzende von Rojava. Das ist was völlig Neues, wir sagen nicht, der Präsident ist ein Mann, es gibt auch eine Präsidentin. Als die Menschen sahen, dass eine Frau vieles sehr erfolgreich tun kann, dann begannen sie daran zu glauben und das zu unterstützen. Unsere Gesellschaft ist offen und nicht zu sehr religiös durch den Islam beeinflusst. Die arabische Gesellschaft ist sehr stark vom Islam kontrolliert und so können Frauen davon ausgeschlossen werden, sich mit Männern hinzusetzen, an der Politik teilzuhaben oder allein auf die Straße zu gehen. Aus diesem Grund hatte der IS in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Erfolg, denn er repräsentiert ihre Ideen. Genau diese Regeln werden bei ihm entsprechend islamischen Prinzipien auf Frauen angewandt, Frauen durften nicht mehr allein unterwegs sein, keine Autos mehr fahren, sich nicht mehr unverschleiert zeigen. Das kommt aus der islamischen Tradition und diese Tradition ist tief in der arabischen Gesellschaft verwurzelt, tiefer als in der kurdischen. So wurden die kurdischen Frauen zur Avantgarde für die anderen Frauen. Nun fingen die arabischen Frauen ebenfalls an, ihre eigenen Räte zu bilden. In einem arabischen Dorf habe ich einen Rat besucht und die Kovorsitzende des Rates ist eine arabische Frau. Sie hat gesagt, ich kann es kaum glauben, dass ich eine Vorsitzende dieses Rates geworden bin. Also, wenn man den Menschen die Möglichkeit bietet und ihnen hilft, die Situation zu verstehen, dann können sie das ändern. Wir haben mit den arabischen Frauen angefangen, aber auch mit den Suryoye-Frauen. Wir fingen zusammen in Frauenräten an zu arbeiten. Insofern kann ich aus tiefster Überzeugung sagen, dass die kurdischen Frauen die Führung bei der Befreiung der anderen Frauen in Rojava und vielleicht auch in Syrien übernommen haben. Denn wir sind nicht von der Religion kontrolliert, ob vom Islam oder einer anderen, wir haben unsere eigene Philosophie. Wir haben jetzt auch Frauengesetze. Wir haben so viele Gesetze, die direkt dem islamischen Recht widersprechen. Viele sagen, ihr seid gegen die Scharia. Nach der Scharia kann ein Mann vier Frauen heiraten, doch bei uns ist das verboten. Insofern sind wir auch gegen die Scharia, aber das spielt für uns keine Rolle. Wir haben hier Menschenrechte und Frauen sind Menschen und ihre Rechte müssen geschützt werden.
Was ist aber, wenn autonome Kommunen beschließen, beispielsweise die Scharia zu praktizieren?
Wir haben diese Gesetze und in bestimmten Bereichen mag es da noch Lücken geben, aber wenn wir das System weiter entwickelt haben, dann wird das nicht mehr möglich sein. Wir haben beispielsweise die Zivilehe eingeführt, vorher war das religiös. Das akzeptierte früher niemand.
Was können wir in Solidarität mit Rojava fordern?
Die Unterstützung für Projekte in Rojava, Frauenprojekte, Kooperativen sind sehr wichtig. Die Ökonomie und der Lebensstandard müssen verbessert werden und dass wir die Probleme in Rojava lösen können und die Menschen nicht fliehen müssen. Ausbildung für die Administration ist wichtig. Wir haben alles andere als eine ideale Gesellschaft, wir brauchen Ausbildung in diesem Sinne. Politisch ist das Entscheidendste die Aufhebung des Embargos – die Türkei will, dass alle Menschen aus Rojava fliehen, und behauptet, dass wir der Grund dafür seien. Der Wiederaufbau von Kobanê muss stattfinden. Unterbringung etc. ...