Bekämpfung der Fluchtursachen ist international nicht gewollt
»We are here, because you were there«
Elmar Millich
Das Thema der über das Mittelmeer in Europa ankommenden Flüchtlinge beschäftigt Politik und Medien seit Monaten und wird auch von der Bevölkerung laut Umfragen als mit Abstand wichtigstes zu lösendes »Problem« gesehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht gar von einer »Jahrhundertaufgabe«. Eine ökonomische und politische Analyse der Weltsituation zeigt, dass sie Recht behalten könnte. Aufgrund der zunehmenden Globalisierung und wachsenden Mobilität weitet sich seit Jahren die Migration aus ökonomischen Gründen aus. Dazu steigt in den letzten Jahren die Zahl sogenannter »failed states«, in denen lediglich noch eine Rumpfstaatlichkeit existiert, während lokale Warlord-Gruppen unter verschiedenen ideologischen Bannern oder aus offen kriminellen Gründen eine Plünderungs- und Kriegsökonomie betreiben. In diesen Zonen kommt es regelmäßig zu Massakern an der Zivilbevölkerung und Missbrauch von Frauen, sodass den dort lebenden Menschen nur die Flucht entweder innerstaatlich oder aber in Nachbar- oder entferntere Staaten bleibt. Die Zielländer der Migration werden dabei maßgeblich durch die Geografie bestimmt. Für die Bevölkerung der mittel- und südamerikanischen Länder sind die USA das bestimmende Ziel, während Flüchtlinge aus dem Mittleren und zentralen Osten sowie Afrika versuchen, nach Europa zu gelangen. Öffentlich weniger wahrgenommen gibt es auch in Fernost erhebliche Flüchtlingsströme, deren Ziele etwa Thailand, Indonesien oder Australien sind. Der UNHCR geht derzeit von sechzig Millionen aus ihrer Heimatregion vertriebener Menschen aus.
Die Migration aus ökonomischen Gründen sowie die zunehmende Flucht vor Krieg und Verfolgung resultieren aus der mangelnden ökonomischen Entwicklungsperspektive der Peripheriestaaten im jetzigen Stadium des internationalen Kapitalismus. Die wachsende Produktivität hat ein Ausmaß erreicht, bei dem Expansion und weitere Kapitalakkumulation in der Realwirtschaft geografisch und ökologisch an absolute Grenzen stoßen. Die internationalen westlichen und zum Teil asiatischen Konzerne haben alle Bereiche des Weltmarktes in den Bereichen Nahrungsmittel, Konsum und Infrastruktur besetzt und abgeriegelt. Diese Entwicklung wurde und wird von der Politik vorangetrieben durch zahlreiche Maßnahmen wie Freihandelsabkommen und neoliberale Auflagen für verschuldete Länder durch internationale Institutionen. Die Folgen sind seit den 1980er Jahren bekannt und diskutiert: Sowohl bäuerliche als auch KleinproduzentInnen können mit der Massenproduktion der Großkonzerne nicht mithalten und verlieren ihre Existenz. Die wenigen Regionen, in denen nach wie vor ein subsidiäres Wirtschaften vorherrscht, werden von internationalen Agrarfonds, die in großem Stil Land aufkaufen, und Bergbaugesellschaften in Kumpanei mit den jeweiligen nationalen Eliten zerstört.
Bestand in den 1970er Jahren noch die sozialdemokratisch geprägte Vorstellung, dass durch umfangreiche »Entwicklungshilfe« für die »Dritte Welt« ein bescheidener Wohlstand für alle erreichbar sei, wird dies heute nur noch als Fiktion aufrechterhalten. Der Kuchen ist begrenzt und es herrscht ein weltweiter Krieg um die größten Stücke. Der starke weltweite Wohlstandsgradient und der globalisierte Freihandel machen den Aufbau lokaler Produktivität und Akkumulation in der Peripherie unter Marktbedingungen sinnlos. Immer mehr Menschen werden ökonomisch »überflüssig«. Die eigentliche Wertschöpfung erfolgt zunehmend in einer illegalen und kriminellen Schattenökonomie entlang des weltweiten Wohlstandsgradienten. Zu Haupteinnahmequellen werden Drogen- und Menschenhandel und Korruption. Die sich neu bildenden ökonomischen Kartelle halten sich hochgerüstete Privatarmeen, die sich mit den staatlichen Sicherheitskräften im Kriegszustand befinden, wenn diese nicht gleich durch Korruption unter Kontrolle gebracht werden, wie etwa in Mexiko. Die Teile der Bevölkerung, die nicht in die kriminelle Schattenökonomie integriert sind, sehen ihre einzige ökonomische Perspektive in der Migration in wohlhabendere Staaten, oft mit dem Ziel, vor Ort gebliebene Verwandte dann aus dem Ausland finanziell zu unterstützen.
Je stärker nennenswerte Wertschöpfung aus den oben genannten Gründen nur noch im Austausch mit den Metropolen erfolgen kann, umso größer ist die Gefahr, dass der Staat zur Beute rivalisierender Bevölkerungsgruppen gerät. Es entwickeln sich inländische Kriege entweder um die lokale Kontrolle von Regionen mit vermarktbaren Rohstoffen oder auch des gesamten Staates, um durch entsprechende Korruption Deviseneinnahmen von außen für die eigene Klientel zu sichern. Aktuelle Beispiele für diese Art von »failed states« finden sich im Kongo und auch im frisch gegründeten Südsudan.
Aktuell stehen im Mittelpunkt der Migrationsbewegung nach Europa Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Auch wenn es natürlich lokal verortete Unterschiedlichkeiten gibt, wurde der Zerfall dieser Staaten im Wesentlichen aus geostrategischen Gründen von außen herbeigeführt. Unter dem Deckmantel humanitärer Intervention wurden in den letzten dreißig Jahren unter der Federführung von USA und NATO das ehemalige Jugoslawien, der Irak, Libyen und aktuell Syrien durch Intervention von außen zerschlagen und in einem »failed state«-Zustand hinterlassen. Aus diesen Ländern kommen aktuell die meisten Flüchtlinge.
Willkommenskultur und PEGIDA-Demonstrationen
Dass die Opfer des eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Handelns auf einmal vor der eigenen Tür stehen, war so von den herrschenden Eliten in Europa nicht vorgesehen. Glaubte man doch die Festung Europa durch Frontex, Rückführungsabkommen mit Anrainerstaaten und mit Stacheldraht bewehrte Zäune in Marokko ausreichend gesichert. Nun scheint die Rechnung »Verdient wird hier, gestorben woanders« nicht mehr aufzugehen. Die Devise der Flüchtlingsorganisationen »We are here, because you were there« scheint sich unmittelbar zu realisieren. Die Reaktionen auf diese neuen Umstände erfolgten in den verschiedenen europäischen Ländern und auch in der zeitlichen Abfolge sehr unterschiedlich. Die osteuropäischen Staaten – allen voran Ungarn – setzten offen auf rassistische Ablehnung und Grenzzäune. Allenfalls wäre man bereit, ein lächerliches Kontingent »ChristInnen« aufzunehmen. Da die meisten MigrantInnen nach Deutschland wollen, um dort entweder zu bleiben oder nach Skandinavien weiterzureisen, sah man es vorwiegend als »deutsches Problem«.
Deutschland selbst sah sich kalt erwischt. Hatte man doch mit dem Dublin-2-Abkommen erreicht, sich mit einem Ring von sicheren Drittstaaten zu umgeben, die als Erstaufnahmeländer für die Asylbearbeitung zuständig sind. Die katastrophale Situation der Flüchtlinge in den vom Abkommen am meisten betroffenen Ländern Griechenland und Italien ließ die Bundesregierung kalt. Gegen sämtliche Bestrebungen der dortigen Regierungen in den letzten Jahren, eine »gerechtere Verteilung« zu erreichen, wurde gemauert. Mit einem Mal brach nun dieses System zusammen. Bundeskanzlerin Merkel handelte dann nach der Devise: »Wenn Du einen Zug nicht stoppen kannst, dann setz dich vorne drauf.« Es wäre völlig unrealistisch gewesen zu glauben, die sich nach Deutschland auf den Weg gemachten Flüchtlinge würden in den Transitländern verharren oder gar umdrehen. So wurde eine »Willkommenskultur« geschaffen, um bei dem, was sich nicht ändern ließ, wenigstens ein gutes Bild zu machen. Ehrlich gemeint dagegen war und ist die große Hilfsbereitschaft großer Teile der deutschen Bevölkerung. Auf der anderen Seite stehen vermehrte Anschläge auf geplante und bewohnte Flüchtlingsunterkünfte und PEGIDA-Demonstrationen.
Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Im Schnellverfahren werden aktuell Verschärfungen im Asylrecht durchgepeitscht, die Deutschland als Asylland unattraktiv machen sollen. Dazu zählen die Ausweitung der Liste sogenannter »sicherer Herkunftsländer«, die Umstellung von finanzieller Unterstützung auf Sachleistungen und die Einrichtung sogenannter »Transitzonen« an der Grenze zu Österreich. Ausreisepflichtige abgelehnte AsylbewerberInnen sollen zynischerweise nur noch eine Fahrkarte und Reiseproviant erhalten. Ungeachtet der jahrelangen Ignoranz gegenüber der Situation in Griechenland und Italien verlangt nun Deutschland europäische Solidarität und will Flüchtlinge kontingentweise über ganz Europa verteilen, unabhängig davon, was diese eigentlich selbst wollen.
Grenzen werden weiter dichtgemacht
Diese Maßnahmen dienen allerdings hauptsächlich der innenpolitischen Beruhigung. Die Bundesregierung ist sich klar, dass diese Bestimmungen MigrantInnen kaum abschrecken, da allen Untersuchungen zufolge nicht das Ausmaß der Sozialleistungen für die Wahl des Ziellandes ausschlaggebend ist, sondern die dortige Anwesenheit von Verwandten oder befreundeten Landsleuten. Wie wenig die Eliten entgegen allen Beteuerungen bereit sind, an den wirklichen in der Ökonomie liegenden weltweiten Fluchtursachen zu arbeiten, zeigen die maßgeblich von der deutschen Bundesregierung durchgesetzten Austeritätsprogramme im Rahmen der Eurokrise. Selbst in den Metropolenländern Spanien und Griechenland ist man bereit, eine Jugendarbeitslosigkeit von fünfzig Prozent hinzunehmen, um die Renditen der Finanzmärkte zu sichern. Auf der Agenda steht daher die weitere Abschottung der Festung Europa ganz oben. Schon Anfang des Jahres wurde auf EU-Ebene eine Militarisierung der Flüchtlingsabwehr beschlossen als »Kampf gegen die Schleuserbanden«. In einem zeitlich abgestuften System sollen Kriegsschiffe Schleuserboote erst auf offener See und letztlich auch direkt an der libyschen Küste identifizieren und zerstören. Somit soll die Route über das Mittelmeer nach Italien gekappt werden. Die aktuell als »Balkanroute« bezeichneten Fluchtwege sollen schon in der Türkei versperrt werden. Dazu wird der noch vor kurzer Zeit als Paria in der Diplomatie geächtete türkische Staatspräsident Erdoğan wieder von allen Seiten hofiert. In Kooperation der griechischen und türkischen Küstenwache soll das Mittelmeer in der Ägäis dichtgemacht werden. Europa beteiligt sich an der Finanzierung von neuen Flüchtlingslagern in der Türkei und will sich verpflichten, feste Kontingente an Flüchtlingen aus diesen Lagern legal aufzunehmen. Das lässt sich der innenpolitisch ums Überleben kämpfende türkische Ministerpräsident Davutoğlu natürlich bezahlen. Er erwartet von Europa die Einstufung der Türkei als »sicheres Herkunftsland«. Es ist davon auszugehen, dass der von ihm neu entfesselte Krieg gegen die kurdische Bevölkerung von europäischer Seite aus im Gegenzug zur Kooperation in der Flüchtlingsfrage zumindest ignoriert wird. Hier macht Europa den Bock zum Gärtner, denn gerade die türkische Unterstützung des Islamischen Staates und der Al-Nusra-Front hat viel zum De-facto-Zerfall Syriens und damit auch zur Flucht vieler Menschen aus Syrien beigetragen.
Als weitere Maßnahme will die EU nun Geld in die Hand nehmen, um die Situation in den Flüchtlingslagern in den syrischen Nachbarländern zu verbessern. Dagegen ist nichts einzuwenden, es erfolgt aber weitgehend zu spät. Seit Jahren berichten der UNHCR und internationale NGOs von der Unterfinanzierung. Die elende Situation etwa der im letzten Jahr aus Şengal (Sindschar) vertriebenen êzîdischen Flüchtlinge um die Stadt Dihok herum im Nordirak war öfter Gegenstand deutscher Fernsehdokumentationen. Wie sagte Bundeskanzlerin Merkel auf Nachfrage zu der kontinuierlichen Unterfinanzierung sinngemäß: Da wäre den europäischen Regierungschefs in den letzten Jahren leider etwas »durchgegangen«.
Positive Auswirkungen, wenn dieser Begriff angesichts des Leidens Hunderttausender Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa überhaupt angebracht ist, als direkte Reaktion auf die sprunghaft zugenommene Migration zeigen sich auf diplomatischer Ebene im Hinblick auf Syrien. Während jahrelang den Gräueln des unerklärten Krieges zwischen Saudi-Arabien, Katar und der Türkei einerseits sowie Iran und Syrien auf der anderen Seite tatenlos zugeschaut wurde, zeigt sich jetzt zögerlich die Bereitschaft, auf eine Lösung des Konflikts unter der diplomatischen Führung Russlands hinzuarbeiten. Wenn man schon nicht willens oder in der Lage ist, die weltweiten ökonomischen Ursachen für die zunehmende Migration anzugehen, wird man bei der Destabilisierung missliebiger Staaten oder Regierungen wie im Falle Syriens oder auch der Ukraine in Zukunft vorsichtiger sein müssen. Zumindest so lange, bis die Situation an den Außen- und Innengrenzen Europas wieder unter Kontrolle ist.
Logistische Herausforderung ist kein Notstand
Es gibt wohl kaum eine Bevölkerungsgruppe, die in den letzten dreißig Jahren von Flucht und Vertreibung dermaßen betroffen war wie die Kurdinnen und Kurden. Anfang der 1990er Jahre zerstörte das türkische Militär 4 000 Dörfer in Kurdistan und vertrieb ca. vier Millionen Menschen, die entweder in die kurdischen Großstädte, in die Metropolen der Westtürkei oder nach Europa flohen. Als am Ende des ersten Golfkrieges die USA die KurdInnen und SchiitInnen aus geostrategischen Gründen fallenließen, flohen Hunderttausende vor den Bomben und dem Giftgas Saddam Husseins in die Türkei. Aktuell fliehen abermals Zehntausende syrische KurdInnen vor dem Krieg in Syrien in die Türkei, wo sie zumeist bei Verwandten unterkommen, in den Nordirak oder nach Europa. Das Beispiel Rojava zeigt beide Seiten der Medaille. Auch dort verlassen die Menschen aufgrund der kriegsbedingten wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten oder aus Angst vor dem IS die Region, vor allem solche, die wegen ihrer beruflichen Ausbildung dort gut gebraucht würden. Ähnlich sieht die Situation wahrscheinlich auch in den meisten Herkunftsländern aus, die Ausgangspunkte der aktuellen Flüchtlingsbewegung sind.
Für die Linke in Europa ergibt sich einerseits daraus die Aufgabe, Widerstand gegen Abschottung und Rassismus im Inneren zu leisten. Es wäre falsch, die logistischen Herausforderungen zu unterschätzen, die sich aktuell bei der Erstaufnahme von Flüchtlingen ergeben. Aber logistische Herausforderungen stellen keinen Notstand für Deutschland dar, wie es ScharfmacherInnen aus verschiedenen politischen Lagern zunehmend behaupten. Nach wie vor finden weltweit die meisten Flüchtlinge in Ländern Schutz, deren infrastrukturelle und finanzielle Möglichkeiten weit unter denen Deutschlands liegen.
Zum anderen müssen die wirklichen Fluchtursachen bekämpft werden, auch wenn dies zurzeit alle Regierungsverantwortlichen selbst im Munde führen. Es bedarf konsequenten Widerstands gegen Krieg und Destabilisierung ganzer Regionen aus geostrategischen oder ökonomischen Gründen. Die weltweite ökologische Zerstörung und Vernichtung von Lebensgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten sind die Folgen eines immer aggressiveren Kapitalismus. Dieses Modell ist nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass 198 angeblich souveräne Nationalstaaten sich unhinterfragt das Recht nehmen zu entscheiden, welche Menschen ihre Grenzen passieren dürfen, während das Finanzkapital längst alle Grenzen passiert und die Lebensbedingungen der Bevölkerung diktiert. Die Demonstration gegen das Freihandelsabkommen TTIP im Oktober in Berlin mit über 200 000 Beteiligten zeigt, dass sich diese Einsicht bei immer mehr Menschen durchsetzt.
Die kurdische Befreiungsbewegung steht für den Aufbau vernetzter regionaler Ökonomien, in denen die Menschen ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen können. Sie ist Teil einer weltweiten antikapitalistischen Bewegung, die mit der Überwindung des Kapitalismus auch Zerstörung, Hunger und Krieg als Fluchtursachen bekämpfen will.