Zur gegenwärtigen Lage in Kobanê

Die Belagerung hält an

Idriss Nassan, Kobanê, 24.11.2015

Kobanê umfasst ein Gebiet, in dem ca. 500 000 Menschen leben und das aus mehr als 400 Dörfern und Städten besteht. Es liegt im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei in der Region, die Rojava [kurd.: Westen] genannt wird. Rojava hat viele Städte und Dörfer, die größte ist Heseke (Al-Hasaka), dann kommen Qamişlo (Al-Qamischli), Efrîn und Kobanê (Ain al-Arab).

Kobanê wurde am 19. Juli 2012 vom Regime Assads befreit. Die Befreiung war ein Ergebnis der Juli-Revolution. Nach und nach befreiten sich auch die anderen Städte und Dörfer Rojavas und erklärten in ihrem jeweiligen Kanton die Selbstverwaltung, an der alle Bevölkerungsteile wie die Kurden, Araber, Turkmenen, Christen und Assyrer beteiligt sind.

Zum ersten Mal konnten sich alle genannten Minderheiten frei äußern. Unter dem Regime Assads und seiner Baath-Partei galt nur die arabische Nation etwas und nur eine Macht, das Regime Assads.
Leider will die benachbarte Türkei keine Entwicklung zu einer Lösung der kurdischen Frage in einem der Staaten, die Kurdistan besetzen (Syrien, Irak, Iran, Türkei). So versuchen Erdoğan und andere türkische Kräfte, Rojava unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie islamistische Gruppen dazu bewegen, Kobanê und Rojava anzugreifen, zu belagern und zu kontrollieren.

Al-Nusra, Ahrar al-Scham und andere bewaffnete islamistische Gruppen zeigten ihre Feindschaft gegen die kurdische Bevölkerung durch Gefangennahmen und Entführungen. Sie rissen auch Lebensmittel, Medikamente und Babynahrung an sich und zerstörten die Wasser- und Elektrizitätssysteme in Kobanê.

Sie griffen Kobanê oft an, aber die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) verteidigten die Bevölkerung mutig, weshalb die Terroristen nicht weiter gegen diese vorgehen konnten. Doch das Leben war unter den andauernden Angriffen, Belagerungen und Bombardements äußerst schwer.

Am 15. September 2014 begannen die IS-Terroristen von drei Seiten überaus heftige Angriffe auf Kobanê. Dabei verwendeten sie Panzer, Mörsergranaten und alle schweren Gerätschaften, die sie aus Mossul und einigen syrischen Militärstationen hatten erbeuten können. Sie nutzten alles außer Kampfbombern.

Auf der anderen Seite waren die Einheiten der YPG und der YPJ, unterstützt von zivilen Freiwilligen aus Kobanê, Kurdistan und der ganzen Welt und lediglich mit einfachen und mittelschweren Waffen ausgerüstet. Der IS machte schnell Fortschritte gegen die kurdischen Kräfte, kontrollierte unsere Dörfer und zwang Menschen zur Flucht, indem ihnen angedroht wurde, geköpft zu werden oder als Sklaven genommen oder vergewaltigt zu werden, wie es im irakischen Şengal (Sindschar) passiert war.

98 % unserer Bevölkerung passierten unter dramatischen Umständen die Grenze zur Türkei. Barfüßige Kinder, weinende alte Männer und Frauen verließen mit enttäuschten Hoffnungen die Städte und Dörfer, die Widerstand leisteten und zerstört wurden.

Kinder auf den Straßen Kobanês | Foto: A. BenderHunderte von mit dem Tod konfrontierten Zivilisten und Kämpfern waren äußerst mutig und leisteten über einen Monat Widerstand gegen Selbstmordattentäter und schwere Anschläge des IS, bis die Verteidigung Kobanês durch die Kampfflieger der internationalen Koalition, 150 Peschmerga-Kämpfer und einige Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) unterstützt wurde.

Alle Dörfer und die halbe Stadt wurden von den Terroristen kontrolliert und türkische Regierungskräfte behaupteten: »Kobanê wird fallen!«

Am 27. Januar 2015 wurde die Stadt Kobanê, die zu siebzig bis achtzig Prozent zerstört worden ist, befreit. Es war das erste Mal, dass der IS besiegt wurde. Damit wurde Kobanê ein internationales und humanitäres Symbol des Widerstands gegen Terrorismus.

Nach der Befreiung der Stadt beruhigten die Männer und Frauen hinter der Grenze ihren Schmerz irgendwie, da sie wieder den Boden Kobanês betreten konnten. Dennoch, es sind überall Ruinen und Zerstörung zu sehen.

Der Kampf ging weiter und so auch die Befreiung, bis alle Dörfer aus der Kontrolle des IS befreit waren. Dann wurden auch die benachbarten Städte Girê Spî (Tell Abyad), Sirrînê (Sarrin) und Ain Issa befreit und werden seitdem von Einheiten der YPG, YPJ und FSA beschützt. Der IS wurde über siebzig Kilometer in den Süden und ca. vierzig Kilometer in den Westen getrieben. Die östliche Seite Kobanês ist nun frei vom IS und mit dem Kanton Cizîrê verbunden.

Der Wiederaufbau begann mit der Bildung eines Kobanê Reconstruction Board am 27. Januar 2015 und einer Konferenz vom 2. bis 3. Mai in Amed (Diyarbakır), die von zahlreichen kurdischen Parteien und internationalen Organisationen besucht wurde, die alle am Wiederaufbau Kobanês interessiert sind.

Im Europaparlament wurde am 1. Juni 2015 eine von der EU finanzierte internationale Konferenz abgehalten. Es ist bisher schon viel wichtige Arbeit geleistet worden, doch der Wiederaufbau ist noch nicht vollzogen.

Schuttabtransport: Siebzig bis achtzig Prozent der Stadt wurden zerstört. Daher gibt es viele Ruinen, Schutt und Überreste des Krieges. 85 000 Lkw-Ladungen wurden abtransportiert und es besteht der Plan, die Schuttaufräumarbeiten in den kommenden zwei Monaten zu beenden. Außerdem wurde der größte Teil der Sprengfallen, Minen, Granaten und Raketen entschärft.

Wasser und Abwassersysteme: Sechzig Prozent des zerstörten Systems wurden bislang mit Unterstützung kurdischer Kommunen aus Nordkurdistan (Türkei) wieder in Gang gesetzt.
Wege und Straßen: Die Straßen in der Stadt wurden zu hundert Prozent repariert.

Elektrizität: Das gesamte Elektrizitätssystem ist zerstört. Daher versorgt die Verwaltung die Bevölkerung acht Stunden am Tag mit Elektrizität über Generatoren.

Gesundheitsbereich: Kobanê hatte vier Krankenhäuser und zwei medizinische Stationen, einige von ihnen sind beschädigt oder zerstört. Ein Krankenhaus und zwei Polikliniken wurden wieder aufgebaut. Sie bieten medizinische Versorgung für die Bevölkerung, aber es gibt noch immer Versorgungsengpässe bei Medikamenten, Impfstoffen und Geräten. Menschen mit schweren Krankheiten und Verletzungen schicken wir daher in die Türkei.

Bereich Bildung: Es gab fünfzehn Schulen in der Stadt und über 400 in den Dörfern. In der Stadt sind noch acht Schulen zerstört, sieben wurden schon wieder aufgebaut. In den Dörfern wurden über 120 Schulen wieder aufgebaut und über 9 000 Kinder und Jugendliche können nun zur Schule gehen.

Land- und Viehwirtschaft: Der größte Teil der Felder und des Viehbestands wurde bei den Angriffen des IS zerstört. Diesen Bereich wiederaufzubauen und für die Produktion vorzubereiten war wie ein Neubeginn. Die Verwaltung ist mithilfe einiger humanitärer und kurdischer Organisationen in der Lage, Bauern mit Brennstoff, Saatgut, einigen Maschinen und Hunderten Schafen und Ziegen zu versorgen. Der Bedarf ist allerdings noch groß.

Wiederaufbau: Ein großer Teil unserer Bevölkerung lebt noch immer als Vertriebene in Zelten in Camps im Westen von Kobanê und in der Türkei. Im Westen Kobanês wird ein Projekt mit 1320 Appartments realisiert, um diesen Menschen eine Unterkunft zu bieten. Aber ohne einen Hilfskorridor wird es lange Zeit brauchen, entsprechendes Material wie Zement, Eisen und so weiter heranzuschaffen.

Humanitäre Organisationen in Kobanê: Einige Organisationen wie MSF, Concern, IMC, ICOR, Global, DCA, AAR JAPAN, IRC und andere sind aktiv in Kobanê.

Trotz aller erwähnten Entwicklungen ist Kobanê in allen Lebensbereichen noch immer in einem kritischen Zustand. Es gibt weiterhin Engpässe bei Lebensmitteln, Medikamenten, Material für den Wiederaufbau, Elektrizität, Krankenhäusern, Schulen etc.

Die Belagerung geht weiter. Die türkischen Autoritäten blockieren weiterhin den einzigen Grenzübergang zur Türkei (Mürşitpınar). Die Umgebung in der Region wird durch die Terroristen des IS kontrolliert. Daher ist ein humanitärer Korridor oder der Zugang über die türkische Grenze dringend notwendig für Kobanê, um mit humanitärer Hilfe und Material für den Wiederaufbau ausgestattet werden zu können.
Ansonsten hält die Krise weiter an und die Vertriebenen sind durch Krankheiten und Seuchen gefährdet.


Idriss NassanIdriss Nassan ist Mitglied der Demokratischen Partei Kurdistans in Syrien (PDKS) und Beauftragter der Administration des Kantons Kobanê für auswärtige Angelegenheiten. Er hat Anglistik studiert und war seit 2004 als Englischlehrer tätig.