Die sumerische Mythologie und die Geschichte der

Ideologisierung der Männlichkeit, Vergewaltigung, Entwurzelung und Verrat

Dilzar Dîlok, Mitglied des Zentralkomitees der PKK

Der beste Weg, die Gegenwart zu verstehen, ist der Versuch, den Geist des Moments zu erfassen und ihn zu leben. Und dies kann man, indem man den Moment mit der Vergangenheit, der Gesamtsumme der Momente, die ihn zur Gegenwart brachten, zusammen denkt.

Wenn wir den Nahen Osten, den nahöstlichen Menschen sowie Kurdistan und die gegenwärtige Situation der Menschen in Kurdistan betrachten, sehen wir, dass alles Heilige verdammt worden ist. Der Verrat an der eigenen Gesellschaft, der eigenen Gesellschaftlichkeit und dem eigenen Verständnis des freien Lebens reicht aus, um diese Verdammnis zu begreifen. Im Nahen Osten existieren Verrat und Kollaboration, die das eigene Heilige eigenhändig den Herrschenden darreichen. Dieses Bild bietet sich uns jeden Moment und lädt uns dazu ein, die Geschichte und die Geschichtlichkeit der Gesellschaft neu zu untersuchen.

Die Mythologien, die erzählerisch bis heute weitergegeben wurden, stellen eine der wenigen Quellen für die Erläuterung mancher Geschichtsepoche dar. In diesem Sinne beinhaltet die sumerische Mythologie Hinweise auf die Entstehung der Hierarchie, des Patriarchats und der Sklaverei von Frauen und Männern. Auch wenn wir die erste Zäsur im Gesellschaftsstatus der Frau im babylonischen Schöpfungsmythos Enūma eliš feststellen können, hatte der eigentliche Bruch schon bei den Sumerern stattgefunden. Tiamats Niederlage im Kampf gegen Marduk, die Spaltung ihres Körpers durch seinen Todesstoß, wurde zu einem Symbol für die Entheiligung der Frau und ihre Entfernung aus dem Götterrat.Tontafel mit dem Gilgamesch Epos | Foto: Wikipedia

Die Entfernung der Frau aus dem Götterrat stellt ein so entscheidendes Ereignis dar, dass es nicht einfach als Rauswurf aus dem Rat nach dem Kampf zwischen zwei Parteien interpretiert werden darf. Ihre Entfernung aus dem Rat, den man als Politik bezeichnen könnte, veranschaulicht ihre Verdrängung aus dem Leben, ihre Herabsetzung, das Abtöten der weiblichen Elemente des Lebens und der Gesellschaft und das Zurücklassen der gesellschaftlichen Männer- und Frauenidentitäten als die Formen des Weibes [türkisch: karı] und des herrschenden Mannes. Um die Entstehung dieser Normen zu begreifen, muss die Zeit vor dem Tiamat-Marduk-Mythos betrachtet werden, der den Bruch des Geschlechterstatus der Frau darstellen soll.

Es muss untersucht werden, wie die daraus entstandene Mentalität des Mannes hatte entstehen können, die den Bruch hervorrief. Obwohl dieser Prozess in den sumerischen Schrifttafeln niedergeschrieben worden war, blieb er aufgrund irreführender Interpretationen unbeachtet. Und die Herabsetzung der Gesellschaft wurde zeitlich unmittelbar mit der Herabsetzung der Frau gleichgesetzt. Es ist bisher nicht wirklich darauf eingegangen worden, wie beide Geschlechter gemeinsam herabgesetzt wurden, obwohl die Realität des lügnerischen, despotischen Mannes nur durch die Ideologisierung der Männlichkeit ermöglicht werden kann. Die Herabsetzung der männlichen Individuen in der Gesellschaft schafft die Männer, die die Frauen herabsetzen, und diese beiden Verhältnisse konstruieren – sich gegenseitig stützend – die hierarchisch-etatistischen Systeme. In diesem Sinne sollte das Gilgamesch-Epos untersucht werden.

Dieses Gründungsepos der Stadt Uruk ist die Geschichte der Entnaturalisierung der männlichen Identität, der Hegemonie der Männlichkeit über andere Männer und ihrer Verwendung als zentrales Mittel zur Herabsetzung der Gesellschaft.

In der Muzaffer-Ramazanoğlu-Übersetzung des Gilgamesch-Epos kann man wieder – den Optimismus der belletristisierten Mythologie einmal beiseitegelassen – seine Verfälschung erkennen. Genauso sollte nicht vergessen werden, dass das, was als historischer Roman geschrieben wird, eine Geschichtsverfälschung in Romanform bedeutet, dass die Gesellschaft dadurch, ohne verletzt zu werden, repressiv gebrochen wird. Man sollte auch nicht außer Acht lassen: In diesem Sinne dienen historische Romane auf Hegemonie basierenden Herrschaftssystemen und haben die Funktion, Geschichte zu ideologisieren. Aus diesem Grund ist der Irrglaube, sich Geschichte durch die Lektüre historischer Romane aneignen zu können, nichts anderes, als das Geschichtsbild, das das herrschende System zu schaffen versucht, in den eigenen Verstand einzupflanzen.

Das Gilgamesch-Epos sollte nicht als Frau oder mit den Augen einer Frau gelesen, sondern das dort Erzählte vielmehr mit Bezug darauf betrachtet werden, wie sich der natürliche Verlauf des menschlichen/gesellschaftlichen und natürlichen Lebens entwickelte und zum Stillstand gebracht wurde. Im Epos wird die weibliche Sexualität benutzt, um aus dem »Bergmenschen« Enkidu einen »Stadtmenschen« zu machen. Dies ist der erste Schritt zu seiner Herabsetzung. Der Bergmensch Enkidu ist ein Individuum der ländlichen Stammesgesellschaft. Um zu sehen, was die zweite und eigentliche Herabsetzung ausmacht, braucht es wieder einen Blick in das Epos:

Enkidu, dir, der du das Leben nicht kennst,
Will ich Gilgamesch zeigen, den so ungleich Gestimmten!
Sieh ihn, schau auf sein Angesicht:
An Männlichkeit schön ist er, Würde hat er,
An Fülle überreich an seinem ganzen Leibe;
Stärke, gewalt‘gere, hat er denn du,
Ohne Ruhe bei Tag und bei Nacht.
Enkidu, gib deine Unart auf! Gilgamesch – Schamasch hat Lieb‘ ihm erzeigt,
Anu, Enlil und Ea den Sinn ihm geweitet:
Ehe aus der Steppe du gekommen,
Sah Gilgamesch Träume von dir in Uruk:
Auf stand Gilgamesch, erzählt‘ den Traum,
Und sprach zu seiner Mutter:
»O Mutter, im Traum meiner letzten Nacht
Ging ich kraftgeschwellt fürbaß unter den Mannen;
Da sammelten sich um mich die Sterne des Himmels –
Die Waffe des Anu stürzte auf mich herab;
Heben wollt‘ ich‘s, da war sie mir zu schwer,
Bewegen wollt‘ ich‘s und konnt‘s nicht bewegen!
Uruk-Land sammelte sich herzu,
Die Mannen küßten die Füße ihm;
Da lehnt‘ ich mich dagegen, sie standen mir bei,
Ich hob sie auf und trug‘s hin zu dir.«
Gilgameschs Mutter, der alles kund ist, sprach zu Gilgamesch:
»Vielleicht, Gilgamesch, wurde einer wie du
In der Steppe geboren,
Heranwachsen ließ ihn das Steppenland –
Siehst du ihn, so wirst du Freude haben;
Die Mannen küssen die Füße ihm!
Du wirst ihn umarmen, ihn zu mir führen!
Der starke Enkidu ist‘s,
Ein Gesell, der dem Freund aus der Not hilft!
Der Stärkste im Land ist er, Kraft hat er,
Gleich der Feste des Anu gewaltig ist seine Stärke!
Wie über einem Weib hast du über ihm geraunt,
... er aber wird dich immer wieder erretten.«

In der Fußnote zu diesem Teil weist der Übersetzer vor allem darauf hin, dass die Beziehung zwischen Gilgamesch und Enkidu keine homosexuelle und dies ein irreführendes Ereignis sei, und der vom Eposschreiber erzählte Traum stelle den Höhepunkt seiner Kunst dar. Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass durch diese Erläuterung das Vergewaltigerdasein Gilgameschs verdeckt wird. Gilgameschs Traum wird aber in einem Wortlaut geschildert, der eine Vergewaltigung beschreibt. Hier ist es wichtig, dass nicht das Wort »Frau« verwendet wird. Die Beschreibung »wie ein Weib« wird so benutzt, als solle eigentlich die Verweiblichung des Mannes definiert werden.

Gilgameschs perverse Träume, die im ganzen Epos vorkommen, weisen auf den Männertypus hin, den die sumerischen Priester zu schaffen versuchten. Die Männlichkeit wurde in der Form Gilgameschs ihres Daseins als einer natürlichen Geschlechtsidentität beraubt und ideologisiert. Die Frau nicht als Frau, sondern als Weib zu betrachten, an dem man sich befriedigt, ist eine Hegemonialideologie, die man Gilgamesch ausführen ließ. Die Frau als Befriedigungsobjekt zu betrachten, durch dieses Befriedigungsobjekt jedes Ziel zu erreichen, andere Männer mithilfe dieses Objekts herabzusetzen, in die Falle zu locken, ihrer Natürlichkeit zu berauben und sich selbst anzugleichen, das stellten die wesentlichen Eigenschaften Gilgameschs dar. Diese sind gleichzeitig die wesentlichen Eigenschaften des Typus des vergewaltigenden Mannes.

Enkidu wird zuerst mithilfe der Frau in die Falle gelockt und umerzogen. Mithilfe der Frau wird er dazu gebracht aufzuhören, er selbst zu sein, und er wird aus seinem gesellschaftlichen Leben herausgerissen. Interessant ist, dass dieser Teil des Epos nahezu die Geschichte der kurdischen Männer erzählt, die in die türkischen oder europäischen Metropolen auswandern. Die Interpretation dessen, was Enkidu widerfuhr, ist von wesentlicher Relevanz, um die Lage zu verstehen, in die die männliche Identität geraten ist. Mithilfe der weiblichen Sexualität dazu gebracht zu werden aufzuhören, man selbst zu sein, stellt eine seit den Sumerern häufig angewandte Methode dar. Danach wird Enkidu überredet, sich zu Gilgamesch bringen zu lassen. Enkidu selbst, im Unwissen darüber, was ihm widerfahren wird, zieht los, um Uruks Schicksal zu ändern.

Gleichzeitig berichtet das Gilgamesch-Epos von dem ersten Konflikt zwischen Stadtmensch und Barbar. Es enthält Einzelheiten des Stadt-Land-Konflikts. Die Erniedrigung der Landbewohner und ihre Identifizierung mit Schmutz einerseits, die Verführung zum Stadtleben und dessen Identifizierung mit Sauberkeit andererseits gehören zu den Motiven, die im Gilgamesch-Epos auftauchen. Außerdem wird darin die Tatsache widergespiegelt, dass es von europäischen bzw. europäisch denkenden Männern übersetzt wurde. Der folgende Teil des Epos beweist diesen Umstand:

Brot aß Enkidu, bis er gesättigt war,
Trank den Rauschtrank – der Krüge sieben!
Frei ward sein Inneres und heiter,
Es frohlockte sein Herz, und sein Antlitz erstrahlte! –
Mit Wasser wusch er ab seinen haarigen Leib:
Er salbte sich mit Öl und wurde dadurch ein Mensch.
Ein Gewand zog er an, wie die Männer ist er nun.

Humbaba [Wächter des Zedernwaldes im Libanon], in den Augen der Leser zu einer Bestie gemacht, sollte über seine Reaktion auf die gefällten Bäume interpretiert werden:

»Wer ist es, der die Bäume, die Kinder der Berge, vergewaltigt? Wer ist es, der die Zedern fällt?«

Enkidus Umgang mit Humbabas Kampftaktiken – nach dem Ereignis, von dem Gilgamesch mit den Worten »auf ihm befriedigte ich mich wie auf einem Weib« berichtet, also nach der Vergewaltigung Enkidus durch den König/Mann – zeigt, dass das Enkidu widerfahrene Ereignis nun eine Linie bildet. »Enkidu tat seinen Mund auf zu reden und sprach zu Gilgamesch: mein Freund, hör nicht auf das, was Humbaba dir sagt!« Du sollst Humbaba töten, sagt Enkidu zu Gilgamesch. Enkidus Verhalten nach der Vergewaltigung illustriert, wie sich die kollaboratorisch-verräterische Linie als Folge einer Vergewaltigung entwickelt. Um zu dem Schluss zu gelangen, dass hinter jedem Verrat, hinter jeder Kollaboration eine Vergewaltigung steckt, ist der Fall Enkidus genauso wichtig wie das Wissen über die Gegenwart.

Die Stadt Uruk stand unter dem Schutz von Inanna. Um 3 000 v. u. Z. entstand hier das erste Staatsgebilde. Da Gilgamesch ein Drittel Mensch und zwei Drittel Gott war, war er der kräftigste Mann der Stadt, so kräftig wie ein Ochse. Diese Beschreibung, die auf der Wichtigkeit des Ochsen in Agrargesellschaften beruht, zeigt gleichzeitig, wie der Mythos vom heiligen Stier entstand. Gilgameschs Kampf mit den Göttinnen ging Hand in Hand mit seinen Angriffen auf die ländliche Gesellschaft, denn Sinn und Ziel seiner Angriffe auf die Frau und die Gesellschaftlichkeit waren dieselben. Das Epos ist durch und durch das Produkt einer ideologischen Konstruktion und zielt gleichzeitig auf eine ideologische Konstruktion ab. Die Gilgamesch-Figur, König und Soldat zugleich, weist darauf hin, wie der zu gründende Staat zu entstehen und aus was für Menschen er zu bestehen hatte. Im Epos werden die Entstehung des Staates, die Herabsetzung der Männlichkeit in Form der herabgesetzten Frau und des verweiblichten Mannes, die in Königen personifizierte Schaffung der herrschenden Männlichkeit und die Vergegenständlichung der Frau dargestellt, die Frau als eine Konkubine neben Gilgamesch.

Enkidus Herabsetzung durch Gilgameschs Vergewaltigung stellt einen historischen Präzedenzfall dar. Danach wird Humbaba angegriffen. Dabei stellt sich heraus, dass dieser Angriff nicht nur Humbaba, sondern allen Menschen der ländlichen Stammesgesellschaft gilt. Hier werden die Menschen der ländlichen Stammesgesellschaft entweder umgebracht oder wie Enkidu »umworben« und dadurch herabgesetzt und im Stadtleben assimiliert. Das ganze Epos von Anfang bis Ende erzählt, wie die Individuen der ländlichen Stammesgesellschaft mit unterschiedlichen Methoden aus ihrer Gesellschaftlichkeit herausgerissen, aus ihrem freien Dasein entfernt, versklavt und an ein Leben gewöhnt werden, das nicht das ihre ist. In gewissem Sinne ist das Gilgamesch-Epos eine Assimilationsgeschichte, in einem weiteren Sinne die der ersten Dorfevakuierung.

Es stellt vielleicht sogar das erste historische Beispiel der Degeneration dar, die aktuell im Nahen Osten stattfindet. Die Brutalität des IS, der sich als vergewaltigend-männlicher Imperialismus äußert, ist die Konkretisierung der in Uruk geschaffenen Männlichkeitsideologie auf irakischem Boden. Obwohl ich den Begriff Degeneration nicht gern gebrauche, benutze ich ihn in diesem Zusammenhang, da diejenigen, die ihr eigenes Heiliges dermaßen vergewaltigen können, mit Sicherheit durch eine geistige bzw. physische Vergewaltigung aus ihrer eigenen Menschlichkeit und ihrer eigenen Geneaologie der Bedeutung herausgerissen wurden. Um gegen den IS kämpfen, Widerstand leisten und das Heilige des Nahen Ostens beschützen zu können, muss man sich von der verräterischen und kollaboratorischen Linie entfernen.

Verrat und Kollaboration in Kurdistan sind Ausdruck der Aufrechterhaltung der durch internationale Verträge geschaffenen Enkidu-Linie bis heute. Diese Linie wird nach wie vor von der Demokratischen Partei Kurdistan/Irak (PDK) u. ä. verkörpert. Wie Enkidu zu Enkidu wurde, so wurden auch diese Parteien mit denselben Methoden auf die verräterische und kollaboratorische Linie gebracht. Von diesen Parteien, denen eine internationale Herabsetzung widerfuhr, Widerstand gegen die IS-Angriffe zu erwarten, ist sowieso eine historische Unmöglichkeit.

Um die Gegenwart zu verstehen, muss die Geschichte betrachtet und der Moment zusammen mit seinen Wurzeln gedeutet werden. Ihre Rolle in diesem Zusammenhang macht die Untersuchung von Mythologien zu einer Notwendigkeit. Jeder Begriff, der in Mythologien auftaucht, ist als ein Schritt der neuen Konstruktion anzusehen. Diese Bestimmungen nicht als Erläuterungen zur sumerischen Erfindung, sondern als künstlerische Diskurse zu qualifizieren, würde uns daran hindern, die geschichtlich-gesellschaftliche Realität zu begreifen.

Die letzten Worte Enkidus, der Figur des gegenüber dem herrschenden Mann verweiblichten Mannes, der der Vergewaltigung nicht entkam und deswegen die verräterische Linie annahm und mit seinem Feind kollaborierte, könnten darauf hindeuten, dass er in der Todesstunde seine eigene Wahrheit begriff:

Mich hat, mein Freund, verwünscht eine böse Verwünschung!
Nicht wie jemand mitten im Streite fällt, sterb ich,
Mich schreckte die Schlacht, so sterb ich ruhmlos.

Ja, Enkidu unterlag einer Verwünschung. Alle Bäume, denen er seinen Rücken kehrte, die er verriet, verwünschten ihn. Alle Kinder Humbabas haben ihn verwünscht und verdammt. Die Natur, der ländliche Stammesmensch und seine Gesellschaftlichkeit fordern von Enkidu und allen, die zu Enkidus werden, das niemals zu verzeihen.