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IPPNW-Delegation in Nordkurdistan

Erdoğans Krieg gegen die Kurden

Dr. Gisela Penteker, IPPNW

Trotz aller Sicherheitsbedenken hat sich auch in diesem Jahr eine Gruppe von acht Personen als Delegation der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) auf den Weg in den Südosten der Türkei gemacht.

Rathaus von Diyarbakir | Foto: Mehmet BayvalWir führten Gespräche in Ankara, Amed (Diyarbakır), Mêrdîn (Mardin), Cizîr (Cizre) und Wêranşar (Viranşehir) mit erfahrenen und besonnenen Politikern und Menschenrechtlern, die wir meist seit Jahren kennen. Alle waren ratlos und wie im Schock angesichts des Krieges, der seit Monaten mit vorher nicht vorstellbarer Grausamkeit gegen die kurdische Bevölkerung geführt wird. Über soziale Medien erreichen uns auch in Deutschland Bilder und Berichte über die Zerstörungen in kurdischen Städten, es gibt sogar ein paar gute Fernsehdokumentationen. Trotzdem ist hier über den Bürgerkrieg zwischen Kurden und Türken wenig bekannt. Die PKK gilt den meisten als Terrororganisation und ihre Bekämpfung wird im Rahmen des internationalen Krieges gegen den Terror für richtig und notwendig gehalten. Leider ist zu befürchten, dass sich bei der PKK und ihren kurdischen Unterstützern die Hardliner durchsetzen und sie so spätestens mit Beginn des Frühlings ihrem Ruf gerecht werden. Mehrere unserer Gesprächspartner kritisieren, dass die jugendlichen Barrikadenbauer mit ihrem bewaffneten Widerstand dem Präsidenten erst den Vorwand für seinen Angriff auf die Zivilbevölkerung in den Städten geliefert hätten. Die dabei ausgeübte Gewalt durch Spezialeinheiten, Polizei und Militär ist allerdings völlig unverhältnismäßig. Gegen etwa 200 bewaffnete Aufständische stehen 15 000 bis 20 000 Soldaten. Mit schwerer Artillerie beschießen sie die betroffenen Stadtviertel und zerstören anschließend Haus für Haus. Fassungslos standen wir in den Trümmern von Cizîr, in denen Menschen mit versteinerten Gesichtern nach den spärlichen Resten ihrer Habe suchten. Am Tag unserer Abreise erfuhren wir durch die Medien, dass die zerstörte Altstadt Sûr von Amed von der Regierung beschlagnahmt wurde. Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu haben angekündigt, die kurdischen Städte nach der »Säuberung« schnell und modern wieder aufzubauen. Uns schaudert bei dem Gedanken an die neuen Hochhausviertel am Rande der Städte Mêrdîn und Amed, die mit kurdischer Tradition und Lebensweise so gar nicht vereinbar sind. Die kurdischen Bürger haben Angst, dass in ihren Städten vermehrt sunnitische, arabische Flüchtlinge aus Syrien angesiedelt werden sollen und so eine demografische Verschiebung im Sinne der Regierungspartei AKP.

Viele Kurden sehen sich in einem Vernichtungskrieg. Etwa 400000 Menschen haben schon ihre Wohnungen verlassen oder verloren. Viele wollen nur noch weg aus der Region, da sie keine Hoffnung auf ein Leben in Frieden mehr haben. Hier könnte sich eine neue Fluchtwelle nach Europa ankündigen. Europas Politiker verschließen die Augen vor dem Krieg, der hier stattfindet. Ihre Komplizenschaft mit dem »Psychopathen von Ankara«, wie eine Gesprächspartnerin den Präsidenten nennt, wird von den Menschen mit Bitterkeit kommentiert. Insbesondere die Wahlhilfe für Erdoğan durch den Besuch von Frau Merkel im Wahlkampf stößt auf heftige Kritik.

Die meisten Menschen, die wir treffen, sind überzeugt, dass Erdoğan sie und die ganze Türkei ins Verderben führen wird. Er habe sich alle Nachbarn zu Feinden gemacht, er habe das Präsidialsystem, das er politisch nicht durchsetzen konnte, einfach eingeführt und schere sich den Teufel um bestehende Gesetze. »Erdoğan ist das Gesetz und die AKP ist der Staat.«

Die Polarisierung der Gesellschaft ist so weit fortgeschritten, dass niemand einen Ausweg erkennen kann. Selbst ein erfahrener Politiker wie Ahmet Türk, der schon viele Höhen und noch mehr Tiefen erlebt hat, wirkt ratlos und verzweifelt. Ohne den auf der Gefängnisinsel Imralı isolierten Abdullah Öcalan und ohne eine Vermittlung durch eine integre Person oder Gruppe von außen, die sowohl das Vertrauen der Menschen in der Türkei als auch der USA und Europas genießt, sieht er sein Land in Blut und Chaos versinken.
Die Menschen in Kurdistan wollen keinen Krieg. Es gibt schon viel zu viele Tote und Vertriebene. Alle waren sich einig, dass die Kurdenfrage nicht mit Gewalt zu lösen ist. Das stimmt auch weiterhin, nur sind die Stimmen der Besonnenen im Kriegsgetöse kaum zu hören. Die kurdische Gesellschaft, sowohl in der Türkei als auch besonders in Rojava, hat ihre Fähigkeit zu friedlicher Veränderung hin zu einer gleichberechtigten Teilhabe von Männern und Frauen, von Völkern, Religionen und Kulturen längst bewiesen.

Mein Herz blutet, wenn ich an das zerstörte Sûr denke, das ich in den vergangenen Jahren so lieben gelernt habe. Selbst wenn es so prächtig wie Toledo (Davutoğlu) wieder aufgebaut werden sollte, wird es ein totes Freilichtmuseum sein und nicht der lebendige Schmelztiegel vieler Völker und Religionen, der in den letzten Jahren des relativen Friedens wieder im Entstehen war.