Das YNK-Gorran-Abkommen, die politische Krise in Südkurdistan und das Referendum

Demokratie und nationale Einheit sind der Maßstab

Halit Ermiş und Devriş Çimen, Journalisten, Südkurdistan

Im Schatten der Diskussion um ein mögliches Referendum über die Unabhängigkeit Südkurdistans, der autonomen Region Kurdistan in Nordostirak, unterzeichneten am 17. Mai 2016 Noşirwan Mustafa, der Vorsitzende von Gorran [der 2009 in Opposition zu den herrschenden Parteien gegründeten »Bewegung für Wandel«], und Xosret Resul, der stellvertretende Generalsekretär der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), im Beisein von YNK-Generalsekretär Dschelal Talabanî ein 25 Punkte umfassendes Abkommen.


Dieses Abkommen gilt es genauer zu betrachten. Ist es ein erster Schritt in Richtung Demokratie oder wird es lediglich in die Reorganisierung der Machtverhältnisse münden? Kann es einen neuen Aufbruch bedeuten für das wegen politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen schwächelnde Südkurdistan? Die wichtigste Frage stellt sich jedoch im Zusammenhang mit der kurdischen Einheit: Hat dieses Abkommen Potential, über Landesgrenzen hinweg auch bei allen kurdischen Organisationen Zuspruch zu finden, während der Mittlere Osten am 100. Jahrestag von Sykes-Picot neu formiert wird? Diese Fragen beschreiben derzeit die aktuellen Themen aus Südkurdistan, deren Antworten sicherlich für alle Kurden von Interesse sind.

Unabhängiger Staat oder freie Gesellschaft?

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Referendum, das zur Abstimmung über die Unabhängigkeit Südkurdistans vorgeschlagen wird. Es sieht laut irakischer Verfassung lediglich einen Volksentscheid über die administrative und politische Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete von Mossul und Kerkûk vor.

Die Behauptung, alle Probleme und Krisen im Zusammenhang mit dem Zustand der Demokratie, einer intransparenten Politik, der defizitären politischen Teilhabe, einem fehlenden Produktionssektor im Bereich der Wirtschaft, der Geschlechter- und Ökologiefrage würden allein aus der fehlenden Staatlichkeit Südkurdistans herrühren, ist ein gern verwendetes taktisches Manöver der Machthabenden.

Dabei ist Südkurdistan seit 2003 de facto eigentlich ein unabhängiger Staat. Und eigentlich gab es auch keinen Grund, die Hindernisse, welche die Freiheit der Gesellschaft blockieren, nicht aus dem Weg zu räumen. Die Kurden sollten natürlich eine Option auf einen unabhängigen Nationalstaat haben, wenn sie das denn wünschen. Aber dieser Staat sollte in Relation zur Befreiung der Gesellschaft stehen.

Den Nationalstaat jedoch als einzige Lösung für Südkurdistan zu lancieren, während sich in der Welt Grenzen und Staaten auflösen, ist mehr als bedenklich. Ohnehin erscheint es nicht im Rahmen des Möglichen, ein Referendum abzuhalten, während man innenpolitisch nicht mal in der Lage ist, bestehende Probleme zu lösen. Dass [die Diskussion über] ein Referendum eher taktischer Natur ist, wird auch daran ersichtlich, dass keines stattfindet, obwohl keine Hindernisse dafür bestehen. Mesûd Barzanî [seit 1979 Vorsitzender der herrschenden Demokratischen Partei Kurdistans, PDK, und offiziell eigentlich nicht mehr amtierender Präsident der autonomen Region] spricht bei jeder Gelegenheit davon, dass es stattfinden werde, und trotzdem passiert es nicht. Das Thema Referendum soll überwiegend nationale Gefühle ansprechen und wird deshalb regelmäßig auf die Tagesordnung der Öffentlichkeit gesetzt. Wir müssen allerdings die Möglichkeit der Deklaration eines südkurdischen Staates auch aus Sicht der Regionalmächte im Mittleren Osten, der internationalen Mächte und der kurdischen Bevölkerung betrachten.

Für einen kurdischen Nationalstaat in Südkurdistan bedarf es zunächst einmal einer zustimmenden Haltung der Regionalmächte. Selbst mit gewissen Beziehungen zu Staaten wie Saudi-Arabien, Katar und der Türkei ist nicht davon auszugehen, dass diese die Unabhängigkeit unterstützen werden. Selbst die teilweise zu einigen westlichen Staaten aufgebauten diplomatischen Beziehungen werden keine Hilfe auf dem Weg zur Unabhängigkeit sein. Das wurde bei fast allen offiziellen Visiten südkurdischer Vertreter deutlich zum Ausdruck gebracht.

Kurz gefasst, eine Revision des Sykes-Picot-Abkommens ist nicht vorgesehen. Während fast alle beteiligten Akteure an den jetzigen Staatsstrukturen festhalten, ist die Gründung eines neuen Staates unrealistisch.

Turkey in Asia, 1909Diese innen- wie außenpolitischen Umstände demonstrieren, dass das »Referendum« nichts weiter darstellt als ein leeres Versprechen, das zumindest derzeit unerfüllbare Hoffnungen wecken soll.

Das YNK-Gorran-Abkommen als Folge der Krise

Das Abkommen zwischen YNK und Gorran-Bewegung kam zu einem Zeitpunkt, an dem Politik und Wirtschaft in Südkurdistan in der Krise stecken und das Chaos nicht überwindbar ist.

Das hat auf der einen Seite mit der politischen Krise im Irak zu tun, auf der anderen Seite ist die Politik der PDK maßgeblich für den Fortbestand der Krise verantwortlich. Diese hatte begonnen, als Mesûd Barzanî nach dem Ende seiner Amtszeit weiterhin im Präsidentenamt verblieb, und vertiefte sich mit der De-facto-Beseitigung des südkurdischen Parlaments. Dies ging so weit, dass dem Parlamentspräsidenten Yusef Mihemed die Einreise in die faktische Hauptstadt Hewlêr (Arbil) verboten wurde. Die Korruption im Erdölsektor und beim Zoll führte zum Zusammenbruch der Wirtschaft. Wenn sich die Regierung zu diesen Ereignissen von Anfang an politisch richtig verhalten und auf dieser Grundlage ein demokratisches System entwickelt hätte, wäre diese Krise vielleicht gar nicht erst entstanden. Südkurdistan könnte inmitten der krisengeschüttelten Staaten des Mittleren Ostens sogar ein in politisch-sozialer Hinsicht stabiles Land sein. Doch Korruption, Machtgier und falsche Politik anfangs aller Parlamentarier, später dann der Regierungspartei PDK führten dazu, dass die Krise chronisch geworden ist.

Diese Ereignisse haben der PDK politische und wirtschaftliche Macht verliehen. Sie hat systematisch alle oppositionellen Parteien, NGOs, Medien und alle ihr kritisch gegenüber Stehenden zum Schweigen gebracht und so eine Atmosphäre der »Alleinherrschaft« geschaffen. Das bedeutet aber gleichzeitig einen Bruch mit anderen Parteien und insbesondere mit der YNK und Gorran, mit denen sie die Regierung bildet, dass sogar der PDK-Vorsitzende Barzanî im Namen der Regierung Auslandsreisen macht bzw. Besuche aus dem Ausland im Alleingang empfängt. Die internationalen Mächte haben diese falsche Politik unterstützt, indem sie das Spiel mitspielten.

Andererseits aber konnten diejenigen Kräfte, die neben der PDK die Regierung bilden, deren hegemonialen Charakter nicht brechen. Die seit geraumer Zeit bestehenden De-facto-Regierungen der PDK in Hewlêr und der YNK in Silemanî (Suleimaniya) haben zur politischen Spaltung des Landes beigetragen. Während die PDK ihre Macht innenpolitisch weiter gefestigt hat, scheute sie außenpolitisch nicht davor zurück, jegliche Art politischer, militärischer und wirtschaftlicher Beziehung mit dem diktatorischen Erdoğan-Regime einzugehen. Das führte so weit, dass sie ohne Zustimmung der irakischen Zentralregierung in Bagdad die Stationierung türkischer Soldaten auf irakischem Territorium zuließ und langjährige Verträge im Erdöl- und -gassektor abschloss. Dagegen aber stößt sie sich an der Anwesenheit der Volksverteidigungseinheiten (HPG; Guerilla der PKK) in Şengal (Sindschar) und betrachtet die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ; Guerilla der êzîdischen Selbstorganisierung) als Gefährdung ihrer eigenen Interessen. Dem westkurdischen Selbstverwaltungsprojekt Rojava wurde statt mit politischer Annäherung mit Grenzschließung und Embargo begegnet. Die Zusammenarbeit mit Rojava feindlich gesinnten Mächten mithilfe des Barzanî-gestützten Kurdischen Nationalrats in Syrien (ENKS) ist Produkt dieser Politik. Die Dimension dieser feindseligen Gesinnung drückte sich darin aus, dass der ENKS zusammen mit militärischen Gruppen der SUK (Nationale Koalition Syriens) in Afrîn und Aleppo gegen die Volksverteidigungseinheiten (YPG) der Selbstverwaltung Rojavas kämpfte. Innenpolitisch konnte diese Rojava-Politik der PDK auch nicht überzeugen – im Gegenteil, sie wurde dafür immer wieder stark kritisiert.

Im Schatten dieser Ereignisse kam das Abkommen zwischen YNK und Gorran zustande. Nachdem sich Gorran-Vorsitzender Mustafa für längere Zeit zur medizinischen Behandlung in England aufgehalten hatte, nahmen die Gespräche nach seiner Rückkehr Fahrt auf und die Einigung erfolgte am 17. Mai. YNK-Führungsmitglied Ferid Eseserd resümierte gegenüber kurdischen Medien: »Das Abkommen beinhaltet 25 Punkte und umfasst die Wiederbelebung des Parlaments und der Regierung. Es bezweckt eine Lösung für die Krise in Kurdistan und soll strittige Probleme lösen. Die Gorran-Bewegung und wir haben unsere Sicht der Lösung dargelegt.«

Das Abkommen kann aufgrund seiner Vorschläge zur Lösung von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen als positiv betrachtet werden. Gleichzeitig ist ein »einfaches Abkommen« aber nicht genug. Die Vereinbarungen reichen nicht aus zur Bildung einer Regierung, die die genannten Probleme lösen könnte. Als Beispiel sei hier die Aufteilung der Macht [zwischen PDK und YNK] genannt. Wird sie überwunden werden? Welche Regierungsform wird für Südkurdistan vorgesehen? Wie soll eine demokratische Politik aussehen? Solche und ähnliche Fragen werden nur oberflächlich behandelt. Zwar ist das genannte Abkommen als erster Schritt positiv zu bewerten, es müssen aber definitiv Folgeschritte gemacht werden.

PDK fühlt sich durch das Abkommen gestört, KCK bewertet es positiv

Einen Tag nach dem Abschluss kam die PDK unter Vorsitz von Mesûd Barzanî zu einem außergewöhnlichen Treffen zusammen. In der anschließenden Pressemitteilung wurde das Abkommen scharf kritisiert. Sein Inhalt bedeute »keine Lösung«, sondern eine »weitere Verschärfung der Probleme«. Die PDK verhindert auf diese Weise sogar die Möglichkeit einer politischen Diskussion der Probleme. Sie betrachtet aus ihrem zentralistischen Verständnis heraus alle nicht von ihr selbst initiierten Ereignisse als problematisch und wird in ihrer Haltung geprägt durch die Angst vor einem Machtverlust.

Dagegen bewertet die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), ein wichtiger Akteur in der Region, neben ihrer Kritik an der Unzulänglichkeit des Abkommens die Annäherung beider Parteien als positiv. KCK-Exekutivratsmitglied Riza Altun wies Ende Mai in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) auf das »Friedensabkommen« zwischen YNK und PDK im Jahre 1996 unter Aufsicht des damaligen US-Außenministers hin und erklärte: »Die Region Kurdistan wird durch zwei Kräfte regiert. Die Ereignisse im Mittleren Osten erzwingen auch das Hinterfragen dieser Machtaufteilung, einer Aufteilung zwischen PDK und YNK. Die haben aber derzeit keinerlei Alternativen, Ideen und Vorschläge. Darum muss primär darüber diskutiert werden, wie Lösungsansätze für die gegenwärtige Krise aussehen könnten. Aber es scheint so, als wäre es bis dahin noch ein weiter Weg. Keine der Parteien hat so etwas derzeit im Programm. Sie beharren auf ihrem parteilichen Profit. Wenn das so weitergeht, werden sie selbst Schaden nehmen. Dies wird auch dann eintreten, wenn YNK und Gorran nicht über ihr vereinbartes 25-Punkte-Programm hinausgehen. Unser Wunsch ist es, für alle Probleme und Hindernisse eine Lösung zu finden, um so eine Einheit zu schaffen, eine echte föderaldemokratische Struktur in Südkurdistan.«

Das Abkommen muss zur nationalen Einheit beitragen

Das Abkommen zwischen der YNK und Gorran auf den Status einer einfachen Vereinbarung zwischen zwei Parteien zu reduzieren, die ihre Interessen realisieren wollen, wäre fatal. Wenn beide lediglich ihre Macht in Südkurdistan festigen wollen, wird dies nicht nur ihnen selbst, sondern möglicherweise allen Kurden schaden.

Aus diesem Grund müssen beide sich der nationalen Verantwortung stellen, egal aus welchem Grund sie auch zusammengekommen sind. Die kurdische Vergangenheit zeigt, dass das Scheitern engen und einfachen Partei- und Claninteressen geschuldet ist. Jüngstes Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen PDK und YNK von 2006, das die Machtteilung in Südkurdistan vorsah. Diese Machtorientierung hat allen Kurden großen Schaden zugefügt. Das ist deutlich daran zu sehen, dass das sogenannte »strategische« Abkommen nicht eingehalten wurde und beide Parteien ihre Eigeninteressen verfolgten.

Eseserd verwies auf den Unterschied zwischen den Abkommen von 2006 und jetzt: »Das damalige verfolgte die Machtteilung zwischen zwei Parteien. 2003 waren ganz neue politische Ereignisse auf der Tagesordnung. Die Probleme haben sich in der Folge ungleich entwickelt und die gesamte politische Lage hat sich gewendet. Wir konnten die Punkte aus dem Abkommen nicht umsetzen, es blieb nur Papier.«

Wenn die YNK-Gorran-Vereinbarung auf jener von 2006 fußt, also eine Machtteilung vorsieht, ist sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Beiden Parteien kommt wie eingangs erwähnt die Aufgabe der Demokratisierung und der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Struktur zu, um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme lösen zu können.

Das Abkommen könnte auch einen ersten Schritt in Richtung nationaler Einheit bedeuten, was für alle Kurden in allen Teilen Kurdistans als wichtig erachtet wird. Im Jahre 2013 hatte sich zum Thema »Nationalkongress« einiges getan, lief jedoch aufgrund der Verfolgung eigener Interessen durch die PDK und der Haltung der Regionalmächte ins Leere. Wird es einen neuen Anlauf in Sachen kurdischer Nationalkongress geben? Das ist eine der wichtigsten Fragen, vor die sich die kurdische Politik gestellt sieht. Die letzten hundert Jahre haben gezeigt, was es bedeutet, »nur« für einen Teil Kurdistans Politik zu machen. Das Ergebnis war die Teilung Kurdistans zwischen den Mächten in der Region und ein antikurdisches Bündnis. Wenn also das Abkommen zwischen YNK und Gorran ein weiterer Schritt in Richtung kurdischer Einheit sein kann, wird es von Bedeutung sein. Anderenfalls wird es zu einem Zeitpunkt, an dem die Kurden vor großen Errungenschaften stehen, zu erheblichem Schaden führen, wenn beide Parteien nur ihre Eigeninteressen verfolgen.