Die Ursachen der Oppositionskrise in der Türkei

Das »nationale Interesse« bestimmt die AKP

Erkin Erdoğan, Kovorsitzender des HDK Berlin

Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass der Hauptgrund für den seit dreizehn Jahren anhaltenden Erfolg von Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Schwäche der Oppositionsparteien liegt. Die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) machten den Weg für ihn frei, seine Popularität zu steigern, und halfen der AKP auf verschiedene Weise, ihre Macht zu stärken. Bei der kürzlichen Abstimmung über die Aufhebung der Immunität der Parlamentsabgeordneten unterstützten beide Parteien die AKP. Aktuell billigen die beiden Oppositionsparteien auch Erdoğans brutalen Krieg gegen die Kurd*innen. Sie arbeiten mit der AKP als »nationale Front« zur angeblichen Wahrung des »nationalen Interesses« der Türkei zusammen und nehmen dabei auch eine Umwandlung der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime in Kauf, das ihre eigenen Interessen gefährdet.

Der Zusammenschluss dieser drei Parteien gegen die Kurd*innen und die Demokratische Partei der Völker (HDP) bedeutet eine große Gefahr für Demokratie und Freiheit in der Türkei. Daher sollten wir die Gründe für die aktuelle Machtkonstellation analysieren und die Entwicklung in der aktuellen Politik von CHP und MHP untersuchen, um Möglichkeiten zu finden, bestehende Risse im aktuell herrschenden Machtbündnis zu vertiefen.

Man kann auf jeden Fall hervorheben, dass alle drei dieser Mainstream-Parteien das türkische Establishment vertreten. Daher muss man sich nicht wundern, dass sie auch ihre eigenen Interessen opfern für das »nationale Interesse« der Türkei. Das ist erst mal ein sehr allgemeiner Standpunkt, aber ich denke, dass wir es nicht dabei belassen können, wenn wir die Veränderungen und Konflikte innerhalb verschiedener Teile der türkischen Bourgeoisie untersuchen wollen. Daher möchte ich den Charakter dieser beiden Oppositionsströmungen herausarbeiten, deren aktuelle Vorgehensweise untersuchen und auf die Brüchigkeit der bestehenden »nationalen Front« hinweisen.

CHP: die Stimme der türkischen Bürokratie

Die Diskussion um den Charakter der CHP hat unter türkischen Intellektuellen eine lange Geschichte. Die Mehrheit unterstützt die Auffassung Ismet Inönüs, des zweiten Präsidenten der Türkei und Vorsitzenden der CHP bis 1970, der die CHP als »links von der Mitte« einordnete. Er positionierte sie erstmalig vor den Wahlen 1965 als »Linke« mit der Aussage: »Die CHP ist von ihrer Struktur her eine Partei des Staates und diese Eigenschaft stellt sie objektiv links von der Mitte auf.« Die CHP war die Stimme der Bürokratie, vor allem des Militärs, welche die Türkei gründete. Damit war sie die Partei des türkischen Establishments. Ihre ökonomische Politik richtete sich auf den Aufbau einer Industrialisierung durch die Hilfe von außen, wie es bei vielen Entwicklungsländern nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. 1970 nahm die CHP aus taktischen Gründen einige sozialdemokratische Forderungen in ihr Programm auf, um die Unterstützung der sich landesweit im Aufschwung befindlichen linken Bevölkerungsteile zu gewinnen. Damit besetzte sie die linke Mitte, obwohl das mit ihrer realen Politik nichts zu tun hatte.

Wenn wir die Geschichte der CHP untersuchen, werden wir besser verstehen, warum sie keine »linke« Partei ist und zum Prozess der Demokratisierung der Türkei nichts beitragen kann. Vom geschichtlichen Standpunkt her ist die CHP die Nachfolgerin des »Komitees für Einheit und Fortschritt« (KEF), das die Türkei in der Endphase des Osmanischen Reiches in einen Nationalstaat umbauen wollte unter der Ideologie des »Panturkismus«. Mustafa Kemal und der kemalistische Staatsapparat der CHP übernahmen dieses Projekt und entwickelten es weiter.

Ideologische Hintergründe der CHP

Der Panturkismus wurde unter der Führung des KEF um 1910 entwickelt und aggressiv durch Massaker, Genozide und Kriege umgesetzt. Die Ideologie lässt sich mit Hitlers Drittem Reich vergleichen und hatte das Ziel, die Turkstämme im Kaukasus und in Zentralasien als neue Regionalmacht in einem Nationalstaat zu vereinen. Der multiethnische Charakter Mesopotamiens stand dem im Wege, so dass sie während des Ersten Weltkrieges eine Politik der ethnischen Säuberung durchführten, beginnend mit dem Völkermord an den Armenier*innen. Diese destruktive Politik trug stark zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches bei.

Die CHP wurde als staatsgründende Partei von ehemaligen KEF-Mitgliedern aufgebaut. Sie übernahm die Vorstellung eines homogenen Nationalstaates mit einer Volksgruppe, den »Türk*innen«. Ihr erster Schritt war es, weiterzumachen mit der Entchristianisierung der Türkei, indem sie Hunderttausende osmanische griechische Zivilist*innen massakrierten, als die griechische Armee 1922 Anatolien verließ. Die neue türkische Republik einigte sich mit Griechenland auf einen Bevölkerungsaustausch, in dessen Folge 1,5 Millionen anatolische Griech*innen 1923 deportiert wurden. Aufgrund dieser ethnischen Säuberungen änderte sich das Verhältnis der christlichen zur muslimischen Bevölkerung in weniger als einem Jahrzehnt dramatisch. Die größte verbleibende nichttürkische Gruppe waren die Kurd*innen, die sich durch die CHP nun ebenfalls mit Assimilation und Massakern konfrontiert sahen.

Die wichtige Rolle der CHP bei der Staatsgründung der Türkei verleiht ihr eine besondere Stellung. Sie sieht sich unter Druck, ihrer historischen Rolle auch in aktuellen politischen Krisen gerecht zu werden. So war es nicht verwunderlich, dass es Teile der CHP waren, die im März 2016 der AKP und deren Bürokratie wegen der Friedensverhandlungen mit der PKK kriminelle Machenschaften unterstellten. Sie unterstützen nicht nur den Krieg gegen die Kurd*innen, sondern versuchen mit aller Macht, eine politische Lösung auch in Zukunft zu verhindern.

Der kritische Intellektuelle Idris Küçükömer brachte es mit der Aussage »links ist rechts und rechts ist links in der Türkei« auf den Punkt. In seinem Buch »Die Entfremdung des Establishments« argumentiert er, dass die CHP nicht als »Linke« betrachtet werden dürfe, weil sie ein autoritäres, von oben nach unten herrschendes Regime darstelle. Er begründet seine Auffassung mit dem Argument, dass sie den erstarkenden produktiven Kräften in der Türkei nicht wohlwollend gegenüber stände und somit auch nicht progressiv sei. Das ist mehr oder weniger bis heute der Fall. Die CHP richtete sich in ihrer Wirtschaftspolitik neoliberal aus, aber sie blieb die politische Vertretung der Bürokratie unter der Ideologie des Kemalismus.

Wir können grob sagen, dass es aktuell drei Pfeiler für das politische Handeln der CHP gibt: Der erste ist die Bewahrung der Verfassung in ihrer kemalistischen Ausrichtung, die sich in den ersten drei Artikeln niederschlägt. Sie weisen jede Änderung in Richtung einer multiethnischen, multinationalen Ausrichtung der Türkei zurück. Der zweite Pfeiler ist, die Macht der kemalistischen Bürokratie wieder zu stärken, die durch die AKP-Herrschaft stark beschädigt wurde. Der dritte Pfeiler ist die Verteidigung der türkischen Interessen in der Außenpolitik. Die CHP hat alle militärischen Interventionen der AKP in Südkurdistan und Rojava mitgetragen, auch wenn sie die autoritären Tendenzen des Erdoğan-Regimes kritisiert. Die Kombination dieser drei Pfeiler macht es der CHP nahezu unmöglich, an einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage mitzuarbeiten.

MHP: eine paramilitärische faschistische Bewegung als Strohpuppe des Establishments

Die Situation der türkischen Faschist*innenpartei MHP kann auf ähnliche Weise erklärt werden. Von Kopf bis Fuß ist sie Teil des türkischen Tiefen Staates und wurde seit 1960 als paramilitärische Kraft gegen Linke und Kurd*innen eingesetzt. Der ideologische Hintergrund der türkischen faschistischen Bewegung ist eng mit der Ideologie des Panturkismus verbunden, so dass es zahlreiche Parallelen zur CHP und der türkischen Staatsideologie des Kemalismus gibt. Türkische Faschist*innen sind seit 1930 organisiert und nahmen 1934 auch an den Pogromen gegen die jüdische Gemeinde in Edirne teil. Aber sie sahen bis zum Aufkommen der 1968er-Bewegung keine Notwendigkeit, eine politische Partei zu gründen. Mit dem Wohlwollen und der logistischen Unterstützung des türkischen Staates wurde die faschistische Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren als Straßenkampftruppe gegen die Linke mobilisiert. Die MHP wurde 1969 als politische Repräsentation der faschistischen Bewegung von ehemaligen Offizieren gegründet, die ihre Ausbildung in den USA absolviert hatten. Sie sieht sich seit ihrer Gründung selbst als offen faschistische Partei und folgt der Ideologie des Panturkismus, der eine Ausbreitungspolitik der Türkei in der Region und im Kaukasus zum Ziel hat.

Die Wähler*innenbasis der türkischen faschistischen Bewegung war bis 1990 mit drei bis vier Prozent eher klein. Das änderte sich 1990 mit der starken Welle des staatlichen Rassismus im Krieg gegen die PKK. Die MHP überschritt die Zehnprozenthürde und war Ende der 1990er Jahre an der Regierung beteiligt. Sie repräsentiert somit nicht nur das Lumpenproletariat, sondern auch weite Teile der konservativen Mittelschicht in Zentralanatolien.

Der Aufstieg der AKP versetzte die MHP in Schrecken, sowohl aufgrund der gemeinsamen Wähler*innenbasis als auch durch aufkommende liberale Tendenzen bei den türkischen Konservativen. Anfang 2000 begann die AKP mit Reformen, die den mehrheitlichen Zuspruch der türkischen Konservativen fanden. Umso mehr es der AKP gelang, die rechte Mitte zu einigen, umso weniger Unterstützung erhielt die MHP. Als Folge flog die MHP bei den Wahlen 2002 aus dem Parlament. Danach konzentrierte sich die Parteiführung auf die kurdische Frage und die Möglichkeiten, den Annäherungsprozess zu sabotieren. 2007 zogen sie wieder ins Parlament ein und wurden das Sprachrohr der Ultrarechten.

Nach den Juni-Wahlen 2015 brachte die MHP die Beendigung des Friedensprozesses mit den Kurd*innen als einzigen Punkt in die Koalitionsverhandlungen ein. Sie unterstützten im Rahmen des »nationalen Interesses« jede Expansionspolitik Erdoğans im Mittleren Osten. Der Vorsitzende der MHP, Devlet Bahçeli, sagte die letzten Monate, dass sie die AKP in ihrem Krieg gegen die Kurd*innen auch unterstützen werden, wenn sie ihre eigene Wähler*innenbasis verlieren.

Aufkommende Konflikte im Hinblick auf einen Machtwechsel

Es ist keine Überraschung, dass die Türkei seit 1950 durch rechte Mainstream-Parteien regiert wird. Auch Vorgänger der AKP fanden aufgrund der Oppositionskrise wiederholt die Unterstützung der konservativen Massen in der Türkei. Mittlerweile hat die AKP freie Hand, die herrschende politische Klasse nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Herrschaft im politischen Wettstreit mit CHP und MHP verliert, ist sehr gering. Daneben kann sie beide Parteien jederzeit mit dem Hinweis auf die »nationalen Interessen« auf Linie bringen.

Die Strategie der AKP nach den Juni-Wahlen 2015 bestand darin, den Krieg gegen die PKK wieder aufzunehmen, um die Gesellschaft zu polarisieren. Wie führende kurdische Politiker*innen detailliert analysiert haben, bestand ihre Absicht darin, in den Novemberwahlen wieder die absolute Mehrheit zu erhalten und die Türkei in ein Präsidialsystem umzuwandeln, damit sich »Unfälle« wie im Juni 2015 nicht wiederholen. Aus Erdoğan nahestehenden Quellen verlautet, dass die AKP die Verfassung im Dezember dieses Jahres ändern wolle, was durch eine Volksabstimmung bestätigt werden müsste. Diese neue Phase bietet der HDP die Möglichkeit, ihre Stellung auszubauen, wenn es der Linken gelingt, durch clevere Schachzüge den herrschenden Block auseinanderzubringen.

Es ist zurzeit sehr unklar, wie die geplante Verfassungsänderung aussehen wird. Die Einführung eines Präsidialsystems wird sicher ein Teil davon sein, aber es wird sehr wahrscheinlich auch noch andere Änderungen geben, um die Zustimmung der herrschenden politischen Klasse und ihrer Vertreter, CHP und MHP, zu gewinnen. Erdoğan profitiert von der Polarisierung in der Gesellschaft, aber trotzdem will er das Risiko minimieren, dass die Verfassungsänderung in einem Referendum abgelehnt wird.

Erdoğans Topberater Mehmet Uçum – der in der Vergangenheit auch sehr gute Kontakte zu den deutschen Grünen hatte – teilte den Medien mit, dass sich die neue Verfassung nicht auf den Kemalismus als Staatsideologie der Türkei beziehen werde. Das würde eine Korrektur der ersten drei Verfassungsartikel bedeuten und zu einem Bruch in dem aktuell herrschenden Block führen. CHP und MHP würden eine solche Änderung ablehnen und bei der Diskussion könnten neue Konflikte aufbrechen. Mehmet Uçum teilte weiter mit, dass die neue Verfassung mit ungefähr fünfzig Artikeln kurz sein werde und auch das Wahlsystem geändert werden solle. Es sieht so aus, als gäbe es neue Pläne, die HDP bei den Wahlen anzugreifen, um die kurdische Präsenz im Parlament zu verringern.

Die Hauptaufgabe der Linken ist es aktuell, in der »nationalen Front« der herrschenden Parteien Unordnung zu stiften. Aufkommende Diskussionen und Spannungen im Zusammenhang mit der neuen Verfassung müssen geschickt genutzt werden, um zu intervenieren und die politische Atmosphäre zugunsten der Unterdrückten zu verändern. Die jetzige Konstellation der herrschenden Klasse erscheint stark, aber in Wirklichkeit ist sie schwach und wankend.