Konferenz zu »Frieden und Stabilität im Mittleren Osten mit den Gedanken von Abdullah Öcalan« tagte in Başûr
Eine Plattform des Friedens
Hevi Jiyan / Devriş Çimen, Silêmanî
Alle sind sie nach Silêmanî (Sulaimaniyya) in Başûr/Südkurdistan gekommen – die Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) Asia Abdullah, der Kovorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK) Hatip Dicle, die Sprecherin des Kongresses der Freien Frauen (KJA) Ayla Aka Ata, die Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Dilek Öcalan, der ehemalige Rechtsanwalt von Nelson Mandela Essa Moosa aus Südafrika, der Kosprecher des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) Ertuğrul Kürkçü, die Vertreterin des Kongra Star aus Rojava Leyle Reshid Kahraman und der Vertreter von TEV-DEM Aldar Khalil, der Kovorsitzende der Demokratischen Föderation Nordsyriens/Rojava Mensur El-Selum und viele mehr, um für drei Tage mit Aktivist*innen, Politiker*innen und Journalist*innen aus Bakur/Nordkurdistan (Türkei), Başûr/Südkurdistan (Irak), Rojhilat/Ostkurdistan (Iran) und Rojava/Westkurdistan (Syrien) über den Frieden zu diskutieren. Viele der Teilnehmer*innen kannten sich schon. Doch es waren auch neue Gesichter dabei; aus Südafrika, Tunesien, Libanon und Indien sind Aktivist*innen angereist, um mit der kurdischen Bewegung Erfahrungen auszutauschen, Probleme zu diskutieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Ein Art Plattform des Friedens sollte es sein, ein Ort des anderen Vorwärtsdenkens, wie es ihn sonst im Mittleren Osten kaum gibt.
»Lasst uns keine Angst vor Utopien haben«, sagte Zaxo Rosa aus Rojava, »Utopien, welche uns helfen, unsere Zukunft aufzubauen, sind nötig. Und diese Konferenz zeigt, dass wir zusammen leben können – wir brauchen bloß eine Entscheidung, eine Überzeugung und einen Weg, wie wir diesen Traum verwirklichen können. Ich freue mich sehr, Teil des Projektes Demokratischer Konföderalismus zu sein. Denkt daran, wie unwahrscheinlich unser Traum von Selbstbestimmung in Rojava vor 5 Jahren war. Wer weiß, vielleicht wird unser Traum vom Demokratischen Konföderalismus im Mittleren Osten eines Tages Realität.«
Mit dieser Aussage bringt Zaxo Rosa die Stimmung und das Ziel der Konferenz, welche vom 19. bis 21. Juli in Silêmanî stattgefunden hat, auf den Punkt. Unter dem Titel »Frieden und Stabilität im Mittleren Osten mit den Gedanken von Abdullah Öcalan« diskutierten die 150 Teilnehmer*innen über die aktuellen Probleme Kurdistans und der weiteren Region, und darüber, welche Lösungsansätze sich im Paradigma Öcalans finden lassen. In den Worten der Organisator*innen, Dr. Faik Gulpi, der Vorsitzende der Akademie für Politik und Demokratie: »Der Nahe Osten wird gebeutelt von Krisen, Chaos und Kriegen. Es ist klar, dass ein dringlicher Bedarf an revolutionären Veränderungen besteht. Und so sehr diese Krisenzeit große Verwüstung an Menschenleben und Natur anrichtet, so regt sie uns gleichzeitig dazu an, Alternativen und Lösungen zu finden. [...] Der Repräsentant der kurdischen Bevölkerung Abdullah Öcalan versteht diese Depression, das Chaos und die Kriege im Mittleren Osten als eine Folge der tiefgreifenden Krise der kapitalistischen Moderne, seine Vorschläge und Perspektiven in Bezug auf demokratische Lösungen werden momentan von der kurdischen Bevölkerung umgesetzt. [...] Unserer Ansicht nach hat Abdullah Öcalan einen vernünftigen und akzeptablen Ansatz für die Probleme des Mittleren Ostens entwickelt. [...] Wir möchten die Kräfte der ethnischen und religiösen Gemeinschaften sowie der Frauen in den vier Teilen Kurdistans vereinen, um Definitionen und Probleme zu diskutieren und zusammen auf einen Lösungsprozess hinzuarbeiten.«
Genau dies geschah auf der Konferenz: Erfahrungen wurden ausgetauscht, Projekte vorgestellt und Lösungsansätze diskutiert. Besonders maßgeblich war dabei die Vielfalt der Themen und der lokalen Besonderheiten der vorgestellten Projekte. So berichtete Nahide Zengin von ihrem Agrikultur-Projekt »Gärten Rojavas«, Necla Bakır von den Frauenkooperativen in Wan (BIKAD) oder Surood Ahmad von ihrer Arbeit im Bereich Gewalt gegen Frauen in Kerkûk.
Die Gedanken und Schriften Öcalans stehen hinter verschiedenen politischen, ökonomischen und sozialen Projekten in Kurdistan, besonders in Bakur und Rojava. Die politischen Rahmenbedingungen und der Handlungsspielraum unterscheiden sich jedoch fundamental in den vier territorialen Gebieten, in denen sich die kurdische Freiheitsbewegung organisiert. Dies wurde während der Konferenz besonders am Beispiel der Rolle der Frau innerhalb der Gesellschaft und des politischen Lebens ersichtlich. Während sich die Aktivist*innen aus Rojava nicht mehr mit der Frage der Rolle der Frau in der Religion beschäftigen, scheint dies noch ein wichtiger Diskurs in Başûr zu sein. Asia Abdullah meldet sich zu Wort, als ein Melle (religiöser Vertreter) aus Silêmanî einmal mehr über die Vereinbarkeit von Islam und Frauenrechten referiert, und stellt klar: »Wir bitten weder die Männer, die Religion noch das System um unsere Freiheit, denn das System ist weder fair noch demokratisch. Wie können wir von einem System etwas verlangen, welches Frauen abschlachtet? In Rojava haben wir ein System erschaffen, in dem wir keine religiöse Autorität und keinen Mann um unsere Stellung fragen oder bitten müssen. Wir haben ein System erschaffen, in dem wir Frauen für uns selbst Entscheidungen treffen können.« Damit hebt Asia Abdullah die Rolle der Frau in Rojava hervor, wo verschiedene ethnische und religiöse Gruppen gemeinsam versuchen, eine friedliche Zukunft zu gestalten.
Das Thema Frauen und Freiheit zieht sich – wie auch in Abdullah Öcalans Paradigma – als roter Faden durch die Konferenz und Surood Ahmed, Aktivistin aus Kerkûk hält fest: »Wir brauchen auch in Başûr eine Revolution! Frauen waren immer für Frieden verantwortlich, jedoch haben wir es nie in Führungspositionen innerhalb der politischen Strukturen geschafft; es sind immer die Männer, die regieren. Wenn es ein Quotensystem wie in Rojava gäbe, stellt euch nur vor, wie viele Frauen aufblühen würden! Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Frauen aber kaum vertreten, bloß in der Musik und in der Filmindustrie. Ja, manchmal sind die Frauen ökonomisch unabhängiger, aber das heißt nicht, dass sich die Dinge zuhause geändert hätten. Die Frauen fürchten sich auch davor, zu erfolgreich zu sein, den Mann zu überholen, denn das könnte zu Gewalt führen: Der Mann maßregelt die Frau, aus Furcht vor Instabilität in der Familie. Wenn Frauen in höheren Positionen sind, dann weil sie innerhalb der Familie gewählt wurden, Frauen, von denen man weiß, dass sie sich der männlichen Dominanz fügen werden. Kurz, unsere Gesellschaft erlaubt es Frauen nicht, in Führungsrollen zu sein, es gibt keine Vorbilder von Anführerinnen.«
Immer wieder wird betont, dass ohne die Freiheit der Frau eine freie Gesellschaft nicht möglich ist, und wie viel der Mittlere Osten von den kämpferischen Frauen der kurdischen Freiheitsbewegung lernen kann. Denn diese setzen neue Maßstäbe innerhalb ihrer Gesellschaft, sehr oft unter großem Widerstand. Genau solche Maßstäbe brauchen die Menschen im gesamten Mittleren Osten, aber auch in anderen Teilen der Welt, wo die Frauen aus den politischen Prozessen herausgedrängt werden.
Die Diskussionen nach den Panels zeigen jedoch immer wieder auch die Differenzen zwischen den vier Teilen Kurdistans auf. So gibt es markante Unterschiede, zwischen dem, was momentan politisch, sozial oder ökonomisch möglich ist in Bakur oder Rojava, und dem, wie sehr das System in Başûr oder Rojhilat von den Erfahrungen der anderen Teile Kurdistans profitieren kann.
Die bunt und international zusammengestellten Panels zu Themen wie »Macht und das überholte Nationalstaaten-Modell im Mittleren Osten«, »Problematisierung der Wirtschaft«, oder »Demokratische Nation und Projekte der Demokratischen Autonomie« regten zu intensiven Diskussionen an. So wurde über die Stabilität der Region diskutiert, über die Freiheit und den Frieden der Völker im Mittleren Osten gesprochen, über Ökologie diskutiert oder die Macht des oft so willkürlichen Nationalstaates in Frage gestellt. So künstlich die Nationalstaaten der Region errichtet worden sind, so künstlich, aber tiefgreifend scheinen auch die Probleme des Nationalstaates zu sein, wenn man genauer hinschaut. Auf der Konferenz wurde immer wieder betont, dass – um von den Problemen wegzukommen – die Menschen Lösungsansätze jenseits von Profit, Macht, Nationalstaat, Patriarchat, Religiosität und Gewalt benötigen. Die Teilnehmer*innen der Konferenz haben nun einen Meilenstein in diesem Prozess gesetzt. Denn bislang wurden Diskussionen über Krieg und Frieden im Mittleren Osten immer im Westen oder außerhalb der Region geführt. Dies, obwohl lokale Akteur*innen so viel erreicht und zu diesen Diskussionen beizutragen haben und ein dringlicher Bedarf für ebensolche Plattformen besteht. So war es auch einer der Beschlüsse, dass fortan jedes Jahr in einem Land der Region eine solche Plattform geschaffen werden soll, damit der persönliche Austausch nicht abbricht.
Die drei Tage gehen zur Neige mit einer letzten Diskussionsrunde »Die Inhaftierung Abdullah Öcalans aufheben« und einer starken Überzeugung, dass Frieden im Mittleren Osten dann möglich ist, wenn die Teilnehmer*innen eine gemeinsame Hoffnung in ein konkretes politisches Projekt umsetzen.