Wirtschaftliche und politische Stabilität sind zwei Seiten einer Medaille
Die Wirtschaftspolitik der AKP
Erkin Erdoğan, Kovorsitzender der HDK Berlin
Die AKP setzte von Beginn ihrer Regierungszeit an auf ökonomische Stabilität. Der Kollaps nach der Krise im Jahre 2001 spülte einige Parteien aus der politischen Landschaft hinfort, was der AKP dazu verhalf, sich eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Das wirtschaftliche Erholungsprogramm von Kemal Derviş wurde 2001 ohne große Änderungen von der AKP weitergeführt. Einige strukturelle Probleme des vom IWF unterstützten Programms, wie die hohe Arbeitslosenzahl, waren besorgniserregend, doch zur selben Zeit führten die strengen Regulierungen des Finanzkapitals und der Banken dazu, dass die Türkei sich vor den destruktiven Fluktuationen des ökonomischen Crashs im Jahre 2008 schützen konnte. Die türkische Ökonomie war nach wie vor interessant für internationale Investoren, gerade auch in der Zeit der internationalen Finanzkrise 2007–2009. Die AKP-Regierung war in der Lage, das ökonomische Wachstum mit der politischen Stabilität des Landes zu koppeln.
Doch sieht die Situation heute anders als noch vor ein paar Jahren aus. Die Interventionspolitik in Syrien, Korruptionsskandale, die autoritären Tendenzen im Kontext geplanter Verfassungsänderungen sowie der Krieg in Kurdistan brachten die Türkei in eine sehr fragile Lage. Werden also die schwankenden politischen Strukturen der ökonomischen Stabilität der Türkei schaden? Wenn dem so wäre, in welchem Ausmaß? Was sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des misslungenen Putsches und den darauf folgenden Entwicklungen? Ich werde versuchen, eine knappe Antwort darauf zu geben, um die Folgen eines möglichen wirtschaftlichen Abschwungs vorherzusagen.
Wirtschaftsprogramm
Die routinierte Wirtschaftspolitik seitens der AKP führte in der letzten Dekade zu soliden Erfolgen. Die strukturellen Probleme, wie eine hohe Inflationsrate und Budgetdefizite, wurden effizient angegangen. Anders als in den1990ern Jahren wurde eine konsequente Haushaltsdisziplin eingehalten, die Teil der strengen Vorgaben des IWF waren. Das Programm »Übergang zu einer starken Ökonomie« von 2001 war offensichtlich eine neoliberale Attacke gegen die Errungenschaften der Arbeiterklasse. Die große Privatisierungswelle schlug innerhalb weniger Jahre um sich und Präsident Recep Tayyip Erdoğan war stolz auf seine Verkaufserfolge. Aber im Vergleich mit der ökonomischen Instabilität der 1990er Jahre und den daraus folgenden wirtschaftlichen Krisen war die Bevölkerung bereit, das eine oder andere Opfer zu erbringen.
Das war eine Folgereaktion auf den Ausbruch der Krise 2001. Die Türkische Lira wurde um rund 100 % abgewertet, die Inflation überstieg die 100%-Hürde, die Hälfte der Geldinstitutionen gingen Bankrott, das Bruttosozialprodukt sank um 8,5 % und 1,5 Millionen Menschen verloren ihren Arbeitsplatz.
Das wirtschaftliche Erholungsprogramm zeigte kurz- und mittelfristig Ergebnisse. Die Inflationsrate lag 2006 unter 10 %. Das Wirtschaftswachstum belief sich 2002–2007 auf rund 7 % pro Jahr. Die türkische Wirtschaft wurde von der Wirtschaftskrise im Jahr 2009 auch beeinflusst, konnte sich aber in der darauf folgenden Periode schnell erholen und hatte in den Jahren 2010 und 2011 ein Wirtschaftswachstum von 9 %. Das Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2002 pro Kopf 3 492 US-Dollar. Es verdreifachte sich innerhalb von neun Jahren und überschritt somit 10 000 US-Dollar. Die hohe Arbeitslosenrate blieb zwischen 10 und 11 % als ein strukturelles Problem des Wirtschaftsprogramms bestehen, war aber etwas niedriger als in der Zeit der Krise 2001.
Die Türkei hatte es geschafft, für heimische und internationale Investoren attraktiv zu bleiben. Gerade die Baubranche machte durch horrende Staatsaufträge einen großen Sprung. Dies trug maßgeblich zum Wahlerfolg in den Jahren 2007 und 2011 bei.
Durch den Erfolg der AKP verbesserte sich die Beziehung zur EU, wobei Deutschland eine nicht geringfügige Rolle spielte. Mehr als 6 000 deutsche Unternehmen steuerten bis zu neun Milliarden Euro an Investitionen bei. Der Außenhandel mit der EU als wichtigste Handelspartnerin erreichte ebenso einen Höhepunkt. Deutsche Unternehmen verkauften allein im letzten Jahr Waren im Wert von 22 Milliarden Euro an die Türkei.
Die AKP und die Bourgeoisie
Während dieser makroökonomischen Erfolge wurde von der AKP eine neue Bourgeoisie aufgebaut. Die so genannten anatolischen Tiger weiteten ihre Einflussgebiete aus und nahmen unter der Leitung der AKP ihren Platz neben der bestehenden meist kemalistisch geprägten Großbourgeoisie ein. Die Ansichten der AKP waren tief in den politischen, ökonomischen und kulturellen Vorstellungen der konservativen Mittelschicht verwurzelt. Das erklärt auch die paradoxe Beziehung zwischen der AKP und dem bestehenden Großkapital sehr gut. Sie arbeitete zusammen mit dem Unternehmerverband TÜSIAD, der den alten Teil der Bourgeoisie vertritt, bis sich die Türkei im Jahre 2005 von der EU abwandte. Die Beziehungen waren jedoch schon immer distanziert und zumeist komplizierter und widersprüchlicher Natur. Gerade nach den Wahlen von 2011 spitzte sich die Situation zwischen beiden Kapitalfraktionen neu zu. Der Grund dafür war die »Periode der Führungsstärke«, wie Präsident Erdoğan selber die Zeit nach den Wahlen 2011 charakterisierte. Es bedeutete, die politische Stärke der AKP auch in wirtschaftlichen Bereichen auszuweiten und ihren Einfluss in den staatlichen Strukturen und der Gesellschaft auszubauen. Diese Art der Bestrebungen sollte die Macht für zukünftige Kämpfe gegen das Establishment verfestigen.
Die AKP war eine Koalition verschiedener konservativer Richtungen. Erdoğan entschied sich für einen Führungsstil, der die Partei zu einem monolithischen Instrument umstrukturieren sollte, um sie auf den Hegemoniekampf gegen die anderen Fraktionen der herrschenden Klasse vorzubereiten.
Die sich in den Jahren 2011–2015 ausbreitende politische Instabilität war einer der unausweichlichen Folgen davon. Die AKP führte einen zähen Kampf auf vielen Ebenen. Sie strukturierte die Medien um, besetzte die staatlichen Strukturen mit ihren Leuten, nutzte staatliche Investments- und öffentliche Fonds zur Umgestaltung der ökonomischen Kräfteverhältnisse. Die Präsidentschaftswahlen waren ein weiterer Punkt im Kampf um internationale Hegemonie. Während des Zusammenstoßes der kemalistischen Eliten mit der aufsteigenden »anatolischen Bourgeoisie« können wir zwei positive Entwicklungen der Opposition wahrnehmen: zum einen den Friedensprozess mit den Kurden und zum anderen die Gezi-Proteste. Diese zwei Prozesse waren entscheidend für den Erfolg der HDP bei den Wahlen im Juni 2015.
Die Wirtschaftspolitik fußte in der Zeitperiode 2011–2015 auf zwei grundlegenden Programmen: der »Transformation des öffentlichen Sektors« und der »Transformation der Wirtschaft«. Das erste Programm hatte zum Ziel, die Infrastruktur des öffentlichen Sektors auszubauen, während Bereiche wie das Bildungssystem auf Kurs mit der politischen Agenda der AKP gebracht werden sollten. Das Letztere hatte wiederum zum Ziel, zwölf ausgewählte Bereiche zu unterstützen, die das Potential zum wirtschaftlichen Wachstum zu haben schienen. Aber die Ergebnisse waren nicht befriedigend. Von 2012 bis 2015 stieg das Wachstum nur um 3,33 % im jährlichen Durchschnitt. Verglichen mit den ersten zwei Wahlperioden der AKP-Regierung war dies die schlechteste Wachstumsrate.
Politische Instabilität und wirtschaftlicher Abschwung
Es ist nicht möglich, sich Wirtschaftswachstum ohne politische Stabilität vorzustellen – diese Dinge sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Diesen Zusammenhang zu erwähnen bedeutet nicht, das Klischee des klassischen liberalen Denkens zu pflegen, welches besagt, dass die ökonomische Effizienz auf dem freien Markt beruht und eine Demokratie erfordert. Diktaturen oder autoritäre Regime wie China oder einige lateinamerikanische Länder können gegebenenfalls auch ein hohes Wirtschaftswachstum erzielen. Aber innenpolitische Konflikte als ein Ergebnis unterschiedlicher Interessen der herrschenden Klasse machen es Unternehmen unmöglich, die nahe Zukunft einzuschätzen. Daher verursacht politische Instabilität eine Verzögerung von Investitionen, in solchen Situationen wachsen die finanziellen Probleme für gewöhnlich.
Die politische Instabilität, die seit 2011 mit der AKP-Regierung in Verbindung gebracht wurde, erhöhte die wirtschaftlichen Risiken drastisch. Korruptionsskandale, illegitime Eingriffe in Geschäftsvorgänge und die undemokratische Kontrolle der Medien verursachten erhebliche Bedenken insbesondere bei fremdem Kapital. Die Prognose der OECD von 2016 stellte fest, dass »die Voraussagen [der OECD; d. Red.] an politische Stabilität gebunden sind und darauf beruhen, dass die Grundorientierungen der bestehenden mittelfristigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erhalten bleiben. Falls nicht oder wenn regionale und heimische Spannungen zu intensiv werden, würden die inländische Nachfrage und der Tourismus nachteilig beeinflusst. Jede damit verbundene Schwächung des internationalen Vertrauens wird möglicherweise einen Kapitalrückfluss und eine Unbeständigkeit des Wechselkurses auslösen sowie das kurzfristige Wachstum schwächen.« Wir sehen, dass die Ängste, die oben erwähnt wurden, sich als wahr herausstellen und das internationale Vertrauen in die Türkei im Begriff ist zu verschwinden.
Der Wendepunkt der politischen Instabilität in der Türkei ist der politische Krieg gegen die Kurden seit Juli 2015. Die Türkei spielt eine gefährliche Rolle im Mittleren Osten. Ihre Expansionspolitik in der Region verursachte Katastrophen für die eigene Bevölkerung. Die Interventionspolitik in Syrien und die Unterstützung IS-naher Gruppen führte zu einer ernsten Krise mit Russland. Dies hatte zur Folge, dass der Tourismus im Mai 2016 um 23 % einbrach. Gemäß einigen Schätzungen werden die Türkei dieses Jahr sieben Millionen Touristen weniger besuchen und die Verluste für den Tourismusbereich könnten bis zu neun Milliarden US-Dollar betragen. Neben den langfristigen negativen Folgen verursacht politisches Abenteurertum auch unmittelbar horrende Kosten.
Ein Ass in Erdoğans Hand ist jedoch der Flüchtlingsdeal mit der EU. Dieser Deal ist wahrscheinlich die einzige Ausnahme, bei der das Erdoğan-Regime von der politischen Instabilität in der Region profitiert. Die Türkei erwartet sechs Milliarden Euro für strikte Grenzkontrollen. Dies ist ein sehr gefährliches Spiel auf Kosten von Kriegsopfern und es verursacht Konflikte mit jeglichen demokratischen Werten. Die wirkliche Intention des Erdoğan-Regimes war es, die Situation der Geflüchteten für interne und externe Interessen auszunutzen. Der Inhalt der Vereinbarung basiert auf einem rassistischen Menschenhandel zwischen der Türkei und der EU. Sie verstößt gegen die europäischen Menschenrechtskonventionen und zeigt somit lediglich die heuchlerische Politik der EU und der Türkei auf.
Der letzte Schritt zur Politik der Instabilität in der Türkei kam durch den Militärputsch am 15. Juli an die Oberfläche. Die Bilder von Panzern in den Städten, Kampfjets, die die Schallmauer durchbrechen und Zivilisten bombardieren, waren das Letzte, um internationale Investitionen anzulocken.
Erdoğans Antwort auf den gescheiterten Putsch war das Außerkraftsetzen der Verfassung und die Erklärung des Ausnahmezustands. Die Türkische Lira sank auf ein historisches Tief von 3,0972 pro US-Dollar. Die Türkei braucht dringend Finanzspritzen, um ihr gegenwärtiges Staatsdefizit auszugleichen, welches nunmehr bei 4,5 % des jährlichen BSP 2015 lag. Der Wert der Türkischen Lira ist entscheidend für die Balance der kurzfristigen Fremdkapitalflüsse. Die Verunsicherung war bisher noch nicht so groß, als dass es die türkische Zentralbank nicht hätte kompensieren können. Aber die finanziellen Kosten werden umso größer, je mehr das Risiko steigt. Es wird bereits erwartet, dass dieses Jahr das Wirtschaftswachstum der Türkei von 4,5 % auf 3 bis 4 % sinkt.
Die türkische Wirtschaft steht auf wackeligem Boden. Die herrschende Klasse ist uneins und gezeichnet von Konflikten. Die AKP war eine logische Wahl für die Großbourgeoisie, bis sie anfing, durch ihre abenteuerliche Agenda ihre Macht weiter auszubauen. Erdoğans Diskussionen über das Präsidialsystem endeten mit dem militärischen Putschversuch. Wir werden sehen, ob er einen Schritt zurück macht, um Kompromisse mit den Interessen des Großkapitals einzugehen. Solange dies nicht der Fall ist, werden wir miterleben, dass sich die politische und wirtschaftliche Instabilität vertiefen und dies eventuell das Ende der AKP-Herrschaft bedeuten wird.