Das Buch zur Reise des Lower Class Magazine durch die Türkei, Nordkurdistan und ins Qandîlgebirge

Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg

Konstantin Weinert

Es herrscht Krieg in Kurdistan, nicht mehr nur gegen sich muslimisch gebärdende Faschist*innen in Syrien und im Irak, sondern seit vergangenem Jahr auch wieder in der Türkei. Dies scheint für viele Menschen eine Schwierigkeit darzustellen. Während die Kämpfe um Kobanê und Rojava große internationale Solidarität erfuhren, lässt diese nun gegen einen älteren und größeren Feind auf sich warten. Es waren auf einmal nicht mehr als Monster abstempelbare Fremde und Verrückte, sondern ein Staat, zu dem viele einen positiven, wenn auch kritischen Bezug hatten.

Nunmehr war der Feind (erneut) der türkische Staat, ein NATO-Mitglied, ein enger Partner Deutschlands und der EU, der Faktor, um die Fluchtrouten aus dem Mittleren Osten zu sperren, und an dessen Spitze ein Mann steht, der sich selbst als Sultan eines neues Osmanischen Reiches sehen will, Recep Tayyip Erdoğan.
Und während nunmehr die zweitgrößte NATO-Armee gegen die kurdische Zivilbevölkerung, Oppositionelle und kritische Journalist*innen vorging und immer noch vorgeht, schwand die Solidarität.

Mit dieser Kritik beginnt das Buch der fünf kurdischen, türkischen und deutschen Autor*innen, die im Rahmen der Recherchegruppe des Lower Class Magazine Analysen, Interviews, Berichte und Erinnerungen von ihren Reisen durch Kurdistan und die Türkei zusammengetragen haben. Durch ihre Augen und Ohren bekommen wir Zugang zu Ereignissen und persönlichen Meinungen, die uns sonst durch die wachsende Diktatur verwehrt bleiben würden.

»Nerden nereye geldik« – Wie sind wir bloß hier angelangt ...

Während ihrer zwei mehrmonatigen Recherchereisen besuchte die Gruppe Kundgebungen und Ereignisse in der West-Türkei, verschaffte sich Zugang zu den belagerten und umkämpften Städten in Bakur/Nordkurdistan (Südosttürkei) und reiste schließlich in das von der kurdischen Guerilla befreite Qandîlgebirge (Nordirak). Die Gruppe bewegte sich zeitlich als auch geographisch in einen Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte alten Konflikt und fand sich im Krieg eines Staates und seines von Macht besessenen Diktators gegen das kurdische Volk und ihre Freiheitsbewegung wieder. Doch der Ausgangspunkt für die Eskalation und den aktuellen Krieg liegt am Anfang ihrer Reise und bereits mehrere Jahre zurück.

Gezi trifft auf Kobanê

Täglich kamen damals Berichte und Nachrichten über die Gezi-Proteste. Im Sommer 2013 sollte einer der wenigen verbliebenen Parks in Istanbul einem Einkaufszentrum weichen und dagegen regte sich mehr und mehr Widerstand, bis schließlich schätzungsweise acht Millionen Menschen an den Protesten teilnahmen. Doch es waren mittlerweile nicht mehr einfache Proteste, was dort geschah war eine Revolte, es entlud sich die Wut der Menschen, die unter der immer strafferen Diktatur Erdoğans litten. Die Proteste wuchsen zu einem Volksaufstand mit tagelangen Straßenschlachten, Besetzungen und immer wieder kleinen Siegen gegen die Staatsgewalt.

Die Menschen verloren ihre Angst und so, wie die Angst der Menschen zerbrach, so bröckelte auch die Isolation der kurdischen Bevölkerung und ihrer Freiheitsbewegung.

Während die AKP und Erdoğan immer mehr an Ansehen verloren, wuchs das Interesse und die Akzeptanz für die demokratischen Anliegen der Kurd*innen und ihre Bündnispartei HDP. Gleichzeitig begann der sogenannte »Islamische Staat« seinen Würgegriff um Rojava und besonders um die Stadt Kobanê zuzuziehen. Doch schließlich konnte die kurdische Bewegung sowohl in Rojava als auch in der Türkei hart erkämpfte und teuer bezahlte Erfolge verzeichnen.
Bereits vor den ersten Parlamentswahlen begannen die Anschläge auf Kundgebungen gegen Kurd*innen und Oppositionelle. Den traurigen Grundstein legte der Anschlag von Pirsûs (Suruç), bei dem dutzende Jugendliche der türkischen Linken ermordet wurden. Dieser Anschlag war ein deutliches Signal: Solidarisiert euch nicht mit den Kurd*innen.

»Die Menschen lernten, indem sie kämpften« – Şemsettin Ertan, YPS

Die AKP sah sich im Zugzwang und begann einen neuen Krieg, der ihr zu alter Macht und Legitimität verhelfen sollte. Doch während der Krieg der 1990er Jahre eher in den ländlichen Regionen und den kurdischen Bergen stattfand, eröffnete die Bevölkerung ihren Widerstand nun direkt in den kurdischen Metropolen und urbanen Gebieten.

Mehrere Städte und Gemeinden riefen die Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber dem türkischen Staat aus und organisierten eine Selbstverwaltung. Das türkische Militär ließ jedoch nicht lange auf sich warten und ging mit bisher unbekannter Härte gegen Zivilist*innen vor, sodass sich innerhalb kürzester Zeit hunderte Jugendliche als Zivile Selbstverteidigungseinheiten (YPS) zusammenfanden und die bewaffnete Verteidigung ihrer Heimat und der dortigen Menschen aufnahmen.
Das Lower Class Magazine reiste in die umkämpften Orte, sprach mit Einwohner*innen und Kämpfer*innen, berichtet von persönlichen Eindrücken und eröffnet uns verborgene Eindrücke. Doch diese »Situation«, auch das wird deutlich, ging und geht weit über die Belagerungen und aktuellen Kämpfe hinaus. Was die Menschen in Nordkurdistan bewegt, ist – nicht anders als in Rojava und im Qandîlgebirge, wo die Recherchereise endete – der Wille zu einem »demokratischen Konföderalismus«, zu Selbstbestimmung und Selbstverwaltung oder – wie es in Schabers Notizen heißt – zu einem Lebensgefühl, »in dem man den Anderen nicht mehr als Schranke und Begrenzung seiner selbst wahrnimmt, sondern unter Menschen Mensch wird«.

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Lower Class Magazine
Hinter den Barrikaden
Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg
Verlag: edition assemblage
184 Seiten, 13.80 EUR [D]
ISBN 978-3-96042-012-5 | WG 973
Neuerscheinung 1. August 2016