Der Üzerlik: Wandschmuck und Heilmittel traditionell

Kani Azadî

Der Üzerlik: Wandschmuck und Heilmittel traditionellDer Üzerlik bzw. der Harmal ist ein Wandschmuck. Er besteht aus den Samenkapseln des Üzerlik-Krauts, auch Harmal-Kraut genannt – auf Deutsch Steppenraute (Peganum harmala). In den Monaten Juni, Juli und August, wenn die Samenkapseln ausreifen, wird er hergestellt. Die etwa kichererbsengroßen Samenkapseln werden, wenn sie noch grün sind, mithilfe einer Nadel wie Perlen auf Baumwollfäden aufgezogen und formen den Wandschmuck. Mit eingeflochten werden zumeist ein Stück Holz, häufig mit einem Stück Stoff ummantelt, farbige Wollfäden, Stoffstücke, in neuerer Zeit auch Perlen oder farbige Plastikblüten. Es gibt die unterschiedlichsten Formen und Größen, häufig kommt die Raute als Motiv vor. Später, wenn der Wandschmuck fertig ist, trocknen die Kapseln und bekommen eine gelbe Färbung. Einmal getrocknet hält er sich jahrelang. In jeder Kapsel stecken an die fünfzig Samen, braun, abgeflacht und eckig. Sie haben einen intensiven Geruch und schmecken bitter, weshalb sie auch vom Vieh verschmäht werden. Die Steppenraute ist eine mehrjährige Wildpflanze. Ihre buschige Staude kann bis zu einem Meter groß werden. Ihre Blüten sind weiß, zart und haben fünf Blütenblätter. Sie blüht von April bis in den Juni und ist eine Wüsten- und Steppenpflanze. Dementsprechend benötigt die Pflanze wenig Wasser, aber viel Sonne.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass es gerade die Samenkapseln der Steppenraute sind, die als Üzerlik verarbeitet und auf diese Art haltbar gemacht werden. So können sie einmal getrocknet jahrelang aufbewahrt werden und sind immer griffbereit. Der Üzerlik ist nicht nur ein folkloristischer Schmuck für die Wohnung, denn die Steppenraute ist eine Heilpflanze und von alters her bekannt und wegen ihrer Wirkung sehr geschätzt. Von ihrer Wirkung her ist sie wohlbekömmlich und gegen ziemlich alles zu gebrauchen. So vermischt sich häufig Ritus mit praktischem Nutzen und wird dem Üzerlik auch nachgesagt, er schütze vor dem »bösen Blick« (nazar, Fluch). Die Pflanze wird im Volksmund deshalb auch nazar otu (Fluchkraut) genannt. Als Heilmittel hat die Steppenraute ein weites Anwendungsfeld. Sie verfügt über sedative, antidepressive, aphrodisierende, harntreibende, verdauungsfördernde, halluzinogene und abtreibende Wirkung. Daneben soll sie auch gegen Bandwürmer helfen und entzündungshemmend sein. Überhaupt ist die Verwendung der Steppenraute vielseitig. So findet sie auch als Gewürz oder als Färbemittel für Naturstoffe Anwendung. Es lässt sich sowohl Gelb als auch Rot aus ihr herstellen. Ihr Rot findet sich in alten Perserteppichen wieder.

Der Üzerlik ist in vielen Gegenden Kurdistans zu finden. Will man jedoch etwas über ihn in Erfahrung bringen, wende man sich am besten an die Frauen. Denn der Üzerlik ist ein Teil ihrer Kultur. Sie sind es, die ihn herstellen und das seit jeher. Und sie sind es auch, die mit ihm ihre ihnen Nahestehenden vor Unheil geschützt wissen wollen.

War der Üzerlik im Leben vieler Kurden bis vor Kurzem noch allgegenwärtig, so verliert auch die Kultur des Üzerlik in der modernen Zeit zunehmend an Boden. Nur noch selten greift jemand zu den Samenkapseln, um sie zu verräuchern und Heilung zu suchen. Während er in den Städten schon kaum noch in der traditionellen Bauart auftaucht, ist er in den Dörfern noch häufig zu Hause. Dort zumeist als folkloristischer Wandschmuck, von dem es im besten Falle heißt, er schütze vor dem »bösen Blick«. Auf dem Sektor muss er sich allerdings mit dem Nazar-Amulett, dem »Blauen Auge« messen, von dem er mehr und mehr verdrängt wird. Trotzdem kennt man den Üzerlik in traditioneller Machart auch heute noch an vielen Orten, so in Riha (Urfa), Êlih, Amed (Diyarbakır), Agirî (Ağrı), in Afrîn in Rojava, um nur einige zu nennen. In Riha wird er den Touristen auch zum Kauf angeboten und gilt als begehrtes Mitbringsel. Immer öfter nehmen auch andere Materialien den Platz der empfindlichen »Perlen« der Steppenraute ein. Womit er einerseits neue Nischen findet – so gibt es kaum einen Dolmuş (Sammeltaxi), in dem nicht seine Plastikversion zu finden ist –, andererseits ist der Sinn des Üzerlik, Aufbewahrungsort eines Heilkrauts zu sein, damit allerdings verloren. Doch ist er als ein Schutzamulett weiterhin präsent.