Entwicklungen in Rojava seit Ausrufung der Föderation bis September 2016

Das Föderale System Nordsyrien auf seinem Weg

Ercan Ayboğa und Devriş Cimen, 20.09.2016

Die Ausrufung des »Föderalen Systems Rojava – Nordsyrien« am 17.03.2016 ist eine wichtige Etappe im Freiheitskampf der Kurd_innen von Westkurdistan (Rojava) und der mit ihnen verbündeten Bevölkerungsgruppen und politischen Organisationen. Es war ein Ausdruck der positiven Entwicklungen im Staate Syrien nach der Befreiung von Kobanê im Januar 2015 und die Ankündigung weiterer anvisierter Ziele.

Die den drei selbstverwalteten Kantonen unterstehenden Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) hatten die Kantone Kobanê und Cizîrê im Juni 2015 verbunden und anschließend etliche weitere Gebiete befreit und den Islamischen Staat (IS) spürbar zurückgedrängt. Die taktisch-militärische Zusammenarbeit mit den USA seit der Teilbesetzung von Kobanê im Oktober 2014 spielte hierbei eine nicht untergeordnete Rolle. Dabei kooperierten sie mit einer wachsenden Zahl anderer bewaffneter Organisationen und lokaler Bevölkerungsgruppen, die sich im Herbst 2015 zu den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) zusammenschlossen. Es entstand ein größeres zusammenhängendes Gebiet.

Neben den militärischen Erfolgen gab es wichtige innere politische Entwicklungen: Die wirtschaftliche Situation verbesserte sich etwas trotz Embargo durch die Türkei, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) und den IS – insbesondere wurden die Mittel und Produkte durch den Aufbau vieler neuer Kooperativen und mehr Demokratie in der Wirtschaft gleichberechtigter und solidarischer verteilt. Sehr wichtig war es, dass eine Reihe neuer politischer Strukturen geschaffen bzw. vertieft wurden – sowohl direktdemokratische durch die Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) als auch andere im Rahmen der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung. Mittels dieser Strukturen beteiligten sich immer mehr bisher fernstehende oder bis vor kurzem unter dem IS lebende Menschen am politischen Leben. Vor allem Araber_innen brachten sich ein – entweder als Individuen oder durch verschiedene Organisationen (einschließlich Stämme).Frauenselbstverteidigungseinheit in Efrin | Foto: ANHA

Die seit dem Kobanê-Widerstand gewachsenen internationalen Sympathien für Rojava bzw. die Kurd_innen in Syrien führten zu einem Legitimitätsstatus, und auch wenn sie Grenzen hatten – vor allem durch die Antihaltung der türkischen Regierung und der PDK –, erleichterten sie die Ausrufung und den Aufbau der Föderation Nordsyrien.

Das System der Kantone hätte auf die befreiten Gebiete ausgeweitet werden können bzw. neue geographisch anschließende Kantone hätten gegründet werden können, aber der Begriff Föderation ist weitläufiger, anerkannter und verbindet alle befreiten Gebiete unter einer Verwaltung. Da die Kantone weiterbestehen und die direktdemokratischen Strukturen weiterarbeiten, ist die Föderation als Überbau der bisherigen Strukturen und als Einbindung der neu befreiten Bevölkerungsteile zu verstehen, in gewissem Maße auch als das politische Pendant zur militärisch vorangeschrittenen Entwicklung.

Die Reaktionen der betreffenden Regierungen waren unterschiedlich. Die PDK ging fast gar nicht auf die Erklärung ein – gegen das Wort Föderation hatte sie nichts, vielmehr wollte sie keine Weiterentwicklung des sich ausweitenden Bündnisses, an dem der Barzanî-assoziierte Kurdische Nationalrat in Syrien (ENKS) nicht beteiligt war – und schloss wenige Tage später die Grenze zu Rojava komplett. Der türkische Staat stand dem Ganzen ohnehin sehr feindselig gegenüber, womit es in dieser Hinsicht erst gar keine Erwartungen gegeben hatte. Das Baath-Regime lehnte das Projekt in einer Manier ab, als ob es immer noch alleiniger Souverän über das ganze Staatsterritorium wäre, ohne es im Nachhinein weiter groß zu thematisieren.

Positiver waren die Reaktionen auf internationaler Ebene, vor allem der beiden großen Mächte USA und Russland. Letzteres begrüßte die Föderation sogar – im Gegensatz zu seinem Partner Syrien. Hierbei muss gesagt werden, dass Russland zu diesem Zeitpunkt mit der Türkei im Konflikt stand. Die USA verhielten sich offiziell distanziert und wollten so etwas auf syrischer Ebene diskutiert und behandelt sehen. Die EU-Staaten haben sich dazu nicht direkt geäußert. Die Äußerungen der beiden großen Mächte sind Ausdruck ihres momentanen Kalküls im Hinblick auf den Krieg in Syrien und ihre Beziehungen mit den Rojava-Kantonen; sie können sich öffentlich jederzeit dagegen positionieren, wenn es ihren neuen Interessen entspricht.

Die anschließenden Monate vergingen damit, dass mit der eigenen Bevölkerung über die Bedeutung der erklärten und noch nicht wirklich breit praktizierten Föderation Versammlungen abgehalten wurden, in internationalen Gesprächen die dahinter steckende Idee verbreitet und Unterstützung gesucht und der Gesellschaftsvertrag vorbereitet wurde. Während dieser Diskussionen wurde im Sommer 2016 der Begriff Rojava aus dem erklärten Namen »Föderales System Rojava – Nordsyrien« herausgenommen, um damit die ethnisch-religiöse Vielfalt dieser Region noch mehr in den Vordergrund zu stellen und keiner einzigen Identität den Vorrang zu geben, auch wenn sie die Mehrheit stellen sollte. Das entsprach dem ideologischen Ansatz im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus.
Allerdings verläuft der Prozess des Aufbaus der Föderation doch nicht so schnell wie erhofft. Das zeigt sich daran, dass die Vorbereitungstreffen lange dauern, im September 2016 eine zweite Runde der Vorstellung der Föderationsidee in allen Orten stattfand und der Gesellschaftsvertrag erst im Oktober 2016 verabschiedet werden soll. Die Diskussionen nehmen wegen der Vielfalt der beteiligten Akteure viel Kraft und Zeit in Anspruch, was nicht unbedingt negativ zu werten ist. Unter normalen und friedlichen Umständen benötigt ein Gesellschaftsvertrag viel Zeit, doch es herrscht Krieg in Rojava und Syrien und die Zeit drängt.

Währenddessen nahmen die Aggressionen des türkischen Staates gegen Rojava zu. Es wurde an der Grenze weiterhin gezielt auf Bewohner_innen und YPG-/YPJler_innen geschossen und Flüchtlinge in beiden Richtungen wurden immer öfter erschossen und bei der Festnahme gefoltert. Das lief parallel zur Intensivierung des Krieges in Nordkurdistan, der sich ab Frühjahr 2016 auf den größten Teil des Territoriums – vor allem die Berge – ausbreitete.

Von März bis Mai 2016 wurde diskutiert, ob die QSD in Zusammenarbeit mit den USA als nächstes Raqqa oder Minbic (Manbidsch) angreifen sollten. Letzteres wollten vor allem die QSD. Diese Diskussion sagte viel über die Strategien aus. Die USA wollten vordergründig den IS zerschlagen, dafür war die Einnahme seiner Hauptstadt wichtig. Die QSD wollten Schritt für Schritt vorgehen, eine Verbindung mit Afrîn schaffen, damit die wichtige Şehba-Region [etwa das Gebiet zwischen Minbic und Azaz/Tel Rifaat] befreien (und nicht dem Baath-Regime oder anderen reaktionären Kräften überlassen) und schließlich die IS-Nachschubwege kappen. Raqqa wäre demnach erst einmal weniger wichtig und könnte danach befreit werden. Durch eine Reihe von Faktoren und Verhandlungen zwischen QSD und USA begann Ende Mai die Operation Minbic, die nach 73 Tagen am 12.08.2016 mit dem Verlust von über 300 Kämpfer_innen erfolgreich abgeschlossen werden konnte.
Im ersten Halbjahr 2016 hatte die Syrienpolitik des türkischen Staates abgewirtschaftet. Auch durch den Konflikt mit Russland schwand sein Einfluss auf die Entwicklungen, die AKP-nahen Kräfte verloren in Syrien immer mehr an Boden. Die Minbic-Operation machte der Türkei ihre Situation dort besonders klar. Als Folge setzte sie nun alles daran, einen Strategiewechsel einzuleiten. Zunächst wurden die USA öffentlich vor die Wahl gestellt, entweder mit der Türkei oder mit den QSD zusammenzuarbeiten. Vor allem bemühte sie sich intensiv um eine Verbesserung ihrer Beziehungen zu Russland, was eigentlich das Akzeptieren der meisten russischen Positionen bedeutete. Ende Juni 2016 kündigte sie an, ihre Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu Israel wieder zu verbessern – die schwächelnde türkische Wirtschaft war ein weiterer Faktor für diesen Schritt.

Mit diesem Kurswechsel hat die Türkei anscheinend eines ihrer beiden vordringlichsten Ziele in Syrien aufgegeben, nämlich den Sturz des Baath-Regimes und die darauffolgende Installierung einer türkeinahen Regierung. Denn das zweite wichtige Ziel – zu verhindern, dass Kurd_innen ihre Rechte und eine Autonomie in Syrien erhalten – war dem türkischen Staat wichtiger. Die Unterdrückung, Leugnung und Assimilation der Kurd_innen war und ist für ihn noch immer ein strategisches Element. Selbstbewusste und emanzipierte Kurd_innen sind nicht nur ein Trauma für die AKP, sondern für den türkischen Staat. So hat sich die AKP bereit erklärt, sich Assad doch noch anzunähern und zusammenzuarbeiten. Dies hieße eine Annäherung an Russland, Iran und Syrien, sogar auch an Irak. Letztere drei Staaten waren ohnehin nie für die Rechte der Kurd_innen in ihrem eigenen Herrschaftsgebiet.

Die Türkei erhoffte sich mit diesem Politikwechsel, die NATO-Staaten in Bezug auf Syrien unter Druck setzen zu können. Denn wenn die syrische Regierung wie auch deren strategische Partner zu möglichen Angriffen des türkischen Militärs auf Rojava schweigen, ist es für die NATO deutlich schwieriger, sich gegen die aggressiven Pläne der Türkei zu wenden. Schließlich ist diese eine strategische Partnerin, die es nicht zu verlieren gilt.

So waren die sehr gelassenen Reaktionen der Türkei zu Beginn der Minbic-Operation nicht sehr verwunderlich. Ihr reichte zunächst das Versprechen der USA, dass die YPG/YPJ sich nach der Befreiung von Minbic zurückziehen sollten. Denn zum einen hoffte sie, dass der IS die QSD in einen langen kräftezehrenden Krieg hineinziehen würde, und zum anderen bereitete sie inzwischen den genannten Strategiewechsel vor.

Als aber die QSD zusammen mit dem Militärrat von Minbic (von den QSD aufgebaute lokale Verteidigungsstruktur) am 12.08. relativ schnell Minbic befreiten, beschleunigte die Türkei die Zusammenarbeit mit dem Baath-Regime und Iran, die QSD zurückzudrängen. So war es nicht zufällig, dass wenige Tage nach der Befreiung von Minbic das Baath-Regime in Hesekê angriff. Die QSD in und um Hesekê sollten gebunden werden und nicht weiter in Richtung Afrîn marschieren können. Es sollte auch das Rojava-Projekt insgesamt geschwächt werden. Außerdem war es als ein Beweis der syrischen Regierung gegenüber der Türkei zu verstehen, dass sie tatsächlich deren Strategiewechsel gutheißt. Als dieser Angriff auf Hesekê in wenigen Tagen zurückgeschlagen wurde, ging die Türkei dazu über, selbst direkt einzugreifen.

Sie marschierte am 24.08.2016 mit ihr nahestehenden bewaffneten Gruppen (fast alle salafistische, für die das Label Freie Syrische Armee, FSA, verwendet wird) in das Şehba-Gebiet zwischen Cerablus (Dscharabulus) und Azaz ein. Syrien, Iran und Russland protestierten nicht, wegen der Absprache im Rahmen des Politikwechsels. Schon nach zwei Tagen griff das türkische Militär zusammen mit den Salafist_innen die etwa zehn Kilometer südlich gelegenen Stellungen an, die vom wenige Tage zuvor gegründeten und mit den QSD verbündeten Militärrat von Cerablus gehalten wurden. Es folgten heftige Kämpfe; türkische Kampfflugzeuge griffen Zivilist_innen an und ermordeten 35 von ihnen, als die Salafist_innen nicht vorankamen. Daraufhin zog sich der Militärrat von Cerablus aus mehreren Dörfern zum Fluss Sacûr zurück, um weitere Massaker zu verhindern. Aber auch, weil die USA inzwischen schnell intervenierten. Sie handelten de facto einen Waffenstillstand aus, der nach wie vor hält.

Die Gefahr für die befreiten Gebiete in und um Minbic ist jedoch nach wie vor groß. Die Türkei wird sich nicht damit abgeben, nur den vom IS gehaltenen Grenzstreifen einzunehmen. Sie wird wohl weiter nach Al-Bab zu gehen versuchen und dann sind Angriffe auf die QSD zu erwarten. Sie hat tausende Kämpfer_innen aus anderen Regionen Syriens wie Idlib und Aleppo abgezogen und hierher verfrachtet. Sie greift in Nordkurdistan die kurdische Freiheitsbewegung an allen Fronten auf brutale Weise an und wird sich erst recht in Rojava nicht zurückhalten. Ein tiefsitzender Hass des türkischen Staates auf die kurdische Freiheitsbewegung muss konstatiert werden, sonst ist seine Intervention in Syrien nicht ganz zu verstehen.

Welche Rolle genau die USA spielen, lässt sich nicht abschließend sagen. Ohne deren Einverständnis hätte die Türkei nie einrücken können; das wird auch nicht geleugnet. Die USA haben für ihr Einverständnis und ihre begrenzte militärische Unterstützung für den türkischen Einmarsch wahrscheinlich mehrere Aspekte berücksichtigt. Vorausgegangen waren die türkische Kehrtwende in ihrer Syrienpolitik und das De-facto-Schweigen von Syrien, Iran und Russland. Die Türkei jonglierte geschickt mit dem gescheiterten Militärputsch, präsentierte sich international als Opfer und setzte westliche Staaten moralisch unter Druck, weil die angeblich den Putsch indirekt unterstützt hätten – sie fühlte sich »alleingelassen«, so die Propaganda. Der Druck basierte auch darauf, dass die Türkei ihre Beziehungen zu Russland in Windeseile fast wieder auf den Stand vor der Verschärfung des Syrienkonflikts gebracht hat und die Option diskutiert, sich strategisch nach Osten zu orientieren. Die USA und die EU wollen dagegen die Bündnispartnerin Türkei in der NATO halten.

Der zweite wichtige Grund für die USA liegt darin, dass sie die Kurd_innen von Rojava gegen die Türkei ausspielen wollen, was aber nicht gleich das Ende der militärischen Kooperation bedeutet. Die USA sind daran interessiert, dass die Revolution von Rojava nicht zu erfolgreich wird und nur den IS in ihrem eigenen Sinne bekämpfen soll. Es handelt sich schließlich um ein emanzipatorisches und solidarisches Projekt, was dem Staat USA ideologisch widerspricht. Zwar sind die USA in ihrer Außenpolitik sehr pragmatisch, doch haben sie in der Geschichte noch nie mit einer solch linken Kraft – wenn auch nur militärisch – kooperiert. Die Kurd_innen haben seit dem Oktober 2014 allseits betont, dass es um eine taktische Zusammenarbeit gehe und sie nicht darauf vertrauen wollten, sie strategisch zu sehen, was eine Lehre aus ihrer eigenen Geschichte ist. So haben sie auch immer wieder gleichzeitig mit Russland Gespräche geführt, um Widersprüche zwischen den verschiedenen Kräften auszunutzen. Dennoch haben sie ein vordergründiges Interesse daran, dass die Zusammenarbeit mit den USA weitergeht. Die USA sind schließlich ein Mittel, den IS schneller als sonst in die Schranken zu weisen und die Aggression der Türkei gegen Rojava zu zügeln. Allerdings sind diesem Interesse Grenzen gesetzt, insbesondere wenn es um die politischen Inhalte in Rojava geht.

Hier ist zu erwähnen, dass die Kurd_innen in Syrien als dritten Weg das Modell der Demokratischen Autonomie recht erfolgreich entwickeln. Ein Modell – egal, welchen Namen es in der Tat trägt –, das eine Lösung für die ethnische und religiöse Vielfalt Syriens anbietet. Das tun sie auch unter Embargo- und Kriegsbedingungen, um so viele Bevölkerungsgruppen wie möglich einzubinden, und verteidigen es gegen jeglichen Angriff. Die von einigen internationalen Medien verbreitete Nachricht nach dem türkischen Einmarsch in Syrien, wonach die Kurd_innen von den USA verraten werden würden, ist eine Desinformation. Denn es wird so dargestellt, als gäbe es keine autonomen Strukturen und alles würde von den USA vorangetrieben. Oder als ob das Autonomie- oder Föderationsprojekt vom Einverständnis der USA abhinge. Dahinter steht eine orientalistische Betrachtungsweise. Die Realität sieht allerdings so aus, dass mit jeder Kraft, die das Projekt anerkennt, Kontakte geknüpft werden und kooperiert wird. Das können die USA, Russland oder auch der syrische Staat sein.

Die kurdische Freiheitsbewegung hat die US-Billigung der türkischen Intervention in Syrien als Fehler bezeichnet und es damit begründet, dass die Türkei weitergehende Ziele in Syrien verfolge und sich nicht mit dem Grenzstreifen zufriedengeben werde. Sie werde weiter vorrücken und die QSD angreifen wollen, womit der Konflikt in Syrien weiter verkompliziert und die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Friedensprozesses in Syrien noch weiter abnehmen werde.

Dieser türkische Einmarsch ist auch im Sinne des IS. Denn es war spätestens mit der Befreiung von Minbic klar, dass der IS den Grenzstreifen zwischen Azaz und Cerablus aufgrund des internationalen Drucks nicht länger würde halten können. Die türkische Kontrolle über das an das Herrschaftsgebiet des IS angrenzende Areal wird ihm weiterhin ermöglichen, mit direkter türkischer Hilfe an neue Kämpfer, Waffen und Logistik zu kommen. Die Übergabe des vom türkischen Militär transportierten Materials irgendwo über die türkisch-syrische Grenze wird viel schwieriger nachzuweisen sein. So kann der IS sich weiter am Leben halten und vor allem für das Föderale System Nordsyrien eine große Gefahr bleiben. Mit anderen Worten: Der türkische Einmarsch ist auch eine Hilfsaktion für den IS.

Sind sich die USA solcher Gefahren nicht bewusst? Bestimmt. Warum schweigen sie? Weil die Türkei eine Bündnispartnerin ist, die es nicht zu verlieren gilt; und auch aus anderen strategischen Gründen (»den Feind kontrollieren können«). Ist denn der Kampf gegen den IS dann nicht eine Farce? Teilweise ja, denn einerseits werden die QSD unterstützt und andererseits die Türkei in Syrien, die Hauptunterstützerin des IS.

Eine andere wichtige Frage ist, ob die Türkei wirklich endgültig das Ziel aufgegeben hat, das Baath-Regime zu stürzen. Hat sie damit wirklich ihren Einsatz im Krieg um Aleppo aufgegeben? Oder gibt es vielleicht das Ziel, dass die türkeinahen Salafist_innen Aleppo von Norden aus – wenn die Şehba-Region unter Kontrolle gebracht ist – angreifen und von der Türkei dabei mit Waffen und Logistik unterstützt werden? Wahrscheinlich hat sich die Türkei diese Option freigehalten. Denn sie wird schauen, wie weit die Konzessionen Russlands, Irans und Syriens gehen und wie die NATO-Staaten reagieren werden.

Die Kräfte im Föderalen System Nordsyrien sind im Interessengeflecht der Welt- und Regionalmächte nicht so schwach, dass sie einfach überrollt werden könnten. Zum einen ist ihre militärische Widerstandskraft stärker denn je, zum anderen können die Kurd_innen nicht mehr wie früher negiert werden. Überhaupt akzeptiert der Mittlere Osten dauerhaft keine reaktionären, statischen und kollaborierenden Regime mehr. Der Drang der ethnischen, religiösen und sozialen Bevölkerungsgruppen nach mehr Freiheit und gegen Ausbeutung und Unterdrückung ist stärker geworden. Die Aufstände seit 2011 in mehreren Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas sind auch ein Ausdruck davon.

Die kurdische Freiheitsbewegung hat in den letzten 35 Jahren die Entwicklungen im Mittleren Osten im Vergleich am besten voraussehen können. Der revolutionäre Prozess von Rojava trifft diese Forderungen in erheblichem Umfang, was seinen bisherigen Erfolg erklärt. Und die Bewegung baut ihre Selbstverwaltung und -verteidigung immer weiter aus, macht sich dabei nicht von anderen Kräften abhängig und vertraut nur auf ihre eigene Stärke. Obwohl alle Staaten und reaktionären Kräfte die revolutionäre Entwicklung in Rojava und Nordsyrien verleugnen, beeinträchtigt das nicht unsere Hoffnung auf einen Erfolg, der durch internationale Solidarität gestärkt werden kann. Jede Solidarität mit der Revolution von Rojava wird die unabhängige und befreierische Linie in Syrien und im Mittleren Osten stützen.