Die Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen als Teil der Opposition in der Türkei

Wo es keinen Frieden gibt, kann auch nicht von Bildung gesprochen werden

Interview mit Sakine Esen Yılmaz

Sakine Esen Yılmaz war Generalsekretärin von Eğitim Sen (Eğitim ve Bilim Emekçileri Sendikası), der Gewerkschaft für Bildung und Wissenschaft in der Türkei. Sie musste aufgrund von Repressionen das Land verlassen und befindet sich auf der Flucht. Sie lebt derzeit als Asylbewerberin in Deutschland. Dem Kurdistan Report gewährte sie ein Interview.

Können Sie uns kurz Ihre Gewerkschaft vorstellen? Wann wurde sie gegründet, aus welchen Bedürfnissen heraus? Wie viele Mitglieder haben Sie? Und was sind die bisherigen Aktivitäten?

Eğitim Sen wurde am 23. Januar 1995 mit dem Zusammenschluss der Bildungsgewerkschaften Eğitim-İş und Eğit-Sen gegründet. Sie ist Nachfolgerin der Lehrer*innengewerkschaften TÖS und TÖB-DER in der Türkei. Sie setzt den hundertjährigen traditionellen Kampf für Bildung und Bildungswerktätige im öffentlichen Dienst fort und organisiert für den Bereich der Bildung Werktätige im öffentlichen Dienst. Eğitim Sen sichert in der Türkei die Mitgliedschaft von staatlichen Beamt*innen in einer Gewerkschaft. Bevor es diese Gesetzesregelung gab, also vor den Regelungen von 2001, führte Eğitim Sen den Kampf für erste Gewerkschaftsrechte, das Streikrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen. Wenn staatliche Beamt*innen heute in Gewerkschaften Mitglied sind, dann nur, weil Eğitim Sen es ermöglicht hat. Heute haben Beamt*innen in der Türkei immer noch kein Streikrecht. Bei Tarifverhandlungen haben sie begrenzte Rechte. Eğitim Sen führt heute den Kampf für weitere Gewerkschaftsrechte und den Kampf für die Freiheit fort.

Aktuell mit mehr als 100 000 Mitgliedern steht Eğitim Sen für das Grundprinzip der kostenlosen säkularen, wissenschaftlichen und muttersprachlichen Bildung. Eğitim Sen spielt gleichzeitig auch eine aktive Rolle im Demokratisierungsprozess des Landes, für die Freiheit der Frau und für den Friedensprozess. Unsere Gewerkschaft glaubt an eine direkte Beziehung zwischen der Demokratisierung der Gesellschaft und den Bildungsproblemen und führt beide Kämpfe parallel.Demonstration von KESK in Ankara | Foto: DIHA

Sie sind Bestandteil von KESK. Wie ist Eğitim Sen darin eingegliedert?

Eğitim Sen ist mit ihren Mitgliedern der größte Bestandteil des Dachverbandes der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei (KESK – Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu). KESK wurde am 8. Dezember 1995 in Ankara gegründet und gehört dem Internationalen und dem Europäischen Gewerkschaftsbund an.

In welcher Region sind Sie stark vertreten und welche Arbeiten werden dort ausgeführt? Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie konfrontiert und wo gibt es keine Probleme?

Eğitim Sen ist eine in der gesamten Türkei organisierte Gewerkschaft. Sie vereint 103 Filialen und verfügt über ein Organisationsnetz mit mehr als 400 Vertretungen bis in die entlegensten Orte der Türkei. Mit ihnen zusammen arbeitet ca. die Hälfte der Mitglieder von Eğitim Sen in den kurdischen Provinzen. Doch leider waren und sind die Eğitim-Sen-Mitglieder an ihren Einsatzorten allen möglichen Repressionen und Ermittlungen ausgesetzt. Um die oppositionellen Stimmen im Bildungsbereich zum Schweigen zu bringen und einer AKP-nahen Gewerkschaft Platz zu schaffen, wurden die Eğitim-Sen-Mitglieder zum Austritt gedrängt, einem Mobbing an ihrem Arbeitsplatz ausgesetzt und ihre Aktivitäten wurden verboten. Im Zusammenhang mit dem in den letzten Jahren verschärften Krieg in den kurdischen Provinzen wurden Mitglieder und Vorstandsmitglieder von Eğitim Sen von regierungsnahen Presseorganen zur Zielscheibe gemacht. Das Ergebnis war, dass einige Personen suspendiert und verhaftet wurden.

Eğitim Sen hat diese unrechtmäßigen Vorgehensweisen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und vor die Internationale Arbeitsorganisation (ILO – International Labour Organization) gebracht und versucht, die positiven Entscheidungen zur Regulierung der Inlandsgesetze zu nutzen, die sie durch ihre wirksame Arbeit erzielen konnte.

Mit welchen Repressionen des türkischen Staates hatten Sie in der Vergangenheit zu kämpfen?

Insbesondere wegen der Forderung nach muttersprachlicher Bildung standen wir 2005 kurz vor einem Verbot. Obwohl der EGMR dieses Verbotsverfahren für unrechtmäßig erklärte, werden sogar noch heute viele Eğitim-Sen-Mitglieder wegen der Forderung nach Bildung in der Muttersprache mit Ermittlungsverfahren überzogen. Bei zwei großen Operationen am 26. Mai 2009 in Izmir und am 25. Juni 2012 in Ankara wurden mehr als 150 Personen, mehrheitlich Gewerkschaftsvorstände, monatelang gefangen gehalten. Natürlich waren diese Operationen nicht juristischer, sondern politischer Natur – und durch die Kriminalisierung der Gewerkschaft sollten die Angestellten im öffentlichen Dienst daran gehindert werden, bei den KESK-Gewerkschaften und allen voran bei Eğitim-Sen Mitglied zu werden. Seit 2009 bis heute gibt es in den kurdischen Provinzen keine Mitglieder von Gewerkschaftsvorständen, die nicht disziplinarischen und gerichtlichen Ermittlungen und sogar Untersuchungshaft ausgesetzt waren.

Seit Juli 2015 wird ein intensiver Vernichtungskrieg in Kurdistan geführt. Inwiefern sind Sie davon betroffen? Und welche Unterschiede gibt es zu den Repressionen aus der Vergangenheit?

Besonders in den 1990er Jahren wurden sehr viele Personen bei gewerkschaftlichen Aktivitäten von unbekannten Tätern ermordet. Der auffälligste Unterschied zu den 90er Jahren ist: Während damals Führungspersonen gezielt ermordet wurden, werden heute werktätige und demokratische Kräfte mit Hilfe angeheuerter Kräfte umgebracht.

Die Kundgebung in Ankara ist in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. KESK und Eğitim Sen hatten zu der Kundgebung für Demokratie und Frieden am 10. Oktober 2015 in Ankara mit aufgerufen. Beim Angriff auf diese Kundgebung wurden hunderte KESK-Mitglieder verletzt und insgesamt haben 101 Personen ihr Leben verloren. Dieser Angriff auf die werktätigen und demokratischen Kräfte in der Türkei war gleichzeitig ein Angriff auf KESK. Hinter dem Angriff stand der Plan, die Kräfte einzuschüchtern, die gegen den Krieg protestieren könnten.

Nach dem Angriff vom 10. Oktober wurde in den Orten mit Ausgangssperre wie Farqîn (Silvan), Sûr, Nisêbîn (Nusaybin) und Cizîr (Cizre) in dem brutalen Kriegszustand deutlich, warum auf die Forderung nach Frieden und Demokratie mit einem Massaker geantwortet worden war. Eğitim Sen hat immer die Arbeiter*innenrechte, den Frieden und das Streben nach Demokratie verteidigt. Sie hat mit den Menschen, die nach dem Angriff des Islamischen Staates (IS) auf Şengal und Kobanê in die Türkei geflohen waren, Solidarität gezeigt und in der Bildungs- und Rehabilitationsarbeit für die Kinder in den Flüchtlingscamps eine aktive Rolle gespielt. Dieses Verhalten von Eğitim Sen machte sie zur Zielscheibe für die Regierung. Eğitim Sen hat nie Gewerkschaftsarbeit als Verteilen von Brot und Butter gesehen, sondern hat immer zusammen mit den Kräften für die Werktätigen und für Demokratie gearbeitet. Dort, wo es keinen Frieden gibt, kann auch nicht von Bildung gesprochen werden.

Am 29. Dezember 2015 wurde mit einem eintägigen Streik gegen den Krieg erneut die Forderung nach Frieden erhoben. Daraufhin hat die Regierung Ermittlungen gegen 13 000 Eğitim-Sen-Mitglieder aufgenommen, die am Streik teilgenommen hatten. Zu ihnen gehörten die nach dem Putschversuch vom 15. Juli suspendierten 11 285 Eğitim-Sen-Mitglieder. Die den Militärputsch für einen zivilen Putsch ausnutzende AKP hatte eigentlich schon vor Jahren mit diesen Vorbereitungen begonnen. Sie versucht das gesellschaftliche Gefüge mit ihrer eigenen Ideologie zu formen.

Mit dem Massaker vom 22. Juli 2015 in Pîrsûs (Suruç) wurde die Umsetzung dieses Plans begonnen. Schließlich wurde nur einige Tage nach diesem Massaker die Hauptgeschäftsstelle von Eğitim Sen von der Polizei gestürmt, und die sich dort aufhaltenden Gäste wurden festgenommen. Das Ziel ist vor allem, den Willen derjenigen demokratischen Massenorganisationen zu brechen, die die kurdische Frage auf friedlichem Wege lösen wollen. Die AKP arbeitet einerseits daran, die Gewerkschaft wirkungslos zu machen, und andererseits setzt sie mit der sich vertiefenden Kurd*innenfeindschaft die Ausgliederung der kurdischen Erzieher*innen in die Tat um. Auf diese Weise glaubt sie, alle oppositionellen Kräfte, die gegen die türkisch-islamische bzw. nationalistisch-rückständige Bildungspolitik stehen, zum Schweigen bringen zu können.

Seit dem versuchten Militärputsch und Erdoğans zivilem Putsch wird Jagd auf die Opposition gemacht. Inwiefern betrifft Sie das als Teil der Opposition?

In der Türkei gibt es eine Million Kinderarbeiter*innen. Mit der Suspendierung von 11 285 Lehrkräften haben eine Million Kinder das neue Schuljahr ohne Lehrer*innen begonnen. Auf der anderen Seite unterliegen wegen der fehlenden muttersprachlichen Bildung Kinder mit einer anderen Muttersprache als Türkisch der Assimilation. Darüber hinaus wird zusätzlich auf Gruppen mit anderer Glaubensrichtung durch das Verfahren des verpflichtenden [sunnitischen] Glaubensunterrichts Druck ausgeübt. In der Türkei unterliegen die Kinder leider einem der AKP-Ideologie entsprechenden Erziehungsprozess. Außerdem ist es wegen des Krieges in Kreisen wie Kilis, Cizîr, Sûr, Nisêbîn (Nusaybin) oder Hezex (Idil) nicht möglich, von Bildung zu sprechen, weil dort ein erheblicher Teil der Schulen in Polizei- und Militärstationen umgewandelt wurde.

Gibt es internationale Solidarität? Wenn nicht, woran liegt es? Der Kurdistan Report wird im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Was möchten Sie zur Sprache bringen? Welche Wünsche, Appelle und Forderungen haben Sie?

Die Öffentlichkeit in Deutschland und in der Welt sollte wachsam und mitfühlend sein mit Kindern, denen das Recht auf Leben – in der Türkei haben Dutzende Kinder wegen des Krieges ihr Leben verloren – sowie das Recht auf Bildung und Gesundheit verwehrt wird. Und sie darf zu dieser von der türkischen Regierung betriebenen Politik nicht schweigen. Sie sollte die suspendierten Lehrer*innen und Mitglieder von Eğitim Sen nicht alleinlassen und Solidarität zeigen.