Ich stamme aus einem Land, in dem der Präsident sagt: »Ich habe keine Zeit, Zeitungen zu lesen. Meine Assistenten fassen mir immer alles zusammen ...«

Die alten Putschisten sind erfahrener als die neuen

Ahmet Nesin, Schriftsteller, Rede vor den UN am 22.09.2016

Lassen Sie mich Ihnen zuerst erklären, aus was für einem Land ich komme. Sie werden feststellen, dass mein Text weniger eine Analyse ist als vielmehr überwiegend aus Beispielen besteht. Es ist mein erster wichtiger Text und ich denke, dass beispielhafte Ausführungen am überzeugendsten und nachvollziehbarsten sind. Ich könnte Ihnen auch Statistiken vorstellen; aber da ich mir sicher bin, dass Sie diese sofort vergessen würden, wenn sie nur schriftlich dargelegt werden, werde ich Ihnen von meinen Erfahrungen erzählen, da diese nicht so leicht in Vergessenheit geraten.

Die erste Zeitung in der Türkei, bzw. die erste türkische Zeitung, wurde von Agâh Efendi im Jahre 1860 herausgegeben. Es gab zuvor auch andere Publikationen, doch diese wurden von Franzosen und nicht in türkischer Sprache publiziert. In Europa gab es die erste gedruckte Zeitung überhaupt im Jahre 1605.

Das erste uns bekannte Buch der Welt ist 2 500 Jahre alt und befindet sich derzeit in einem Museum in Bulgarien. Das erste gedruckte Werk ist eine Bibel aus dem Jahre 1 450. Das erste gedruckte türkische Werk hingegen war Vankulu Lugati im Jahre 1729. Ibrahim Müteferrika, der die erste Druckerei ins Land brachte, gab bis zu seinem Tod insgesamt siebzehn Werke heraus. Sowohl bei der ersten gedruckten Zeitung als auch beim ersten gedruckten Buch liegt eine Spanne von 250 Jahren zwischen der europäischen und der türkischen Ausgabe. Die Spanne wird noch größer, wenn noch die Einführung des lateinischen Schriftsystems in der Türkei, also die türkische Sprache in Betracht gezogen wird. Nun werde ich versuchen, die Pressefreiheit der Türkei aus diesem Zeitunterschied zu erläutern.

Ich stamme aus einem Land, in dem Postkarten mit Taubenmotiven im Grunde verboten sind. Wie es in anderen Ländern aussieht, weiß ich nicht, doch in der Türkei werden Parlamentsbeschlüsse über lange Zeit angewendet, bis eine neue Regierung sie wieder aufhebt. Da die Taube den Frieden symbolisiert, Picasso sie mit einer solchen Absicht gezeichnet hat und der Frieden immer das Bestreben der Linken war, wurden Bilder und Postkarten, auf denen eine Taube abgebildet war, in der Türkei einst verboten.Oppositionelle Medien wurden in der Türkei per Dekret verboten

Das wurde nicht mal mit einem Gerichtsbeschluss entschieden, sondern im Parlament. Dieses Verbot blieb bestehen, da es von keinem ernst genommen wurde. Falls ein demokratisches Parlament versuchen würde, alle antidemokratischen Beschlüsse der Vergangenheit abzuschaffen, würde es für dieses Vorhaben wahrscheinlich vier bis fünf Jahre brauchen; und höchstwahrscheinlich würde es wieder abgewählt werden, da es auf Grund dieser Beanspruchung nichts anderes zustande bringen konnte.

Es war das Jahr 1981, als gegen einen unserer wichtigsten Poeten und Übersetzer, Abdül Kadir, gerichtlich vorgegangen wurde, da er ein Buch von Brecht übersetzt hatte. Als sein Verfahren beendet war, erzählte er mir, was der gutmütige Staatsanwalt ihm gesagt hatte: »Herr Abdül Kadir, Sie könnten auch ein vierversiges Gedicht schreiben. Wir sind mit derartigen Vollmachten ausgestattet, dass wir Sie wegen eines kleinen Wörtchens aus diesem Gedicht hinter Gitter bringen könnten.«

Ich stamme aus einem Land, von dem behauptet wird, dass da ein Putschversuch unternommen wurde. Besser gesagt glauben oder denken Sie, dass ich aus solch einem Land stamme. In Wirklichkeit stamme ich aber aus einem Land, das fortdauernd von einer Militärjunta regiert wird. Ich denke, dass jeder hier, sogar auch in der Türkei, zustimmt, dass der Putsch am 12. September 1980 faschistisch war. Ich bin mir sogar sehr sicher, dass der Präsident Recep Tayyip Erdoğan dasselbe sagen würde, wenn man ihn danach fragen würde. Wir stimmen mit ihm in einer Sache überein, aber leider bin ich mir nicht sicher, ob das mein Pech ist oder seins.

Lassen Sie mich Ihnen etwas Merkwürdiges mitteilen: Die Türkei, von der behauptet wird, hier wäre ein Putschversuch unternommen worden, wird immer noch mit der faschistischen Verfassung des 12. September 1980 regiert. Dafür gibt es nur eine Begründung, nämlich dass der Faschismus in der Türkei seit 1980 fortgeführt wird. Die Türkei wird immer noch mit der 12.-September-Verfassung, mit demselben Wahl- und Parteiengesetz und mit derselben 10%-Hürde regiert.

Es geht um nichts anderes als um eine Art Vertrauensfrage der Putschisten, von denen es bei uns im Übermaß gibt, mit der sie das Vertrauen durch Putsch erneuern – ganz genau wie es Regierungen tun, die mit einer knappen Mehrheit gewählt wurden und sich durch Vertrauensfragen an das Parlament gelegentlich legitimieren. Falls sie es schaffen, werden sie wie Kenan Evren Präsident, wenn nicht, kommen sie ins Gefängnis. Sie denken wahrscheinlich, der fehlgeschlagene Putschversuch bringt automatisch eine Demokratisierung mit sich. Doch derjenige, der durch den Putsch gestürzt werden sollte, regiert selbst mit einer Militärjunta-Verfassung und hat die Gunst der Stunde ausgenutzt, um den eigenen Putsch – also den Faschismus – auszuweiten. Eigentlich haben wir mehr Glück als Ihr, denn ein Putsch wird gegen eine Demokratie unternommen. Wird jedoch versucht, ein Putschregime durch einen Putsch zu stürzen, wird dies nicht gelingen, denn die alten Putschisten sind erfahrener. Aber, wie bereits gesagt, haben wir bei uns eine Menge von der Sorte Putschisten. Die Regierung schickt die neuen Putschisten in die Gefängnisse und holt die alten da raus, um mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Mir ist bewusst, dass ich eigentlich über die Presse in der Türkei und Kurdistan hätte schreiben sollen. Doch ohne diese Einleitung kann ich nicht von der Presse, von meinem Beruf erzählen. Mein Vater, Aziz Nesin, war Autor und Journalist. Seine erste Verhaftung war im Jahr 1946 und meine letzte 2016. Ich wurde also wegen der gleichen Straftat wie mein Vater siebzig Jahre nach ihm verhaftet. Cetin Altan wurde zuletzt 1970 und seine Söhne Ahmet und Mehmet Altan wurden nun auch neulich, 46 Jahre später, verhaftet, und Mehmet wurde anschließend zu einer Haftstrafe verurteilt. Die Türkei ist also durch und durch ein stabiler Staat: Sie steht seit dem ersten Tag der Erschaffung durch Gottes Hand fest auf ihren Beinen und hat sich nie selbst verraten.

Wissen Sie, vor wie vielen Jahren die Druckerei Tan angezündet wurde? Ganz genau vor 71 Jahren, 1945, wurde die Druckerei und Redaktion Tan verbrannt. Wissen Sie, wer unter denjenigen war, die die Zeitung geplündert und angezündet haben? Der spätere türkische Premierminister und Präsident Süleyman Demirel. Und wann wurde die kurdische Zeitung Özgür Ülke bombardiert? Im Jahre 1994! Interessant an dem Ganzen ist, dass die Zeitung Tan am 4. Dezember angegriffen wurde und Özgür Gündem am 3. Dezember. Ich bin mir sicher, dass die Terminierung der Angriffe bewusst geschah. Das Datum für das Referendum ist nämlich auch identisch mit dem des Putsches am 12. September. Mag sein, dass 49 Jahre zwischen beiden Ereignissen liegen, doch beide verfolgen die gleiche Idee. Ich stamme aus einem Land, in dem Zeitungen der sich nach Frieden sehnenden Kurden angezündet werden. Ich stamme aus dem Land, in dem kurdische und sozialistische Jugendliche ermordet werden, weil sie Zeitungen verteilt oder über Tatsachen berichtet haben. In meinem Land werden Druckereien, Redaktionen und Zeitungen angezündet. Was mir und Ihnen fremdartig erscheint, sehen Menschen, die nur ihrem alltäglichen Leben nachgehen, als Normalität. Das hängt damit zusammen, dass der Islam auch lange Zeit Druckereien verboten hat. Während Ihr damit angefangen habt, Eure Bücher und Zeitungen zu lesen, haben wir uns unserem Klatsch und Tratsch gewidmet. Das Druckwesen ist mit 300 Jahren Verspätung bei uns angekommen, deswegen wird das System, das Ihr und die Intellektuellen bei uns Faschismus nennt, in der Türkei und in Kurdistan als der Kampf um die Demokratie verkauft.

Ich stamme aus einem Land, in dem außer vier, fünf revolutionär-demokratischen Zeitungen alle Zeitungen von Bossen verwaltet werden, die selbst keine Journalisten sind. Diese Zeitungsbosse haben keine Wertschätzung für einen Reporter, einen Autor, sie verstehen nichts von Journalismus oder vom Wesen von Kolumnen. Um dies verstehen zu können, muss man selbst Journalist sein.

Ich stamme aus einem Land, in dem der Präsident sagt: »Ich habe keine Zeit, Zeitungen zu lesen. Meine Assistenten fassen mir immer alles zusammen ...« Ich stamme also aus einem Land, das von einer Person regiert wird, die aus Zeitmangel keine Bücher und Zeitungen liest, keine Theater- und Filmvorführungen besucht, der die Oper und das Ballett scheut wie einen Geist. Man kann von jemandem, der so etwas nicht goutiert, nicht erwarten, dass er der Türkei Frieden und Demokratie bringt. Wir können doch nicht von jemandem mit einem solchen Gedankengut erwarten, dass er die Problematik des Mittleren Ostens, die Syrien- oder Irak-Problematik, geschweige denn die Türkei-Problematik versteht.

Ich stamme aus einem Land, in dem die Vorsitzenden des Friedensvereins inhaftiert sind und in der Haft an Krebs sterben. Ich versuche Ihnen das Ganze als jemand, der wegen eines Friedensaufrufs verhaftet wurde, etwas näherzubringen. Ich stamme aus einem Land, in dem viele Journalisten wie mein Bruder Metin Göktepe ermordet oder verhaftet wurden.

Ich bin hier, um den Autoren Aslı Erdoğan und Necmiye Alpay eine Stimme zu geben, die wie ich und meine Freunde Erol und Sebnem wegen einer eintägigen Solidaritätsaktion mit der Zeitung Özgür Gündem verhaftet worden sind und immer noch festgehalten werden.

Ich stamme aus einem Land, in dem Özgür Gündem verboten wurde und die Mitarbeiter nach Lust und Laune verhaftet werden. Zurzeit sind mehr als 100 Autoren- und Journalistenkollegen inhaftiert. Ich stamme aus einem Land, das einen der letzten zehn Plätze des Welt-Demokratie-Rankings belegt. Ich versuche Ihnen ein Land zu erklären, in dem der Reisepass der Ehefrau von Can Dündar, der für die Demokratie kämpft, konfisziert wird. Ich versuche Ihnen also eine Pressewelt zu erklären, in der wir alle als Geiseln festgehalten werden.