Was der Angriff auf kurdische und oppositionelle Medien über die »neue« Demokratie in der Post-Putsch-Türkei aussagt
Nach dem Putsch ist vor dem Putsch
Rosa Burç, Politikwissenschaftlerin
Bereits eine Woche nach Vereitelung des Putschversuchs vom 15. Juli wurden die Straßenschilder in Istanbul ausgetauscht. Will man heute von der europäischen auf die asiatische Seite, so fährt man nicht mehr über die »Bosporus-Brücke«, sondern über die »Brücke der Märtyrer des 15. Juli«. Präsident Erdoğan erklärte den Ausnahmezustand und ließ täglich Demokratiekundgebungen stattfinden. Der Ausnahmezustand werde die Grundrechte nicht verletzen und die Bürger würden ihren Alltag wie gewohnt fortsetzen können, erklärte er. Denn man bereinige ja »nur« den Staat von den Putschisten.
Erdoğan betonte ausdrücklich, dass der Ausnahmezustand lediglich zum Schutze der Demokratie notwendig sei und der Staat sich vor sich selbst schützen müsse. Zeitgleich patrouillierten Spezialeinheiten der Polizei in allen Hauptstraßen großer Städte und führten willkürliche Personenkontrollen und Festnahmen durch. Dies alles diene der türkischen Demokratie, die mit dem 15. Juli wieder zu sich gefunden habe, so Erdoğan. Also eine Demokratie per Notverordnung.
Doch kann überhaupt noch von Demokratie die Rede sein, wenn ein Land im Ausnahmezustand und per Dekret des Staatspräsidenten regiert wird? Rein ontologisch ist der größte Feind von Militärputschen die Stärkung und Vertiefung der Demokratie und nicht die Abschaffung ihrer Institutionen.
Dass der Putschversuch einen zivilen Putsch geboren hat, wurde spätestens mit der Schließung der letzten oppositionellen und kurdischen Rundfunkanstalten Anfang Oktober deutlich. Im Visier der Regierung stehen lange nicht mehr nur die zum Feind stilisierten Anhänger der Gülen-Bewegung, die für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich gemacht werden, sondern die »traditionellen Feinde« der Republik: Oppositionelle und Kurden.
Wie sonst lässt sich erklären, dass per Dekret des Staatspräsidenten die Schließung eines Kinderkanals erzwungen wurde, der lediglich Kindersendungen wie »Spongebob – Schwammkopf« oder »Die Schlümpfe« in kurdischer Synchronisation zeigte? Den Kurden wird zunehmend der Raum für eine eigene Stimme, sei es auch »nur« ein alternatives Sendeprogramm für kurdische Kinder, genommen. Begründet wird dies mit »notwendigen Maßnahmen gegen terroristische Propaganda und Organisation« und rechtlich abgesichert mit Notverordnungen im Rahmen des Ausnahmezustandes, der zuletzt um weitere drei Monate verlängert wurde.
Zahlreiche Oppositionelle, Anwälte, Menschenrechtler, Politiker, Bürgermeister, Journalisten, Intellektuelle, Kulturschaffende, Radio- und Fernsehanstalten, Verlagshäuser und Zeitungen, die die Kurdenfrage thematisieren und sich der Demokratiefrage in der Türkei widmen, sind in der Post-Putsch-Türkei massiven staatlichen Angriffen ausgesetzt. Obwohl es sich ja, laut Regierung und Staatspräsident Erdoğan, um einen »Krieg gegen die Feinde der Demokratie« handle, die betont eine türkische sei.
Die Türkei erlebt in der Phase nach dem 15. Juli vielmehr ein Revival des »Regimes der nationalen Einheit«, in dem nur diejenigen Platz finden, die sich mit der allbekannten Parole »eine Nation, eine Flagge, ein Staat, ein Vaterland« identifizieren. Es ist der Versuch, die Türkei zurück auf ihre Werkseinstellungen zu setzen, also ein Narrativ ausgehend von den Losungen »Wie glücklich ist der, der sich Türke nennt« und »Die Türkei den Türken« erneut salonfähig zu machen.
Nachdem 1980 das türkische Militär zum dritten Mal in der Geschichte der Republik geputscht hatte, erschien die kurdische Zeitung unter dem Namen »Hawar«, was in kurdischer Sprache so viel bedeutet wie »Hilferuf, Klage«. Sie wurde damals von Inhaftierten des für seine Foltermethoden bekannten Gefängnisses von Amed (Diyarbakır) handschriftlich verfasst. Sie war somit im Grunde eine »Klageschrift«. So lässt sich auch vielleicht am besten die kurdische Pressegeschichte beschreiben. Denn nur in den von Kurden herausgebrachten Zeitungen wurden die Missstände in den Gefängnissen, die Repressionen des Staates und die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen thematisiert.
Die Tageszeitung Özgür Gündem hat sich der Fortführung dieser Tradition angenommen, die mit der Hawar-Zeitung im Gefängnis von Amed begonnen hatte. Sie wurde in den 1990er Jahren mit der Idee gegründet, den Kurden und demokratischen Kreisen ein Sprachrohr zu geben, und wurde aus diesem Grund oft zur Zielscheibe verschiedener Regierungen. Ihre Redaktionsräume wurden unter der Regierung von Tansu Çiller zwei Mal bombardiert, viele Redakteure verloren ihr Leben in Untersuchungshaft, wurden auf offener Straße erschossen oder waren gezwungen, das Land zu verlassen. Bekanntlich waren die 1990er Jahre eine dunkle Zeit in der Türkei, besonders mit Blick auf Presse- und Meinungsfreiheit.
Aus diesem Grund hat die Tageszeitung Özgür Gündem, die vergangenen September zum 50. Mal verboten und geschlossen wurde, eine besondere Stellung im Bewusstsein demokratischer Kräfte des Landes. Dass heute immer noch mit der Begründung der »Terrorpropaganda« Sendeanstalten und Zeitungen geschlossen werden, die sich für einen alternativen Diskurs in der Demokratie- und Kurdenfrage einsetzten, zeigt, dass die Regierung keinerlei Ambitionen verfolgt, die Kurdenfrage mit demokratischen und friedlichen Mitteln zu lösen.
Auch der Versuch, Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die sich mit den geschlossenen Radio- und Fernsehanstalten sowie Zeitungen solidarisieren, aus dem politischen Geschehen auszugrenzen, u. a. über die Immunitätsaufhebung, zeigt die Entschlossenheit der Regierung, die Kurdenfrage aus dem Parlament zu drängen und ihr somit jeglichen zivilen Raum für eine Lösung zu entziehen. Die Zerstörungspolitik für die kurdischen Städte wie Cizîr (Cizre), Silopiya (Silopi), Şirnex (Şırnak) oder Sûr war ein Ausdruck dessen, dass nur noch die militärische »Lösung« auf der Agenda der Regierung steht.
Im Zuge der Errichtung der neuen türkischen »Demokratie des 15. Juli« wurden alle demokratisch gewählten Amtsinhaber und Amtsinhaberinnen der kurdischen Provinzstädte im Rahmen der Notverordnungen des Ausnahmezustandes mit Statthaltern aus Ankara ersetzt. In einem nächsten Schritt sind dann die von der HDP verwalteten Großstädte wie Wan (Van), Mêrdîn (Mardin) und Amed dran.
Damit rächt sich die Regierung nicht nur an den Städten, die als Hochburgen der HDP gelten und Präsident Erdoğan daran gehindert haben, nach den Wahlen 2015 über eine Dreiviertelmehrheit die Verfassung zu ändern und das Präsidialsystem de jure einzuführen, sondern sie schreitet immer weiter mit der Institutionalisierung des autoritären »Einheitsregimes« voran.
Auf dem Weg werden nun alle potentiellen Sprachrohre, also alle demokratischen und unabhängigen Medien, zensiert und geschlossen. Angefangen bei der Tageszeitung Özgür Gündem bis hin zum kurdischen Kinderkanal Zarok TV.
Rosa Burç hat ihren M. Sc. in International Politics an der SOAS, University of London. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Sie promoviert am Lehrstuhl für Regierungslehre im Bereich der Transformations-, Nationalismus- und Föderalismusforschung.