Interview mit Newal Botan zum Widerstand in Cizîrê Botan

Wir konnten nicht passiv bleiben ...!

Çîya Kezwan, Rojava, 19. November 2016

Vor einem Jahr verteidigte die Bevölkerung in vielen Städten von Bakûr/Nordkurdistan ihr Recht auf Selbstverwaltung. Da offensichtlich geworden war, dass sich der AKP-Erdoğan-Faschismus nicht durch Wahlen beseitigen lassen würde und Recht zu Unrecht geworden war, wurde Widerstand zur Pflicht. Viele Gemeinden Kurdistans beteiligten sich an diesem Widerstand, der vom Konzept des Demokratischen Konföderalismus und der erfolgreichen Verteidigung von Kobanê inspiriert war. Auch wenn das faschistische AKP-Regime ganze Städte mit Panzern und Hubschraubern zerbombte, Hunderte von Menschen bei lebendigem Leibe verbrannte oder durch Scharfschützen ermordete und nun Zehntausende in Gefängnisse sperrt und foltert, so wird es ihm weder gelingen die Wahrheit zu vertuschen noch Menschen von ihrem Kampf für Freiheit und Würde abzuhalten. Das spüre ich ganz deutlich bei meiner Begegnung mit Newal Botan auf den Kezwan-Bergen in Rojava.

Newal Botan wurde im Jahr 2000 in Silopî geboren. Ursprünglich kommt ihre Familie aus dem Dorf Neraxî im Kreis Qileban, das im Türkischen Uludere heißt. Ihr Dorf wurde Anfang der 1990er Jahre durch das türkische Militär entvölkert und zerstört. Über ihre Familie sagt Newal: »Unsere Familie hatte eine an freiheitlichen Werten orientierte Lebenskultur. Deshalb wurden Frauen nicht mehr so wie früher unterdrückt. Meine Mutter erzählte, dass mein Vater früher anders gewesen sei. Als sie jedoch mehr und mehr die PKK kennenlernten, wirkte sich das positiv auf die Beziehungen in unserer Familie aus. Das zeigte sich insbesondere im Umgang mit Frauen und Kindern.«Wir konnten nicht passiv bleiben ...!

Bereits von Kindheit an sind Newal und ihre Familie immer wieder mit staatlichen Repressionen konfrontiert. Nach einer Aktion zum Protest gegen die Ermordung von Haci Lokman Birlik1 wird sie in Şirnax verhaftet. »In der Polizeihaft habe ich am eigenen Leib erfahren, was für eine Politik der Staat Frauen gegenüber anwendet: Folter, Erniedrigung, sexuelle Belästigung bis hin zu Vergewaltigung. Aufgrund mangelnder Beweise mussten sie mich jedoch wieder freilassen«, erzählt Newal. Sie hatte schon während ihrer Schulzeit im jungen Alter von 13 Jahren begonnen, sich in der kurdischen Jugendbewegung zu organisieren; sie beteiligte sich am Aufbau und an der Verteidigung demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen – erst in Bakûr, nun in Rojava.

Wie hast Du das Jahr 2015 zwischen den Wahlen vom 7. Juni und den Widerständen für demokratische Selbstverwaltung erlebt?

Zur Zeit der Wahlen vom 7. Juni 2015 war ich in Silopî und habe dort die Freude und Begeisterung gemeinsam mit der Bevölkerung erlebt. Die langen Jahre der Mühen für die Organisierung der Bevölkerung in den Städten hatte Früchte getragen. Das zeigte sich im Wahlerfolg. Nach all den Jahren, die die KurdInnen unter Folter, Unterdrückung und Massakern der AKP gelitten hatten, zeigten sie nun, dass sie auf ihren eigenen Beinen stehen. Es war zu spüren, dass die Menschen auf sich selbst und ihre eigene Kraft vertrauen und zu neuen Schritten bereit sind.

Nach den Wahlen gab es einige Gefechte in Silopî. Jugendliche, Frauen, Kinder, alte Menschen wurden durch die Polizei gezielt ermordet. Beispielsweise wurde eine Mutter mit ihrem Kleinkind auf dem Arm auf dem Dach ihres Hauses in dem Taxa2 Şehîd Harun durch Scharfschützen der Polizei erschossen. Auch Familien, die der Bewegung zuvor nicht nahe standen, hatten ermordete Angehörige zu beklagen. Die Angriffe des Staates waren auf alle KurdInnen gerichtet – egal ob sie CHP, HDP oder AKP gewählt hatten. Diese Situation erzeugte politisches Bewusstsein in der gesamten Bevölkerung. Zuvor hatte die Familie des Ağa (Großgrundbesitzers) immer die AKP unterstützt und sich hinter der Polizei versteckt. Aber bei diesen Wahlen realisierte auch diese Familie, dass die AKP die KurdInnen unterdrückt. Es gab nach den Wahlen und den Morden eine große Wut in der Bevölkerung von Silopî. In dieser Zeit begannen wir auch mit der Vorbereitung für den Aufbau und die Verteidigung der lokalen Selbstverwaltung in Silopî. Wir haben eine kommunale Bäckerei aufgemacht, wir organisierten Unterricht und eröffneten Volkshäuser (Mala Gel) in den Vierteln.«

In Cizîr (Cizre) gab es Akademien für die politische Bildung der Bevölkerung. Auch aus Silopî und anderen Städten gingen Menschen nach Cizîr, um sich an den Akademien fortzubilden und eine aktive Rolle im Aufbau der verschiedenen Bereiche der Selbstverwaltungsstrukturen spielen zu können. Damit wurden Vorbereitungen getroffen, das Modell der Demokratischen Autonomie, dem freiheitlichen Paradigma von Abdullah Öcalan entsprechend auch in Bakûr umzusetzen. Unser Ziel ist, dass sich die Bevölkerung – jenseits von Staat und Macht – selbst verwalten kann. Die Erfahrungen des Aufbaus und der Verteidigung der Demokratischen Autonomie in Rojava stellten eine wichtige Inspirationsquelle für die Menschen in Bakûr dar. Mit der Idee des Aufbaus der Demokratischen Autonomie in allen Teilen Kurdistans und des Demokratischen Konföderalismus als Verbindung unter den verschiedenen Teilen waren die Grenzen für uns praktisch bedeutungslos geworden. Es ging um den Aufbau einer freien demokratischen Gesellschaft auf der Basis der Frauenbefreiung.

Wie sind der Aufbau und die Ausrufung der autonomen Selbstverwaltung in Botan verlaufen? Und wie war die Rolle der Frauen und Frauenräte in diesem Prozess?

Während des Widerstands von Kobanê hatte es in der Bevölkerung eine große Unterstützung und Aufstände gegeben. Die Bevölkerung in Botan hat die Bevölkerung von Kobanê in jeglicher Hinsicht unterstützt, sowohl bei der Verteidigung als auch beim Neuaufbau. Auf dieser Grundlage fand auch der Aufbauprozess der Demokratischen Autonomie in Botan statt.

In dieser Zeit spielte in Silopî Hevala Pakize3 eine wichtige Rolle. Sie hat sich insbesondere auch um den Frauenrat gekümmert. Zu diesem Zeitpunkt war die Selbstverwaltung noch nicht offiziell ausgerufen worden, aber es fanden Planungen dazu statt. Wir diskutierten viel mit der Bevölkerung darüber, wie wir uns selbst verwalten können. Haus für Haus, Straße für Straße wurden die Familien besucht und gemeinsam wurde diskutiert. Es wurden Demonstrationen organisiert. Die Bevölkerung entwickelte ein großes Bewusstsein und wurde immer aktiver. Sie arbeiteten in allen Bereichen mit – egal, ob legal oder illegal. Die Jugendbewegung fand immer mehr Zulauf. Wir organisierten Kundgebungen und Proteste. Im Mala Gel fanden viele Versammlungen und Gespräche statt, um die Demokratische Autonomie bekannt zu machen und Menschen zu ermutigen, sich selbst in den Aufbauprozess einzubringen.


Im Mala Gel und im Volksrat organisierte sich die Bevölkerung. Die Menschen kamen von selbst, denn diese Orte waren für sie ein Ausdruck der Menschlichkeit und der Solidarität. Mütter, Kinder, Jugendliche, alte Menschen, alle waren bereit. Es war ein sehr schönes Umfeld und eine gute Stimmung.

Nach der Verkündung der demokratischen Selbstverwaltung und den Angriffen des Staates darauf konnten wir nicht passiv bleiben. Das hieß für uns, mit dem militanten Widerstand beginnen; den Feind aus unserer Nachbarschaft und unseren Stadtvierteln zu vertreiben.

Welche Rolle haben die MitarbeiterInnen der Volksräte und Frauenräte in dieser Phase gespielt?

Die ersten Gefechte mit dem Staat hatte es in Silopî während der Wahlen gegeben.

Deshalb waren wir davon ausgegangen, dass die ersten und härtesten Kämpfe höchstwahrscheinlich in Silopî beginnen werden. Darum waren wir überrascht, als plötzlich die Kämpfe in Cizîr in einer solchen Härte losgingen. Ich war eine Woche nach den Wahlen von Silopî nach Cizîr gekommen. Die AKP hatte verlautbaren lassen, dass sie die Wahlen nicht anerkennt. Es folgten Hinrichtungen, Plünderungen und Repressionen. Sie planten ein derartiges Massaker, dass die Bevölkerung die Wahlen vergessen sollte. Damit bereiteten sie Einschüchterungen und Wahlbetrug für die erneuten Wahlen vor.

Im September 2015 wurde die Stadt 9 Tage lang durch das Militär belagert, die Strom- und Wasserversorgung der Stadt wurde abgestellt. Niemand konnte mehr in die Stadt rein oder raus. Es war lebensgefährlich sich auf der Straße zu bewegen. Aber unser entschlossener Widerstand der Selbstverteidigung bewirkte, dass sich das Militär nach 9 Tagen wieder zurückzog und die Ausgangssperre wieder aufgehoben werden musste.

Zum ersten Mal habe ich in Cizîr wirklich gespürt, dass das Volk zur PKK geworden war. Die Parole »Die PKK ist das Volk und das Volk ist die PKK!« war in den Persönlichkeiten von Heval Mehmet Tunç und Hevala Asya verwirklicht. Obwohl er kein Kader war, war die Haltung von Heval Mehmet wirklich die eines Militanten der PKK. Das heißt, so sehr ein Mensch sich seelisch mit den Werten der PKK identifiziert, so sehr kann er sie auch in seinem Leben repräsentieren und umsetzen. Die Worte von Heval Mehmet und Hevala Asya, ihre Aufrufe haben der Bevölkerung Kraft gegeben. Wenn Heval Mehmet durch die Straßen ging, haben sich alle gefreut. Er hat sich mit allen unterhalten, hatte für alle Verständnis. Wenn es ein Problem gab, hat er sich dafür eingesetzt, es zu lösen. Deshalb genoss er in der Bevölkerung großes Vertrauen. Er hat wirklich seine Rolle gespielt. Er ist aufgestanden und hat den Menschen Mut gegeben, selbst auch aufzustehen. Die Persönlichkeiten von Heval Mehmet, Hevala Asya und Hevala Seve waren für mich ein großes Beispiel. Ihre Eigenschaften und ihre Haltung haben mich sehr beeindruckt. Heval Mehmet hat uns als Jugendlichen jedes Mal, wenn er kam, Perspektiven gegeben und uns in unserer Arbeit unterstützt. Er hat das als Vorschlag formuliert: »Guckt, wenn ihr das nicht so macht, sondern so, dann wäre das viel besser ...« Das, was er gesagt hat, hatte wirklich Hand und Fuß. Es war sehr wertvoll für uns.

Er hatte großes Einfühlungsvermögen für die Bevölkerung, er verstand die Psychologie der Menschen. Er wusste, was die Menschen wollen und wann sie bereit sind, wann der Zeitpunkt gekommen war zu handeln. Ich habe zum ersten Mal so einen Menschen kennengelernt, der die Phase so tief und genau verstanden hat und genau wusste, was zu tun war. Er ist auf Menschen zugegangen, die uns nicht die Tür geöffnet haben. Er ist mit sehr großem Mut auf die Straße gegangen und hatte niemals Angst davor, ermordet zu werden. Er hat alles getan, um die Bevölkerung in Bewegung zu versetzen und zum Widerstandleisten Mut gemacht. Obwohl ihm viele sagten, »es ist gefährlich, geh nicht auf die Straße!«, war er trotz Ausgangssperre ständig in Bewegung.

War die Bevölkerung darauf vorbereitet gewesen?

Ja. Aber nicht in allen Straßenzügen. In den Vierteln, die unorganisiert waren, hatte ein Großteil der Menschen schon Angst. Denn sie waren das erste Mal mit solchen massiven Angriffen des Militärs konfrontiert und konnten die politischen Entwicklungen nicht wirklich verstehen. Insgesamt war die Psychologie der Menschen in Cizîr noch nicht für den Krieg bereit.

Aber in dieser Phase ist Heval Mehmet ständig in Bewegung gewesen: von dem Taxa Cemkökü lief er zum Taxa Cudî, von dort zum Taxa Sûr. Uns als Jugendlichen ist es nicht gelungen, von einer Taxa in eine andere zu gelangen, denn der Feind hatte uns mit einem derart massiven Aufgebot eingekreist, dass es kein Durchkommen gab. Aber Heval Mehmet gelang es immer, einen Weg zu finden. Selbst in dieser Phase ging er in die Volkshäuser und besuchte Familien, um sie zur Teilnahme am Aufstand zu organisieren und zu ermutigen. Das war im November 2015.

Wir hatten kein Essen und kein Wasser. Die Menschen litten Hunger. Das war sehr schmerzhaft, weil wir mit ansehen mussten, wie Kleinkinder verhungert oder verdurstet sind. Damit Kinder nicht verdursten, mussten die Menschen ihnen verschmutztes Wasser geben. Aber trotz dieser großen Schmerzen, gab es dort einen sehr würdevollen, starken Widerstand.

Die Scharfschützen der Polizei nahmen insbesondere kleine Kinder ins Visier, weil sie wussten, dass sie damit der Bevölkerung die größten Schmerzen zufügen. Sie ermordeten ganz gezielt Kinder, um die Bevölkerung einzuschüchtern und den Müttern ihre Kraft zu rauben, sie zur Aufgabe zu zwingen. Aber die Mütter, deren Kinder ermordet wurden, wurden noch viel wütender und entschlossener, sich am Feind zu rächen. Der Widerstandsgeist der Bevölkerung, der Mütter, der Menschen jeglichen Alters bewirkte, dass wir den Feind zurückschlagen konnten.

Wie gelang es Euch, die Angriffe des Feindes zu brechen?

Wir hatten unsere Stellungen zur Verteidigung der Straßenzüge eingerichtet. Da wir keine Munition hatten, mussten wir phantasievoll sein. Zum Beispiel haben wir Bettdecken auf Panzer geworfen und sie damit aufgehalten. Wir haben unsere Gehirne in Bewegung gesetzt, um neue Taktiken zu entwickeln, und sie dann einfach ausprobiert. Alles was sich irgendwie zur Verteidigung benutzen ließ, haben wir verarbeitet und eingesetzt. Obwohl wir nichts in der Hand hatten, gab uns allein das Vertrauen der Bevölkerung Kraft zum Widerstand.

Als wir sahen, wie einige Mütter die Kalaschnikow in die Hand nahmen, sagten wir uns, dann können wir auch kämpfen. Die Organisierung der Bevölkerung öffnete uns neue Türen. Obwohl es kein Wasser und nichts zu essen gab, teilen die Menschen das wenige Essen ihrer Kinder mit uns. Sie sagten: »Ihr kämpft und braucht Kraft. Damit ihr nicht umkippt und Energie habt, müsst ihr essen.« Die Bevölkerung versorgte auch unsere verletzten FreundInnen. Auch ließ die Bevölkerung nicht zu, dass die Leichen der Gefallenen in die Hände des Feindes gerieten. Sie versteckten und bestatteten sie. Die Bevölkerung verteidigte sich und den Widerstand mit ganzem Engagement. Sowohl unsere FreundInnen als auch die Bevölkerung hatten volles Vertrauen zueinander. Deshalb hatte auch niemand mehr Angst. So viele Menschen – Frauen, alte Menschen, Kinder – waren ermordet worden. Wir waren auch sehr erschöpft, denn wir waren Tag und Nacht in Bewegung, um unsere belagerten Straßenzüge gegen die permanenten Angriffe von Polizei und Militär zu verteidigen. Wir waren von den Menschen und unseren FreundInnen in den anderen Stadtvierteln abgeschnitten. Deshalb waren wir ständig in Sorge um sie. Aber wir mussten alle Schwierigkeiten überwinden. Die Bevölkerung forderte Rache für ihre ermordeten Kinder, sie ging auf die Straße und war ihrer Sache verbunden.


Kannst Du den Aufbauprozess der Selbstverwaltungsstrukturen etwas genauer beschreiben? Wie sind der Staat und staatliche Institutionen verdrängt worden? Welche Alternativen habt Ihr trotz der Kriegsbedingungen aufbauen können?

Es gab einige Kampagnen zur Unterstützung von Cizîr, so wurde zum Beispiel ein Gesundheitskomitee aufgebaut. Für die Bevölkerung wurden Erste-Hilfe-Kurse organisiert, damit sie wissen, was bei Verletzungen zu tun ist. In der Taxa Cudî gab es ein Haus für die Trauerfeiern. Dort haben wir mit Kurdisch-Unterricht für die Kinder begonnen. Das Frauenkulturzentrum Ronahî wurde eröffnet. Das Mala Gel war das Zentrum des Volksrates, von dort aus wurden die Aufbauarbeiten organisiert, Volksversammlungen durchgeführt, auf denen die Phase diskutiert wurde. Dann gingen die Demonstrationen los. Die Verteidigung und die politische Arbeit griffen ineinander. Es gab eine große Beteiligung, viele schlossen sich der Bewegung an. Wir führten Bildungsarbeit insbesondere für die Jugendlichen und für Frauen durch. Viele junge Frauen wollten sich anschließen. Aber zumeist stellten sich die Mütter dagegen, weil die Väter dann zuhause Ärger machten und das wiederum die Mütter zu spüren bekamen.

Wie verliefen die Wahlen am 1. November? Waren sie unter den Bedingungen der Belagerung und des Krieges überhaupt noch ein Thema in Cizîr?

Am 1. November hatten erneut Wahlen stattgefunden. In der Wahlnacht waren alle Menschen auf der Straße und warteten auf die Ergebnisse. Es gab eine freudige Aufregung. Als klar wurde, dass die AKP die Wahlergebnisse manipuliert hatte, setzte sich die Bevölkerung zornig in Bewegung. Die ganze Nacht hindurch gab es Sitzblockaden, Kundgebungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Damals stand eine alte Frau auf und sprach: »Wir wissen, dass wir nicht verloren haben, wir haben gewonnen! Daran kann auch Euer Betrug nichts ändern.« Danach griff der Feind die Menge an.

Ich ging diese Nacht zum Taxa Yavuz. Morgens gegen 3.30 Uhr gingen auf einmal die Gefechte los. Als Erstes schoss der Feind eine Bombe in unser Viertel. Die Gefechte zur Verteidigung unseres Viertels dauerten bis gegen 16 Uhr an. Es waren sehr schwere Gefechte. Viele unserer FreundInnen wurden verletzt. Zumeist waren es leichte Verletzungen wie kleine Bomben- oder Granatsplitter. Die Bevölkerung war auf den Straßen und versuchte zu helfen. Sie trugen Verletzte an sichere Orte, brachten Nachschub zu den Stellungen. Wir waren ganz erstaunt, denn auf einmal brachten uns die Menschen sogar Waffen!

Das hieß, die Bevölkerung hatte sich selbst bewaffnet, um sich verteidigen zu können. In ihren Häusern hatten sie Tunnel angelegt. Sie zeigten uns Wege, die wir nicht kannten, um von einer Straße in die nächste zu gelangen. Die Bevölkerung setzte für den Erfolg des Widerstandes alle Mittel ein. Wir waren derart vom Feind eingekreist, dass seine Scharfschützen zwei unserer Viertel gezielt unter Beschuss nehmen konnten. Der Feind hatte seine Panzer auf den strategischen Hügeln um Cizîr herum stationiert. Sie beschossen die Viertel, zerstörten eine Schule. In den Internaten der Stadt hatten sie die Sonderkommandos der Polizei untergebracht.

Die ersten Gefechte ereigneten sich im Taxa Yavuz. Wir wussten nicht, was sich in den Straßenzügen Taxa Cudî, Taxa Sûr und Taxa Cemkökü abspielte. Dort war auch mit Aktionen begonnen worden, um Taxa Yavuz zu entlasten. Die Gefechte dauerten von den frühen Morgenstunden bis nachmittags gegen 15 Uhr an. Die Bevölkerung war voll mit dabei. Einige hatten gefüllte Weinblätter gemacht und brachten sie den WiderstandskämpferInnen. Mitten in der Nacht weckten sie uns auf und sagten, wir sollten essen. So verbrachten wir die Tage und Nächte gemeinsam. Die Menschen haben uns großes Vertrauen entgegengebracht.

Am schönsten war es nachts mit den Müttern zusammen Wache zu halten. Sie hatten immer gute Moral, riefen Parolen und trillerten Tilîlîlî. Insgesamt hatten sich die Familien in den belagerten Straßenzügen sehr weiterentwickelt, sie waren sich vieler Dinge bewusst geworden und organisierten ihren Alltag der Belagerungssituation und dem Widerstand entsprechend. Sie hielten gemeinsam mit uns Wache. Die Mütter achteten darauf, dass sich niemand Unbekanntes einschlich.

Nachts hielten sie die Menschen auf und fragten: »Tu kî yî?/Wer bist Du?« Wenn jemand keine Antwort gab, sagten sie: »Wenn Du Deinen Namen nicht sagst, dann bewerfe ich Dich mit meinen Pantoffeln!« Sie nahmen ihre Verantwortung sehr ernst, aber auch mit Humor.

Wir haben Vorkehrungen für die Verteidigung unserer Viertel getroffen, Gräben aushoben und Barrikaden gebaut. Wir haben in den Straßen Verteidigungssysteme errichtet.

Wir organisierten uns als Frauenkommission in der YDG-H (Patriotisch Revolutionäre Jugendbewegung). Die jungen Frauen aus dem Taxa Yavuz kamen zu mir und sagten: »Lass uns hier in der Straße eine Frauenkommune aufbauen. Wir können unabhängig von den Männern aus eigener Kraft kämpfen. Wir sind zur Verteidigung unseres Viertels bereit, ihr müsst uns nur ausbilden.«

Und uns gelang es dann wirklich, die Angriffe auf unsere Straßenzüge zurückzuschlagen. Wir beschlagnahmten einen Panzer der Soldaten. Damals regnete es sehr stark. Unter diesen Wetterbedingungen haben die Menschen trotzdem Wache gehalten und ihre Rolle gespielt. Sie haben einander gegenseitig unterstützt und das Wasser aus den Häusern geschaufelt. Niemand hatte schlechte Laune, denn sie waren bereit, alles für die Freiheit zu geben.

Abends führten wir in den Straßenzügen Diskussionsveranstaltungen, Seminare oder Filmvorführungen durch. Es kamen alle zusammen. Wir haben auch getanzt und gesungen. Aus dem Vertrauen war Freude und Moral geworden. Es war wirklich ein sehr kommunales Leben und die Bevölkerung war bereit zum Widerstand. Alle Menschen waren sehr aufopferungsbereit. Die Nächte über waren wir in den Stellungen. Tagsüber haben wir dann die politischen Arbeiten gemacht.

Im November waren wir dann eines Tages vollständig vom Militär und Sonderkommandos eingekreist. Wir hatten auf dem Hügel hinter dem Taxa Sûr eine sehr große Fahne der PKK gehisst gehabt, die war in ganz Cizîr zu sehen. Der Staat war gekommen, hatte die Fahne abgenommen und seine Fahne aufgehängt. Es war ein regelrechter Fahnenkrieg entfacht.

Zugleich begannen die Gefechte immer stärker zu werden. Zu Anfang gab es ab und zu noch Gefechtspausen, aber dann dauerten die Gefechte ununterbrochen an und wurden immer schwerer. Es gab Verletzte. Aber auch die verletzten FreundInnen kämpften weiter. Dem Feind gelang es nicht, in unser Viertel hineinzukommen. Denn wir hatten unsere Gräben und Barrikaden sehr gut gemacht und die FreundInnen, die Wache hielten, waren sehr wachsam. Nachdem es dem Feind nicht gelungen war, in unsere Viertel einzudringen, haben sie ihre Panzer auf den Hügeln rund um Cizîr positioniert. Als unsere Stadtviertel plötzlich ohne jegliche Vorwarnung gezielt mit Panzerschüssen angegriffen wurden, löste das einen Schock aus. Unsere Viertel wurden unter Dauerbeschuss genommen und zerstört. Ehrlich gesagt, damit hatte niemand von uns gerechnet. Ganze Familien wurden ermordet, Kinder wurden hingerichtet. Die Schmerzensschreie der Mütter und Kinder waren überall in den Straßen zu hören. Der Krieg intensivierte sich immer mehr, es gab immer mehr Tote.

Kannst Du etwas über die FreundInnen sagen, die ihr Leben für die Verteidigung von Cizîr gegeben haben?

Viele sehr wertvolle FreundInnen sind in diesem Widerstand gefallen. Hevala Ekîn und Hevala Berjîn fielen verletzt in die Hände des Feindes. Dann haben die Soldaten sie vergewaltigt und – genauso wie Ekîn Wan – ihre entkleideten Körper zur Schau gestellt. Hevala Ekîn (in Cizîr) war eine Freundin, die den Namen von Ekîn Wan angenommen hatte, da sie von ihrer Kraft sehr beeindruckt war. Und letztendlich wurde sie genauso ermordet wie Ekîn Wan. Wir fanden die nackten Leichen unserer beiden Freundinnen Ekîn und Berjin auf der Straße. Das war ein sehr großer Schmerz. Heval Berjîn war gerade mal 18 Jahre alt, Hevala Ekîn war 20 Jahre alt. Wir wollten die Leichen begraben, doch alle Menschen wie Hevalê Tîrêj und Hevalê Cavreş, die sich den Leichen genähert hatten, waren durch Scharfschützen erschossen worden. Als sie losgegangen waren, um die Leichen zu holen, waren sie aus dem Hinterhalt erschossen worden und über die Leichen der beiden Freundinnen gefallen. Es konnte sich ihnen niemand nähern.Die Beerdigung von Mehmet Tunç

Die Anzahl der FreundInnen, die in den Stellungen kämpften, wurde immer geringer. Viele waren gefallen oder verletzt worden. Wir hatten die Verletzten in Keller gebracht, um sie zu schützen und zu behandeln. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass der Feind insbesondere die Verletzten so brutal vernichten würde. Letztendlich fiel der Feind nach langen Tagen des Widerstands Ende Dezember 2015 in unsere Viertel ein und plünderte die Häuser, verbrannte sie. Wir waren in einem Haus am Rande. In unserem Nachbarhaus waren etwa 10 FreundInnen im Keller untergebracht. Als die Einheiten in ihr Haus eindrangen, schickten sie einige Soldaten weg und sagten: »Hier ist niemand!« Darauf erschossen sie Vater, Mutter und die Kinder. Dann übergossen sie unsere FreundInnen mit Benzin und verbrannten sie bei lebendigem Leibe. Das Geschrei anzuhören war unerträglich. Das wirkte sich auf die Psychologie sowohl unserer FreundInnen als auch der Bevölkerung aus. Die Schmerzensschreie der Kinder und der Mütter waren wirklich nicht zu ertragen. Unsere FreundInnen wurden vor unseren Augen verbrannt und wir konnten zu diesem Zeitpunkt nichts machen. Das war wirklich sehr schwer.

Dann haben wir die anderen Verletzten zu dem Keller gebracht, in dem Heval Mehmet Tunç, Heval Fîraz, Hevala Asya, Heval Zindan, Heval Aram, Heval Ruken, Heval Dîyar und Heval Rizgar waren. Heval Rizgar war erst 15 Jahre alt. Die meisten waren sehr jung, noch unter 20 Jahre alt, und sind später gefallen. Das Einzige, was wir in dieser Situation noch machen konnten, war uns zu verteidigen und die Verletzten dort hinzubringen. Letztendlich beauftragte uns Heval Fîraz damit, die Verletzten über die Grenze nach Rojava zu bringen. Wir waren sehr emotional und wollten nicht gehen. Damals ging ich zu Heval Mehmet Tunç und sagte ihm: »Komm mit uns nach Rojava. Du bist wichtig für uns und für die Bevölkerung.« Aber Hevale Mehmet antwortete mir nur: »Ich komme nicht!« Da sind mir die Tränen gekommen. Und ich habe gesagt: »Wenn Du nicht mitkommst, dann gehe ich auch nicht.« Da ist Heval Mehmet sauer auf mich geworden: »Los, geh und bring die FreundInnen in Sicherheit.« Er hat mich regelrecht angeschrien, damit ich gehe. Aber ich wollte nicht gehen und mich retten, während ich meine FreundInnen dort zurücklassen musste.

Letztlich überzeugte mich Heval Fîraz. Er sagte mir: »Geh und erzähl den Menschen, was Du hier erlebt hast. Das müssen die Menschen wissen. Bring nur die Verletzten über die Grenze und komm dann wieder.« Damals wusste ich nicht, dass ich nicht wieder zurückkehren werde. Sie wollten mich schützen, weil ich noch so jung war.

Wir sind losgezogen und haben aus den Kellern insgesamt 15 FreundInnen, die am schwersten verletzt waren, rausholen können. Anfang Januar 2016 gelang es uns, an einem nebeligen Tag durch einen Tunnel zu entkommen. Danach sind wir dann zur Grenze gegangen.

Später hatte ich von Rojava aus noch einmal die Möglichkeit, mit Heval Mehmet am Telefon zu sprechen. Er sagte: »Ich weiß, dass wir hier nicht heil rauskommen werden. Aber wie wir mit Würde gelebt haben, so werden wir auch in Würde sterben.«


 Fußnoten:
1 Am 3. Okt. 2015 wurde der kurdische Schauspieler Haci Lokman Birlik von Polizisten in der Innenstadt von Şirnax gefoltert, erschossen und nackt an ein Polizeiauto angebunden durch die Gegend geschleift.
2 Tax: kurdischer Begriff für Stadtviertel, Nachbarschaft oder Straßenzüge
3 Pakize Nayir, Kovorsitzende des Volksrates von Silopî. Sie wurde gemeinsam mit den Aktivistinnen der Frauenbewegung Fatma Uyar und Seve Demir am 5. Januar 2016 in Silopî durch türkische Spezialeinheiten ermordet.