Der Traum des R. Tayyip Erdoğan von einem türkisch-islamischen Reich

Alles ist möglich

Ferda Çetin, Journalist

Als sich Recep Tayyip Erdoğan 2014 für die Wahl zum Staatspräsidenten aufstellen ließ, bevorzugte er den Image- und Werbeberater Erol Olçak, mit dessen Hilfe er schon elf Wahlen gewonnen hatte. In seinem Werbefilm, den Erdoğan den Fernsehkanälen zur Ausstrahlung zugeschickt hatte, erklang zu Bildern aus dem Koran und der türkischen Flagge im Hintergrund seine Stimme, die über die Sehnsucht nach »einem großen Land« sprach, und es wurde ein 17. Stern zu den 16 vorhandenen Sternen auf der Präsidentenflagge hinzugefügt.

Die türkische historische These besagt, dass es bisher 16 türkische Reiche gegeben habe und die derzeitige türkische Republik die 16. Staatsform sei. R. T. Erdoğan sieht das aktuelle Regime als unzureichend an und bereitet mit seinem Regime­umbruch den 17. türkischen Staat vor. Dieser für die Präsidentschaftswahlen im Fernsehen ausgestrahlte Werbefilm Erdoğans wurde dann aber von der Wahlaufsichtsbehörde (YSK) nicht wegen der Botschaft eines Regimewechsels, jedoch wegen der Nutzung religiöser Botschaften und des Zeigens der türkischen Flagge verboten.

Tayyip Erdoğan hat unverzüglich nach seinem Antritt als Staatspräsident am 28. August 2014 damit begonnen, das derzeitige Regime umzuwandeln, und seinen Wunsch nach Gründung eines 17. türkischen Staates noch lauter werden lassen, indem er die ersten Schritte dahin unternahm. Die Vorbereitungen für ein neues Regime hatte er dabei direkt nach Antritt seiner zweiten Amtszeit als Ministerpräsident im Jahr 2007 eingeleitet, indem er als Amtssitz des Staatspräsidenten, der bis dahin immer im Çankaya-Palast residiert hatte, in Beştepe einen 1 150-Zimmer-Palast errichten ließ.Erdoğan no paserán: Demonstration anlässlich des OSZE-Treffens in Hamburg | Foto: A. Bender

Die Architektenkammer Ankaras erklärte, dass die Ausgaben für den Bau dieses riesigen Palastes 1,37 Milliarden Türkische Lira betragen hätten. Noch während die Diskussionen über diese Ausgaben in vollem Gange waren, betonte Erdoğan, dass in diesem Palast nicht nur seine Arbeit stattfände, sondern neben den Vertretungen 23 arabischer Staaten auch die Turkstaaten im Kaukasus und andere Länder dort vertreten werden sollten. Seine Jahre später gemachte Aussage, dass »wir nicht auf Lausanne festgelegt werden können«, drückt aus, dass er anstelle der bisherigen Republik ein neues Sultanat gründen will.

Die auf den pompösen Stufen des Palastes rechts und links neben Erdoğan stehenden traditionell gekleideten Garden mit Schwertern und Säbeln stehen als jeweilige Vertreter der damaligen türkischen Staaten und sollen nicht nur den Größenwahn befriedigen, sondern auch Schritt für Schritt die offensichtlichen Zeichen des sich im Aufbau befindlichen neuen Regimes zeigen. Das 2014 von der AKP vorbereitete und der Öffentlichkeit als »neuer Ansatz« und »Wachstum« verkündete »Ziel 2023« ist im Grunde nichts anderes als die von R. T. Erdoğan erwünschte Errichtung eines neuen Regimes.

Tayyip Erdoğans Schicksal, beginnend mit einer ganz gewöhnlichen Umsiedlung als mittelloser Bewohner eines kleinen Dorfes in Rize nach Istanbul, nahm seinen Wendepunkt 1974, als er als Arbeiter im Istanbuler Rathaus begann.

Erdoğan besuchte die Oberstufe am Istanbuler Imam-Hatip-Lyzeum, die er 1973 mit dem Zertifikat abschloss, als Imam in den Moscheen tätig sein zu dürfen.

Das Interesse Tayyip Erdoğans an der Politik stieg ab 1975 an. Beeinflusst von seiner Umwelt und seiner Schule trat er in Verbindung mit islamischen Vereinen und Institutionen. Er wurde Mitglied der »Nationalen Türkischen Schülervereinigung« und las deren Publikationen. Außerdem sympathisierte er mit der »Millî-Görüş-Bewegung«, die vom späteren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan geführt wurde.

Ab 1973 besuchte Erdoğan eine Handelsfachschule in Istanbul/Aksaray. Diese beendete er drei Jahre später mit seinem Abschluss. Machen wir hier einen Punkt und wenden uns dem »sensiblen« Thema zu, das intensiv diskutiert wird und das Erdoğan und seine Berater zu verdunkeln versuchen.

Der ehemalige Vorsitzende des Instituts für türkischen Geschichte und ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Partei für Nationalistische Bewegung (MHP), Yusuf Halaçoğlu, erklärte im Juni 2015 vor der Presse: »Ich habe gesagt, dass das Diplom des Präsidenten [T. Erdoğan] gefälscht ist, aber er zeigt mich nicht an. Normalerweise hätte er das schon längst getan.« Damit brachte er den Schulabschluss und das erhaltene Diplom Erdoğans auf die Tagesordnung.

Seitdem wurden in unterschiedlichen Zeitungen und auf Internetseiten tausende Nachrichten und Kommentare darüber geschrieben, dass Tayyip Erdoğan keinen Universitätsabschluss nach vier Jahren, sondern einen Fachhochschulabschluss nach drei Jahren erhalten habe. Während Tayyip Erdoğan sich zu diesen Behauptungen in Schweigen hüllt, ignorieren seine Berater und Helfer all diese Angaben. Zeitgleich mit diesen Diskussionen ist der Internetzugang zu den Seiten der Alumni der Marmaris-Universität gesperrt worden.

Obwohl die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Demokratische Partei der Völker (HDP) offiziell im Parlament zur Sprache brachten, dass Erdoğan kein Diplom besitze, hat er dieses nicht vorzeigen können. Außerdem hat die Marmaris-Universität keine handfesten und glaubwürdigen Informationen herausgeben können. Fragen von Journalisten zu diesem Thema wurden mit Begründungen wie »Privatgeheimnis« abgewiesen.

Ein beiläufiger Einschub – nach Artikel 101 der türkischen Verfassung, in der die Wählbarkeitsvoraussetzungen aufgelistet sind, wird unter anderem der Abschluss einer Universität oder Fachhochschule nach einem mindestens vierjährigen Studiengang genannt. Erdoğan aber ist Absolvent einer dreijährigen Fachhochschulausbildung und kann keinerlei Belege über einen vierjährigen Studienabschluss vorweisen. Somit ist seine Präsidentschaft nicht legal.

Tayyip Erdoğan war 1975 der Jugendvorstandsvorsitzende der Millî Selamet Partisi (MSP – Nationale Wohlfahrtspartei) im Bezirk Istanbul-Beyoğlu und 1976 der Jugendvorstandsvorsitzende der MSP für Istanbul. 1984 war er Vorsitzender des Bezirks Istanbul-Beyoğlu. Im selben Jahr wurde er zum Istanbuler Vorsitzenden der Partei gewählt. Später ließ er sich von der Refah-Partei (RP – Wohlfahrtspartei) zum Bürgermeisterkandidaten für Istanbul für die Kommunalwahl am 27.03.1994 aufstellen. Mit 25,19 % wurde er zum Bürgermeister gewählt.

Erdoğan war eines der Gründungsmitglieder der 2001 gegründeten Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP – Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung). 2002 trat die Partei erstmals bei den Wahlen an und erhielt 34,43 % der Stimmen, womit sie unter der Führung des damaligen Ministerpräsidenten Abdullah Gül die 59. Regierung stellte. Da für Erdoğan noch ein politisches Betätigungsverbot galt, trat er nicht bei der Wahl an. Bei der Zwischenwahl am 9. März 2003 zog er als Abgeordneter für die Provinz Sêrt (Siirt) in das Parlament ein. Nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Gül wurde ihm am 14. März 2003 die Ministerpräsidentschaft übertragen. Die AKP, deren Vorsitzender Erdoğan war, erhielt bei den Wahlen 2007 46,58 % und 2011 49,83 %, womit er die 60. und die 61. Regierung anführte. 2014 wurde er mit 51,79 % zum Staatspräsidenten gewählt und trat diese Position nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident und Parteivorsitzender am 28. August 2014 an.

R. T. Erdoğan, der rasant und Stufe für Stufe vom mittelmäßigen Staatsbediensteten zum Staatspräsidenten aufstieg, und seine Familie haben längst ihre Wurzeln vergessen. Mit seinen Beziehungen, der Lebensweise, den Skandalen und angesammelten Reichtümern befindet er sich auf der Liste der reichsten Staats- und Regierungschefs an achter Stelle.
Tayyip Erdoğan betrachtet, seine politischen Ambitionen und günstige Voraussetzungen antreibend, die nationalen Grenzen als nicht mehr ausreichend. Er versucht die Sympathien der moslemisch-arabischen Welt zu sammeln, indem er Israel gegenüber verbalradikal und hart auftritt. Die Unterstützung der türkischen Nationalisten versucht er mit den Idealen »ein Vaterland, eine Fahne, eine Nation, eine Religion« zu gewinnen. Mit der Politik der letzten zwei Jahre treibt er den türkisch-islamischen Faschismus voran.

Angespornt von Beratern und Medien spricht er von sich als »Weltführer« und davon, die Türkei zum größten Staat der Region und der Welt zu erheben. Mit der Unterstützung von Schergen wie IS, Al-Nusra, Sultan-Murat-Brigaden, der FSA in Syrien und Irak, der Flugzeugkrise mit Russland, den ernsthaften Problemen mit den USA und der EU wird deutlich, dass dem Land eine Realpolitik fehlt und es dem Größenwahn eines Diktators ausgeliefert zu sein scheint.

Sein realitätsferner »Mut« und sein blindes »Drauflosgehen« werden von seinen Gesprächspartnern mit den Worten »er redet erst und denkt danach« beschrieben.

Erdoğan erklärt immer wieder, dass er größere Ziele habe, dass er das derzeitige Weltsystem nicht anerkenne. Er legt Beschwerden gegen die UN und den UN-Sicherheitsrat ein, dass die »Welt größer als fünf ist«, womit er eine Anwesenheit der Türkei im Sicherheitsrat intendiert. Seine Worte »wir brauchen die EU nicht, wenn nötig, treten wir der Shanghai 5 bei«, als die ein halbes Jahrhundert dauernden Beziehungen der Türkei zur EU nahezu beendet worden sind, machen seine Unwissenheit über die fehlende Ebenbürtigkeit von Schanghai 5 (SOC – Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit) und EU deutlich.

Erdoğan stärkt seine Macht auf der Grundlage eines Krieges gegen die Kurden und einer Politik der Verhinderung jeglicher positiver Entwicklung zugunsten der Kurden in Irak und Syrien. Seine offene Unterstützung der Schergen des IS und der Al-Nusra in Syrien sind Beweise seiner Feindschaft gegenüber den Kurden. Der Grund für die Entwicklung guter Beziehungen zu Russland im Gegensatz zu den USA liegt darin, einen Block gegen die Kurden zu bilden.

Mit einem Wort, Tayyip Erdoğan ist mit seinem Milliarden-Dollar-Palast, seinen 5 000 Sicherheitsmännern, seiner Listung auf der Liste der reichsten Staatsvorsitzenden, seinen brutalen Repressionen gegenüber den Medien, den Verhaftungen von Oppositionellen eine schlechte Karikatur Hitlers bzw. Mussolinis.

Erdoğan will sich mit einem diktatorischen Regime unter dem Deckmantel einer »Präsidialmacht« lebenslange Garantien schaffen und alle Vorbereitungen für einen 2023 auszurufenden neuen, großen »türkisch-islamischen Staat« treffen, M. Kemal Atatürk überwinden und einen neuen osmanischen Staat proklamieren.

Der von Erdoğan verhängte Ausnahmezustand und die Dekrete, die ein Teil der willkürlichen Führung eines Landes durch einen Führer oder Sultan ohne Parlament und Regierung sind, bedeuten die Begründung des Faschismus in der Türkei.

In der derzeitigen Türkei wurde die Verfügungsgewalt über die hohen und regionalen Gerichte, die Sicherheitsbehörden, den Geheimdienst, das Parlament und die Regierung Schritt für Schritt auf R. T. Erdoğan übertragen und sie haben sich zu Institutionen gewandelt, die sich nur nach seinen Entscheidungen bewegen.

Die Ansichten Erdoğans erfüllen alle Eigenschaften einer faschistischen Diktatur und seine Aussagen und Aktivitäten sollen kein System umwandeln, sondern anstelle des hundertjährigen Regimes der türkischen Republik einen »neuen osmanischen Staat« gründen. Alle Vorbereitungen von Erdoğan zielen auf ein neues großtürkisch-islamisches Imperium unter seiner Führung.

Ist das möglich? Angesichts der Kräfteverhältnisse zwischen der Türkei, dem Mittleren Osten, Europa und der Welt und realpolitisch – nein. Aber aus der Sicht eines Diktators, der eine Machtvergiftung erlitten hat und zweifelsfrei größenwahnsinnig und psychopathisch ist, scheint alles möglich und jeden Preis wert zu sein.