Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

die Türkei bekommt eine neue Verfassung, die Präsidialdiktatur der AKP wurde am 16. April unter ungleichen Abstimmungsbedingungen und einer ganzen Reihe von Fällen des Abstimmungsbetrugs abgesegnet. Und doch wackelt der Thron des selbsternannten Sultans Erdoğan stärker denn je. Denn aus der Propagandaphase für das Referendum, aus der »Nein-Kampagne« ist eine neue Widerstandswelle erwachsen. In den Tagen nach dem 16. April sind die Menschen überall in der Türkei zu Zehntausenden auf die Straße gegangen. Sie lassen sich von der Atmosphäre der Angst, die das Regime mittels abermals verlängerten Ausnahmezustands geschaffen hat, nicht mehr einschüchtern. Nein, man kann definitiv nicht davon sprechen, dass die AKP das Referendum gewonnen hat. Die Sieger sind die widerstandleistenden Menschen des Landes. Und wenn nun der »parlamentarische« Weg für die Opposition auch beseitigt worden ist, so wird der Widerstand gegen Erdoğan auf der Straße ausgetragen werden.

Und während in Istanbul und anderen Metropolen der Türkei die Menschen in Scharen auf den Straßen demonstrieren, hat die Bevölkerung in Nordkurdi­stan eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass ihr Widerstandswille ungebrochen ist. Die Menschen haben dem Krieg, der Zerstörung und den Massakern des Regimes getrotzt. Sie haben sich weder am 8. März, dem Weltfrauentag, noch zum Newrozfest am 21. März vom Terror der AKP in die Knie zwingen lassen. Und auch die Abstimmungsergebnisse am Referendumstag, die von massiven Fälschungen in den nordkurdischen Gebieten gekennzeichnet waren, haben unter Beweis gestellt, dass die AKP im Kampf gegen die kurdische Opposition trotz allem nicht erfolgreich sein kann.

Nun besteht die Herausforderung darin, die Widerstandstradition in Nordkurdistan mit den Protesten im Westen des Landes zusammenzuführen und eine breite und ausdauernde Widerstandsfront gegen den Faschismus zu bilden. Dass die kurdische Freiheitsbewegung zu einer solchen Leistung fähig ist, hat sie in der Vergangenheit bewiesen. Und ein Blick über die Grenze nach Rojava/Nordsyrien zeigt, welche Dynamik dieser gemeinsame Kampf über ethnische und religiöse Schranken hinweg entfalten kann. Dort schreitet nämlich nicht nur der Kampf gegen den IS mit großer Geschwindigkeit voran. Die Bevölkerung macht sich auch sofort daran, in den befreiten Gebieten das Neue, namentlich die Demokratische Autonomie, aufzubauen.

Die Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung bringen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt zusammen. Es handelt sich schon längst nicht mehr um einen kurdischen Freiheitskampf oder einen Kampf um die Befreiung des Mittleren Ostens. Die Impulse für diesen Kampf mögen zwar derzeit noch vor allem von dieser Region ausgehen. Doch es handelt sich um einen globalen Kampf für die demokratische Selbstbestimmung, für die Geschlechterbefreiung und für eine ökologische Gesellschaft. Wie groß das Potential dieses Kampfes ist, konnten wir am Osterwochenende auf der 3. Konferenz des »Network for an Alternative Quest« in Hamburg miterleben. Deswegen lasst uns mit den Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung gemeinsam die kapitalistische Moderne herausfordern und die demokratische Moderne entfalten.

Eure RedaktionGedenkfest für die gefallenen Internationalist*innen