Die Frage von Staat und Revolution in der Oktoberrevolution

Staat und Freiheit können nicht nebeneinander bestehen

Ferda Çetin

Der berühmte Ausspruch von Wassilij »Wir werden Brot und alles haben!« im bekannten Film »Oktober« brachte nicht nur die Gefühle der Armen in der Sowjetunion, sondern auf der ganzen Welt zum Ausdruck.

Als Ergebnis des Kampfes der Arbeiter, Bauern und Armen kam der Sozialismus zum ersten Mal in einem Land an die Macht und übernahm den Staat und dessen Institutionen. Die Führungskader der Revolution, die seit dem Jahr 1914 die Revolution vorbereiteten und daher oft Haft- oder Verbannungsstrafen erhielten, übernahmen nach 1917 die Verantwortung, »das Gedachte zu realisieren«.

Laut Öcalan ist der Kapitalismus »eine tödliche gesellschaftliche Krankheit bzw. ein im Wachstum begriffenes krebsartiges gesellschaftliches Produkt«. Folglich habe »die Ankündigung eines solchen gesellschaftlichen Parasiten als die ›neue fortgeschrittene, siegreiche Gesellschaft‹ alle Sozialwissenschaften beschädigt«

Nach der Oktoberrevolution 1917 führte die Sowjetunion einerseits einen harten Krieg nach außen und andererseits dauerte der konterrevolutionäre Krieg mit aller Gewalt an. Dazu herrschten im Land Mangel und Hungersnot.

1918 war die neugeborene Sowjetmacht mit einer ernsthaften Nahrungsmittelknappheit konfrontiert. Auf einer Sitzung des Lebensmittelausschusses der Volksdeputierten brach der Komiteeleiter Novas plötzlich zusammen. Ein an der Sitzung beteiligter Arzt griff sofort ein und erklärte, Novas habe auf Grund großen Hungers das Bewusstsein verloren.1

Im Januar 1982 fanden Zollbeamte am Flughafen von Moskau in der Tasche eines sowjetischen Bürgers bei seiner Ausreise ein geheimes Fach voller Diamanten, die eigentlich einer Löwen-Dompteurin vom Moskauer Staatszirkus gehörten. Kurz nach dem Vorfall wurden der Zirkusdirektor und sein Kumpan festgenommen. Im Haus des Kumpanen fand die Polizei Diamanten im Wert von einer Million US-Dollar und andere Luxusgegenstände, im Haus des Direktors hingegen ausländische, westliche Devisen, kostbaren Schmuck und wertvolle Gemälde. Eigentlich gehörte dieser ganze Reichtum Breschnews Tochter Galina und seinem Sohn Jurij. Die Verfolgung der Angelegenheit wurde dem sowjetischen Geheimdienst KGB übertragen. Der KGB-Vize Tsvigun war ein enger Bekannter Breschnews. Am Ende des Verfahrens wurden die Festgenommenen freigelassen, der Skandal, in den Sohn und Tochter Breschnews verwickelt waren, wurde vertuscht.2

Die Ohnmacht des Verantwortlichen für die Lebensmittelverteilung Novas und der Diamantenschmuggel von Galina und Jurij Breschnew sind die besten Beispiele für die Größe und die Kleinheit des sowjetischen Sozialismus.

Der »sozialistische Staat« wurde seit seiner Gründung Schritt für Schritt ausgebaut. Mit dem Erstarken des »vorübergehenden Staates« wurde die Gesellschaft schwächer. Von 1917 bis 1991 standen die Bedürfnisse und Dringlichkeiten der UdSSR immer vor denen der Gesellschaft. Diese von Lenin als Taktik definierte Situation wurde von Stalin in eine Strategie umgewandelt und bis zum Niedergang der Sowjetunion als Staatspolitik fortgeführt.

»Als taktische Notwendigkeit muss die Sowjetrepublik auf der einen Seite ihre ganzen Kräfte mobilisieren, um die Volkswirtschaft zu entwickeln, die Verteidigungsfähigkeit zu stärken und eine starke sozialistische Armee aufzubauen; auf der anderen Seite muss sie auf internationaler politischer Ebene eine Hinhalte- und Verzögerungstaktik anwenden, bis die proletarische Weltrevolution in einer Reihe fortgeschrittener Länder reift.«3 Die Idee von der Vergänglichkeit des Staates und seines langsamen Absterbens in der sozialistischen Regierungszeit ist von der Gründung bis zu den letzten Tagen des Niedergangs der UdSSR ein tragischer Aberglaube geblieben.

Hegel beschreibt den Staat als »die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist«. Nach Max Weber ist der Staat die Gemeinschaft, die »innerhalb bestimmter Grenzen [...] das Monopol legitimer Gewaltanwendung für sich (mit Erfolg) beansprucht«. Während Thomas Hobbes in Leviathan den Staat ein »künstliches, aber notwendiges Gebilde« nennt, ist er für Lenin im Kontext gesellschaftlicher Beziehungen »ein besonderer Apparat, der mit Gewalt den Willen anderer Menschen unterdrückt«.4 Die kurdische Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan, die den Staat als antigesellschaftliche Institution behandelt, erweitert den Rahmen und definiert ihn als »vorübergehenden Waffenstillstand zwischen der Gesellschaft und der Macht«.5 Michail Bakunin hat keinen Zweifel daran, dass der Staat etwas »Böses« ist, aus dem aber Lehren gezogen werden können.

Die Unantastbarkeit, Notwendigkeit und das Monopol zur legitimen Gewaltanwendung des Staates bedürfen eines Knüppels, der über der Gesellschaft kreist. Und genau an diesem Punkt tritt das Problem hervor. In wessen Hand wird der Knüppel auf wessen Rücken niedergehen?

Auch wenn die Definition des Staates in Klassengesellschaften kein sehr umstrittenes Thema ist, werden die Notwendigkeit und die Rolle des Staates in der sozialistischen Gesellschaft und auf der Ebene des Kommunismus sehr kontrovers diskutiert.

Der Staat, in Klassengesellschaften ein Gewaltapparat in den Händen und unter der Kontrolle der Herrschenden, ist mit seiner »Vergänglichkeit«, »Notwendigkeit« und seinen Funktionen in der sozialistischen Gesellschaft immer noch Diskussionsthema.

Wird der Staat mit dem Erreichen der sozialistischen Gesellschaft von selbst absterben und sich auflösen? Ist er eine für den Kampf und die Revolution temporär notwendige Institution? Kann er als ein Werkzeug für den Dienst an der Gesellschaft unter Kontrolle gehalten werden? Wird er in der sozialistischen Gesellschaft in die Definition und den Rahmen als notwendiges und temporäres Werkzeug zur Unterdrückung der Gegner des Proletariats passen? In diesem Zusammenhang ist die Staatsfrage von der Vergangenheit bis heute immer ein Gegenstand der Diskussion zwischen sozialistischen Theoretikern gewesen. Bis heute wurde keine Definition hervorgebracht, auf die sich alle einigen können.

Marx und Engels betrachten den Staat nicht als ewige und unerlässliche Existenz. Der marxistischen Theorie zufolge, welche die Gesellschaft historisch in die primitive, sklavenhalterische, feudale, kapitalistische, sozialistische, kommunistische Etappe aufteilt und diese als einen deterministischen und fortschreitenden Prozess behandelt, wird der Staat mit dem Entstehen der sozialistischen Gesellschaftsordnung Stück für Stück absterben und sich mit dem Übergang zur kommunistischen Gesellschaft auflösen.

Dem historischen Materialismus gemäß müssen diese notwendigen Haltestellen auf dem Weg in den Sozialismus überwunden werden und sind jeweils fortgeschrittenerer Natur als die vorherige Ausbeutungsweise. Die Sklavenhaltergesellschaft ist weiter als die primitiv-kommunalistische Periode, die kapitalistische Etappe fortgeschrittener als die Feudalzeit.

Abdullah Öcalan erhebt Einwände gegen diesen dogmatischen Fortschrittsglauben. Er betont, dass unabhängig von Raum und Zeit die Systeme ohne Staat oder die im Vergleich mit anderen schwächsten Systeme freiheitlicher seien. Laut Öcalan ist der Kapitalismus »eine tödliche gesellschaftliche Krankheit bzw. ein im Wachstum begriffenes krebsartiges gesellschaftliches Produkt«. Folglich habe »die Ankündigung eines solchen gesellschaftlichen Parasiten als die ›neue fortgeschrittene, siegreiche Gesellschaft‹ alle Sozialwissenschaften beschädigt«6.

Marx und Engels erklären, dass der Staat erstmals in asiatischen Gesellschaften entstanden sei, in denen es keinen privaten Landbesitz gegeben habe, und seine erste Funktion der Schutz der gemeinsamen Interessen der Gemeinschaften gewesen sei. Unterlag der Schutz der gemeinsamen Interessen anfangs auch der Kontrolle der gesamten Gruppe, so sei er mit der Zeit einzelnen Individuen übertragen worden: Streit schlichten, Maßnahmen gegen individuelle gewalttätige Aneignung von Gemeinbesitz ergreifen, unter primitiven Bedingungen wie religiösen Funktionen ...

In »primitiven« Gesellschaften mit erweiterter Arbeitsteilung spezialisieren sich diese Beamten zunehmend, organisieren sich und unterscheiden sich von der übrigen Gesellschaft. Diese Gruppierung in noch größere Einheiten ebnet den Weg für eine neue Arbeitsteilung wie auch für die Schaffung von Organen, die gemeinsame Interessen verteidigen und im Widerspruch stehende Interessen kontrollieren.

Mit der Entwicklung zur Klassengesellschaft und der Teilung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, zwischen Herrschern und Beherrschten erlangt der Staat eine andere Funktion.

Lenin denkt anders als Marx und Engels und erklärt, dass der Staat zum ersten Mal in der Sklavenhaltergesellschaft entstanden sei. Seine erste Funktion sei es gewesen, die Herrschaft der Sklavenhalter über die Sklaven aufrechtzuerhalten: »In der Zeit, als es noch keine Klassengesellschaft gab, also auch vor der Ära der Sklaverei, und die Menschen unter gleichberechtigten Bedingungen arbeiteten, war keine Gruppe hervorgetreten, die den Rest der Gesellschaft lenkt oder unter ihre Herrschaft bringt. Das wäre auch nicht möglich gewesen. Für die erste Form der Klassenteilung der Gesellschaft, also für die Sklaverei, musste zunächst der Staat entstehen.«7

Der Rahmen, den Marx, Engels und Lenin zur Funktion des Staates in Klassengesellschaften skizziert haben, erfährt keine ernsthaften Einwände und wird heutzutage von Sozialisten akzeptiert.

Dieser Akzeptanz zufolge ist die Grundbedingung für die Fortführung der Produktionsweise in Klassengesellschaften die Anbindung der Kraft der Massen an die bewaffnete und organisierte Kraft einer Minderheit. Um das Eigentum zu schützen, die bestehenden Gesetze und die Ordnung aufrechtzuerhalten, seien die Ausbeutenden dazu gezwungen, einen Apparat zu entwickeln und zu kontrollieren, der die Ausgebeuteten unterdrückt. Dieser Apparat, der als Staat bezeichnet wird, sei in der Antike der Staat der Sklavenhalter, im Mittelalter derjenige der feudalen Adligen und heutzutage der Staat der Bourgeoise.

Bis heute besteht Einigkeit an dem Punkt, dass der Staat ein »Werkzeug in der Hand der herrschenden Klasse ist«. Doch Engels erklärt, dass in einigen Situationen dieser Apparat von keiner der beiden Seiten benutzt werde: »In Ausnahmefällen gibt es solche Phasen, in denen sich die einander bekämpfenden Klassen, anstatt sich gegenseitig auszugleichen, mehr annähern und die Staatsmacht vermeintlich als Vermittlerin eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber diesen Klassen gewinnt.«8 Engels führt als Beispiele für diese außergewöhnlichen Ausnahmefälle die absoluten Monarchien im 17. und 18. Jahrhundert an, das erste und zweite bonapartistische Imperium und das deutsche Imperium Bismarcks.

Solange es Klassen gebe, werde es auch Klassenkämpfe geben, und solange es Klassenkämpfe gebe, werde der Staat existieren. Wenn die Klassen aufgehoben werden würden und der Sozialismus geschaffen sei, würden die Kriege aufhören. Lenin glaubt an die Notwendigkeit dieses Krieges: »Wir akzeptieren Bürgerkriege, also die Kriege der unterdrückten gegen die herrschenden Klassen, die der Sklaven gegen die Sklavenhalter, die der Leibeigenen gegen die Landbesitzer und die der Arbeiter gegen die Bourgeoise als vollständig legitim, fortschrittlich und notwendig.«9

Lenin ließ Krupskaya von Zürich aus mitteilen, dass er sich im Rahmen der Revolutionsvorbereitungen von Herbst 1916 bis Anfang 1917 theoretischen Arbeiten widme und sich mit den Werken von Marx und Engels hinsichtlich der Staatsfrage auseinandersetze.

Nach Lenin kann es dem Proletariat nicht genügen, den Staatsapparat zu übernehmen und wie gehabt zu benutzen. Es könne im alten Staatsapparat all das unterdrückerische, traditionelle und irreparable Bürgerliche zerschlagen und an dessen Stelle einen neuen Apparat setzen. Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte (Sowjets) sollten diesen Apparat darstellen.

»Zweitens verfügt dieser Apparat über eine enge, unauflösbare, nicht leicht zu bezwingende und in keinster Weise mit den älteren Staatsapparaten zu vergleichende Verbindung zu den Massen und der Volksmehrheit. Da sich dieser Apparat entsprechend dem Volkswillen wandeln und in seiner Zusammensetzung ändern kann, ist er im Vergleich zu den früheren Gebilden viel demokratischer. Er ermöglicht die bewussteste, waghalsigste und am weitesten vorangeschrittene Organisierung der Arbeiter und Bauern, der unterdrückten Klassen. Auf diese Weise kann der Apparat die Vorreiter der unterdrückten Klassen und die bislang völlig vom politischen Leben und der Geschichte ausgeschlossenen Massen emporheben, bilden, weiterentwickeln und auf diesem Wege mit sich vorantreiben.«10

J. Stalin wendet sich gegen die Anarchisten, die den Staat völlig ablehnen. Der Staat müsse notwendigerweise in der »Übergangsphase« für eine gewisse Zeit genutzt werden. Nach der Enteignung der Bourgeoise werde er »absterben«.11

Nicht nur Stalin denkt so. Auch die Sozialisten bevorzugen es, den modernen Staat und seine Institutionen für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus auf spezielle Art und Weise zu benutzen. Die Diktatur des Proletariats sei solch eine Übergangsform, gleicherweise ein Staat. Es besteht kein Bedürfnis nach Staat für Freiheit, sondern dafür, die Feinde des Proletariats zu unterdrücken. Wenn es Freiheit gibt, wird es keinen Staat geben.

Öcalan erklärt, dass die Begriffe Staat und Freiheit nicht Seite an Seite stehen könnten. Er entwickelt Kritik an der These, dass der Staat, wenn er auch nur von kurzer Dauer sei, in der Hand des Proletariats absterben werde, wenn seine Lebensdauer abgelaufen ist, und im Interesse der Gesellschaft genutzt werden könne. Es sei so genauso wichtig, wie die Leitung von Macht fernzuhalten, der Macht die Leitungsrechte aus der Hand zu nehmen. So wie die Macht antigesellschaftlich sei, sei die Führung eine gesellschaftliche Macht.

»Naturgemäß drängt die Staatsmacht in ihrer Beziehung zur Gesellschaft die Demokratie zurück und grenzt sie ein. Die demokratischen Kräfte hingegen wollen ihre Grenzen, den Staat nicht anerkennend, kontinuierlich erweitern. Kern des Problems ist die Verwirrung zwischen dem Staat, der sich selbst mit der Demokratie maskiert, und der Demokratie, die selbst Staat werden will.

Ohne Gleichsetzung mit der Staatsmacht, ohne im Namen von Diktaturen des Volkes oder des Proletariats etwas vorzutäuschen, stellen die demokratischen Selbstverwaltungen das einer richtigen Lösung am nächsten kommende Modell dar. Es ist die Essenz und der Unterschied der demokratischen Selbstverwaltung, weder im Namen des Volkes Staat noch ein einfaches Anhängsel des Staates zu werden.«12

Als sich in Russland 1917 die Oktoberrevolution ereignete, war das Bündnis aus Arbeitern, Bauern und Soldaten in der Position und hatte die Kraft, den Staat nicht wie 1915 zusammen mit der Bourgeoise, sondern allein zu leiten. Folglich gab es kein Hindernis mehr. Es war die Zeit gekommen, all diese Fragen und unendlichen Diskussionen in die Praxis umzusetzen.

Marx hatte nach der Erfahrung der Pariser Commune erklärt, dass sich das Proletariat zum Erreichen seiner Ziele nicht damit begnügen werde, den Staatsapparat zu übernehmen und zu gebrauchen. Es werde diese Maschine zerschlagen und an ihre Stelle einen neuen Apparat, seinen eigenen, setzen. Dies waren die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte.

»Der Kapitalismus als Ergebnis der Etappen vor dem Sozialismus spielte im Kampf gegen den Feudalismus eine befreiende Rolle für die Nationen. In der imperialistischen Phase hingegen ist er so reaktionär geworden, dass er die Nationen am meisten unterdrückt. Der früher fortschrittliche Kapitalismus ist nun reaktionär.«13

Die imperialistische Stufe des Kapitalismus ist sowohl die Etappe der Reife als auch der Fäulnis des Kapitalismus. Wie wird der Kapitalismus überwunden, der sich dem »historischen Fortschrittsgesetz« entsprechend verändern muss, aber gleichzeitig seine stärkste und reifste Zeit erlebt?

Dem Anführer der sowjetischen Revolution von 1917 Lenin zufolge: »Der Kapitalismus und der Imperialismus können nur durch eine ökonomische Umwälzung beseitigt werden. Man kann den Kapitalismus nicht besiegen, ohne die Banken in Besitz zu nehmen, ohne das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufzuheben.«

Im Jahr 1936 angelangt erklärte Stalin, dass die sozialistische Revolution größtenteils zum Sieg gelangt sei. Ihm zufolge war in allen Wirtschaftsbereichen die sozialistische Transformation abgeschlossen und die sozialistische Gesellschaft aufgebaut. Die Frage »Wer wird wen besiegen?« sei grundlegend gelöst und der Sozialismus in der UdSSR habe gesiegt. Die Sowjetunion war zu einem großen Industrieland geworden, das sich gegen äußere Angriffe verteidigen und die nationale Sicherheit gewährleisten konnte. Dementsprechend kam Stalin auf drei Ergebnisse:

Die erste Etappe der kommunistischen Gesellschaft, von der Marx und Engels schrieben, sei grundlegend umgesetzt. Die Veränderungen in der Eigentumsstruktur, dem ökonomischen System des Landes und der Klassenstruktur seien erfolgreich realisiert worden. Das sozialistische System sei vorherrschend in Industrie, Landwirtschaft und Handel. Die sowjetische Schwerindustrie habe sich entwickelt, der Kapitalismus sei aus allen Bereichen der Industrie verjagt worden.

Die Existenz der kapitalistischen Klasse in der Landwirtschaft und die der Händler und Wucherer im Handelsbereich habe ein Ende gefunden. Somit seien alle ausbeuterischen Klassen in der Gesellschaft liquidiert worden.

Doch weder Stalin noch später Chruschtschow, Breschnew, Jelzin und andere hatten die geringste Idee von gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein oder der seelischen und geistigen Welt des sowjetischen Menschen. In der Sowjetunion wurde das Glück des Menschen und der Gesellschaft mit wirtschaftlichen Indikatoren, technologischen Entwicklungen, Aufrüstung und Wettbewerbsmaßstäben gegenüber kapitalistischen Staaten gemessen.

Die Büros, die in der Zeit von Hungersnot und Nahrungsmittelknappheit dem Volk Lebensmittel verteilten, haben ihr Aussehen geändert; statt dass Menschen mit Schüsseln und Stoffbeuteln in Warteschlangen auf Brot und Essen warten, stehen nun Funktionäre und Mitglieder der Kommunistischen Partei mit Pelzmütze und Kalpak in der Schlange, um Artikel aus kapitalistischen Ländern zu erwerben, deren Verkauf verboten ist. Und das nicht geheim, sondern mitten in Moskau unter den Blicken aller.

Als der Staat, der zu Jelzins Zeiten erschüttert wurde, unter Gorbatschow zusammenfiel, gab es niemanden, der sich gegen den Niedergang erhob, noch jemanden, der ihm nachtrauerte. Im zusammenbrechenden Staat gab es nichts, was der Gesellschaft gehörte. Es fiel lediglich die Macht derjenigen zusammen, die für sich selbst, für ihre eigenen Interessen und ihre eigene Zukunft den Staat regierten.

Stalin soll in vielen seiner Artikel und Reden vom Antaios aus der griechischen Mythologie gesprochen haben. Antaios hatte außergewöhnliche Kräfte und gewann sie von der Mutter Erde. Solange er seine Beziehung zur Erde aufrechterhielt, gab es keine Kraft, die ihn aufhalten konnte. So wurde er beim Flug in den Himmel getötet. Stalin verglich die Beziehung zwischen kommunistischer Partei und Gesellschaft mit derjenigen zwischen Antonius und der Erde. Er sah diese Beziehung als die alleinige Kraftquelle der Führung und Macht.

Von der Gründung der Sowjetunion 1917 bis zu ihrem Zusammenbruch 1991 waren die Beziehungen der Avantgarde-Partei (KPdSU) und der Staatsadministration zur Gesellschaft problematisch, bürokratisch und distanziert. Auch wenn in den Kriegs- und Krisenzeiten große Opferbereitschaft, Heldentum und eine große gesellschaftliche Solidarität zu verzeichnen waren, rührte diese »Einheit« mehr aus dem Denken her, Vaterland und Staat zu verteidigen, denn sich für den Sozialismus einzusetzen und die sozialistische Demokratie zu verteidigen.

Seit dem ersten Jahr der Revolution entwickelte sich mit der Zeit eine Elitebildung ihrer Verwalter und führte zur Schwächung der Beziehungen zu »Mutter Erde«. Der Sozialismus, der den Boden unter den Füßen verlor, wurde im Flug frei zum Abschuss.


 Fußnoten:

1 Sovyet Sosyalizminin Dersleri – Li Shenming, Canut Yayın Evi, 2013, S. 72, S. 75.

2 Sovyet Sosyalizminin Dersleri – Li Shenming, Canut Yayın Evi, 2013, S. 72, S. 75.

3 Sovyet Yönetiminin Örgütlenmesi – V. İ. Lenin, Ekim Yayınları.

4 The critique of capitalist democracy: An introduction to the theory of the state in Marx, Engels, and Lenin.

5 Demokratik Uygarlık Manifestosu – Abdullah Öcalan, Mezopotamya Yayınları 2012.

6 Demokratik Uygarlık Manifestosu – Abdullah Öcalan, Mezopotamya Yayınları 2012, S. 131, 57.

7 Marx, Engels, Lenin’de Devlet Kuramı – Stanley W. MOORE, Teori Yayınevi 1979, S. 20, S. 55.

8 Marx, Engels, Lenin’de Devlet Kuramı – Stanley W. MOORE, Teori Yayınevi 1979, S. 20, S. 55.

9 Emperyalist Savaş Üzerine – V. İ. Lenin, Günce Yayınları 1976, S. 114.

10 Sovyet Yönetiminin Örgütlenmesi – V. İ. Lenin, Ekim Yayınları.

11 SBKP(B)’deki Sağ Sapma Üzerine – J. V. Stalin, İnter Yayınları, S. 72.

12 Demokratik Uygarlık Manifestosu – Abdullah Öcalan, Mezopotamya Yayınları, S. 37.

13 Emperyalist Savaş Üzerine – V. İ. Lenin, Günce Yayınları 1976, S. 116, S. 173.