Editorial

Kurdistan Report 193 | September/Oktober 2017Liebe Leserinnen, liebe Leser,

derzeit erscheinen in kurdischen wie internationalen Medien zahlreiche Kolumnen und Leitartikel zu der Frage, wie es in Syrien und dem Mittleren Osten nach der Befreiung Raqqas vom »Islamischen Staat« (IS) wohl weitergehen werde. Sehr zuversichtlich klingen die meisten Prognosen nicht. Viele gehen davon aus, dass sich bislang hintangestellte Widersprüche zwischen regionalen und globalen Mächten dann voll entfalten könnten. Die Logik dahinter lautet: Hat der gemeinsame Kampf gegen den Hauptfeind IS manchen Widerspruch entschärft, wird mit dem Ende dieser Organisation wieder der Kampf »alle gegen alle« beginnen.

Wir wollen an dieser Stelle einen alternativen Blick auf die Zeit »nach Raqqa« wagen. Mit dem Ende des sogenannten Islamischen Staates werden die Völker des Mittleren Ostens eines der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte hinter sich gelassen haben. Die Befreiung von Raqqa stellt dabei eine vorentscheidende Etappe dar. Und während die Menschen der Region sich vom Joch des Terrorregimes befreien, machen sie zugleich Bekanntschaft mit einem völlig neuen Gesellschaftsmodell, der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Die Hoffnung auf eine neue Perspektive gesellschaftlichen Miteinanders keimte vor etwas mehr als fünf Jahren mit dem Ausbruch der Rojava-Revolution auf. Mit der Befreiung Raqqas könnte diese Perspektive ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen. Raqqa wäre dann sicherlich Modellstadt für dieses Gesellschaftsmodell und würde weit über den Norden Syriens hinaus ausstrahlen. Unsere Prognose ist deshalb weitaus weniger pessimistisch.

Doch noch herrscht ein brutaler Häuserkampf in der Stadt. Die Demokratischen Kräfte Syriens schreiten beständig, aber langsam und vorsichtig voran. Und auch die Gegner der Demokratischen Föderation außerhalb Raqqas halten nicht still. Insbesondere die Türkei versucht mit ihren beharrlichen Angriffen auf den Kanton Afrîn die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten der YPG und YPJ zu binden und dem IS Verschnaufpausen zu verschaffen.

Doch die Energie und die Hoffnung, die von der Revolution im Norden Syriens ausgehen, lassen sich längst nicht mehr negieren. Als bei den G20-Protesten in Hamburg auf der Großdemonstration mit rund 76.000 Teilnehmer*innen plötzlich tausende Fähnchen der YPG und YPJ sowie das riesige Symbol der PKK zu sehen waren, wurde dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zugleich wurde mit »grenzenloser Solidarität« das absurde Fahnenverbot des Bundesinnenministeriums durchbrochen.

Wenn wir unsere grenzenlose Solidarität weiter entfalten und zur Grundlage unseres Alltags und unseres gemeinsamen Kampfes für eine bessere, lebenswerte Welt machen, dann werden wir nicht zu bloßen passiven Zuschauer*innen bei der Frage, wie es nach Raqqa weitergeht, sondern wir werden die Beantwortung der Frage maßgeblich mitbestimmen. Möglichkeiten des direkten Handelns gibt es in diesem Land leider zu genüge. Auch wenn die Bundesregierung momentan die verbalen Angriffe des Machthabers des türkischen Regimes nicht lautlos schluckt und ein wenig Kritik hörbar ist, erkennen wir doch allein an dem Volumen der Rüstungsgüter ihre »gute Zusammenarbeit«. 2016 genehmigte die Bundesregierung den Export von Rüstungsgütern im Wert von 83,9 Millionen Euro an die Türkei. Die Tendenz ist, das es auch in diesem Jahr nicht anders werden wird. Krieg beginnt hier, dass sollten wir nicht vergessen.

Eure Redaktion