Kurdistan Report 194 | November/Dezember 2017Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
die Entwicklungen im Mittleren Osten überstürzen sich. Täglich flammen neue Krisenherde auf und Bündnisse wechseln im Stundentakt. Eine aktuelle Bewertung kann schon am nächsten Tag überholt sein. Während die Operation der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in Raqqa unter großen Opfern beendet wurde und der Islamische Staat damit seine Funktion als Hauptgefahr für die Revolution in Nordsyrien verlor, hat die türkische Armee in Idlib bereits angekündigt, die Lücke zu füllen. Einerseits verteidigen arabische und kurdische Kämpferinnen und Kämpfer unter der Fahne der QSD gemeinsam die pluralistische und multiethnische Demokratische Föderation. Andererseits eskaliert in Südkurdistan und Irak der Konflikt nach dem Unabhängigkeitsreferendum; Höhepunkt waren in dieser Woche die militärischen Auseinandersetzungen in Kerkûk.

Die dreistufige Wahlperiode in Nordsyrien, die mit dem »Demokratischen Volkskongress« abschließen soll, und der Diskurs um das südkurdische Referendum haben nochmals die revolutionäre Dynamik in Kurdistan offenbart. So gibt es unter den großen kurdischen Parteien vornehmlich zwei Perspektiven auf die Selbstbestimmung und Befreiung. Die Grenze zwischen Nordsyrien/Rojava und Nordirak/Südkurdistan trennt zwei Gesellschaftssysteme. Wird im Westen mit dem demokratischen Konföderalismus ein antistaatliches Projekt verfolgt, pocht die politische Elite im Süden auf das nationalstaatliche Modell zur Befreiung und als Symbol der Selbstbestimmung.

Die Diskussionen um kurdische Selbstbestimmung anlässlich des Referendums machen den Charakter der kurdischen Frage als gordischen Knoten deutlich und insbesondere das enorme progressive Potential des von der PKK vertretenen demokratischen, ökologischen und auf Frauenbefreiung beruhenden Paradigmas für die Demokratisierung der Region.Freiheit für Öcalan | Protest in Hamburg gegen die anhaltende Isolation Öcalans.

Unwiderruflich mit der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der kurdischen Freiheit verbunden ist der Name Abdullah Öcalan. Wurde vor dreißig Jahren alles verleugnet und verboten, was mit dem »Kurdischen« zusammenhing, wurden die Menschen für das Wort »Kurdistan« noch gefoltert und ermordet, hinterfragt heute niemand mehr die Existenz der kurdischen Gesellschaft und Kurdistans. Heute trägt die von Öcalan mit einer Handvoll Studierender gegründete Demokratiebewegung radikaldemokratische, ökologische Diskurse und Thesen der Frauenbefreiung in den gesamten Mittleren Osten. Ausgerüstet mit Ideen und Philosophie Öcalans schaffen die Menschen in Rojava jenseits von Fremdbestimmung eine lebenswerte Alternative im Chaos der Region. Der von ihm revolutionierte Begriff der Nation, dessen zentrales Merkmal der Pluralismus ist, trägt in den Diskussionen um Selbstbestimmung den Charakter der Befreiung vom Nationalismus, der Pest des 20. Jahrhunderts, wie Öcalan ihn bezeichnet.

Wer also für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, eine Demokratisierung des Mittleren Ostens und überall für mehr »Demokratie statt Staat« eintritt, muss die Aufmerksamkeit auf die Insel Imralı und ihren Insassen richten: Abdullah Öcalan. In diesem Sinne wollen auch wir als Redaktion unsere Unterstützung für die globale Kampagne »Die Zeit ist reif! Free Öcalan!« bekannt geben.
Eure Redaktion