Die Lage nach dem katalanischen und dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum

Die Gefahren und Hoffnungen des Rechts auf Selbstbestimmung

Thomas Jeffrey Miley, Dozent der Politischen Soziologie, Cambridge

Kann Öcalans demokratischer Konföderalismus eine revolutionäre Alternative bieten zu der Situation des Stillstands nach dem katalonischen und dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum?
Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten in Barcelona, militärische Besatzung irakischer Streitkräfte in Kerkûk. Institutionen für Autonomie und Selbstbestimmungen werden von Katalonien bis Kurdistan angegriffen. Die Bilder sind schockierend, die staatliche Repression ist sicher sehr abstoßend. Wie konnten die nationalen Konflikte ein solches Potential an Polarisierung entwickeln? Was löste die aggressiven staatlichen Gegenreaktionen aus? Wie werden sich diese andauernden Konflikte weiterentwickeln? Und was sind die Perspektiven für mehr Rechte und emanzipatorische Entwicklungen?

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Es ist nun über ein Jahrhundert her, dass Rosa Luxemburg richtigerweise auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, alle Erklärungen über abstrakte und utopische Prinzipien – wie etwa das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker – kritisch, unter Berücksichtigung der globalen und lokalen Machtverhältnisse, zu hinterfragen. Wie auch immer, Luxemburgs Warnungen gingen lange unter durch den Sieg des Marxismus-Leninismus und seinen Einfluss auf so viele antikolonialen Kämpfe.

Wir müssen nun genauer schauen auf die Beispiele Katalonien und Kurdistan, welche dieser Tage und Wochen die Schlagzeilen bestimmen. Orte, an denen hoch umstrittene einseitige Referenden für Selbstbestimmung durchgeführt wurden mit den Folgen einer sich verschlimmernden Spirale von Polarisation und Gewalt. Die Diskussionen dieser beiden Konflikte in linken Kreisen, vielleicht auch nur im englischen Sprachraum, lassen sehr zu wünschen übrig.

In beiden Fällen zeigen selbst die kritischsten Analysten die Bereitschaft, sich vor dem heiligen Prinzip der Selbstbestimmung zu beugen und vermeiden es, die Herangehensweisen der Sezessionisten in ihrer Auswirkung auf die lokalen und globalen Machtverhältnisse zu evaluieren. In beiden Fällen wurden die Machenschaften der politischen Eliten mit dem »Willen des Volkes« vermischt und verschmolzen. In beiden Fällen besteht die Tendenz, »die Katalanen« und »die Kurden« als homogene Akteure zu betrachten. In beiden Fällen wurden Unterschiede und Aufspaltungen innerhalb der oben genannten Gruppen, aber mehr noch am Rande dieser »nationalen Gemeinschaften« ignoriert. Ebenso wie alternative Ansätze zum Thema Selbstbestimmung. Auch die Unterschiede und Differenzen innerhalb der gegen die Unabhängigkeitserklärung agierenden staatlichen Kräfte und Gruppen wurden nicht ausgeleuchtet. Das sind die heimtückischen Fallen der Reduktion auf den Nationalismus.

Der Konflikt in Katalonien

Im Fall von Katalonien wurde viel Begeisterung ausgedrückt für die Taktik und Strategie der eindeutig antikapitalistischen Partei »Candidaturas d’Unitad Popular« (CUP). Und tatsächlich, das Programm der CUP, das Feminismus, soziale Ökologie und direkte Demokratie hervorhebt, kann man sicherlich loben. Auch dann, wenn die relative Stärke der Sezessionisten überschätzt wird. Ebenso sollten das ausschließliche Setzen auf die einseitige Ausstiegserklärung und der dogmatische Glaube an die Formel der »nationalen Unabhängigkeit« als Weg, mit dem Kapitalismus zu brechen, kritisch hinterfragt werden.Am Tag des Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien

Die dogmatische Formel der »nationalen Unabhängigkeit« hat die CUP voraussehbar in eine Koalition mit kleptokratischen, bourgeoisen sezessionistischen Kräften gebracht, legitimiert durch das wundersame Votum der Versammlung der 15.-Mai-Bewegung1. In dieser Umgebung, im Jahr 2015, konnte die CPU sogar dazu gebracht werden, positiv für das regionale Austeritätspaket zu stimmen. Das Insistieren der CUP auf die Dringlichkeit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung hatte voraussehbar wenig Unterstützung im alten industriellen Gürtel. Tatsächlich, zu wenig wurde geredet über die Grenzen des sezessionistischen Projekts in Katalonien oder seine weitreichenden Auswirkungen auf die politischen Auseinandersetzungen in ganz Spanien. Wie Antonio Santamaria zu Recht hervorhebt, zeigt ein Blick auf die Beteiligungsraten am Referendum in verschiedenen Gemeinden sehr illustrierend die harten Grenzen des Aufrufs zur Unabhängigkeit bei der katalanischen Arbeiterklasse. In der symbolischen Stadt Santa Coloma de Gramenet im industriellen Gürtel lag zum Beispiel die Zustimmungsrate bei unter 18 % der Wahlberechtigten, während in der wohlhabenden Stadt Sant Cugat del Vallès im Gegensatz dazu die Beteiligung bei 54 % lag.

Um die Sache zu verschlimmern, hat die Polarisierung entlang der »nationalen Frage« dazu gedient, die Sparpolitik zu legitimieren und korrupte, demagogische Politiker auf beiden Seiten des Ebros aus der Verantwortung zu entlassen. Zur gleichen Zeit hat es aber auch dazu gedient, die Debatte in Richtung der Agenda der »Empörten« zu drehen, welche die Basiswidersprüche in Form von Klassengegensätzen als Kampf zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden sehen und nicht als Auseinandersetzung zwischen Territorien oder Kampf zwischen Nationen.

Schaut man sich die konkrete soziale Situation auf der iberischen Halbinsel an, ist es schwer zu vermeiden, die Arbeiterklasse zu spalten und zu schwächen, wenn diese die Kämpfe primär auf nationale und lokale Gegebenheiten bezieht; nicht nur in Katalonien, sondern vor allem auch im Rest von Spanien. Schaut man sich die Rechts- und Machtverhältnisse an, bleibt von der einseitigen Unabhängigkeit Kataloniens nur ein kurzer Traum. Verhandlungen irgendwelcher Art mit den regierenden politischen Kräften in Madrid wird es immer geben müssen, um ein erfolgreiches Unabhängigkeitsprojekt umzusetzen. Allerdings gibt die ideologische Ausrichtung des hegemonialen Machtblocks in Spanien, mit dem die Unabhängigkeitsbefürworter verhandeln müssten, schon Anlass zu Sorge. So würde man erwarten, dass der sezessionistische Block schon aus Eigeninteresse versuchen würde, die Entwicklung und Stimme der breiteren spanischen Linken zu stärken. Aber stattdessen hat die Taktik der einseitigen Unabhängigkeit in die Hände der spanischen Rechten gespielt.

Nicht, dass die spanische Linke schuldlos ist. Der »parlamentarische Kretinismus« und der Opportunismus von Podemos und, im geringeren Ausmaß, auch einiger Kommunalplattformen – ihre Vereinnahmung und teilweise Unterwanderung der Graswurzelbewegung – haben zweifellos das Potential einer neuen linken Bewegung begrenzt. Dies hat, mit Ausnahmen, den Weg bereitet, Klassenkonflikte durch nationale Konflikte zu ersetzen. Das führte zu der Perspektive, dass sich die Polarisierung nicht entlang der schmerzhaften Austeritätspolitik, sondern entlang des Unabhängigkeitsprozesses entwickelte.

Pablo Iglesias und besonders Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona und Vorsteherin der kommunalen Bewegung, haben ihr Bestes gegeben, sich nicht festzulegen, um die Perspektive eines »dritten Weges« zwischen einseitiger Unabhängigkeit und wachsender staatlicher Gewalt am Leben zu halten. Aber solche Bemühungen drohen erstickt zu werden in der wachsenden Polarisierungskonfrontation zwischen spanischen und katalanischen Nationalisten.

Derweil hat die bankrotte neoliberale »sozialdemokratische« Partei »Partido Socialista Obero Espanol« (PSOE) sich auf die Seite der Eskalation und Unterdrückung der spanischen Behörden geschlagen. Die PSOE selbst wurde in den letzten Jahren zerrieben im Konflikt um den aktuellen Parteivorsitzenden Pedro Sánchez, der bereits abgesetzt war und nun wieder zurückgekehrt ist. Die Partei ist kaum mehr empfänglich für die Beschäftigung und Kompromisse mit der nationalen Frage und gibt den innerparteilichen Kräften Raum, welche es bevorzugen, die kriegerische Sprache der spanischen Rechten zu übernehmen. Sie übernehmen die Bezeichnung »Putsch« für das Unabhängigkeitsreferendum aus den Schlagzeilen der »El País« und applaudieren der staatlichen Unterdrückung und Polizeigewalt, wenn sie sie nicht gar leugnen.

Das Gleichgewicht der beteiligten Kräfte

Wenn Luxemburg recht damit hatte, die Bedeutung abstrakter Forderungen nach Selbstbestimmung auf ihre Auswirkungen innerhalb der konkreten Machtverhältnisse zu überprüfen, hatte auch Lenin recht mit seiner Antwort, die Gefahr von Großmachtchauvinismus nicht zu unterschätzen. Und tatsächlich, der spanische Nationalismus spielte eine große Rolle in den letzten Monaten und Wochen. In den sozialen Netzen und Mainstream-Medien wurde jede Aggression der spanischen Behörden gefeiert, je brutaler umso besser.

Der patriarchale Kern des spanischen Chauvinismus kehrte zurück und nahm Rache. Wie ein prügelnder Ehemann benutzte er dieselben Entschuldigungen für die Gewalt gegenüber seiner Frau, die ihn verlassen will. Einheit durch Gewalt, weil, ihr wisst es, ich sie so sehr liebe. Und natürlich zum Wohl der Kinder.

Die spanische Rechte hat enorme Kapazitäten für eine populistische Gegenmobilisierung unter Beweis gestellt. Am Wochenende nach dem Referendum füllten annähernd eine Million Menschen die Straßen Barcelonas. Mit einer spanischen Flagge, die mittlerweile tief in Blut getaucht ist, gaben sie zynisch ihr Verhalten als Verteidigung der Verfassung und der »Herrschaft des Gesetzes«, ja sogar der Bürgerrechte aus. Auch Vertreter der extremen Rechten fügten sich einfach in die Menge ein, frei darin schwimmend wie die Fische im Wasser, als wäre es ihr natürliches Habitat.

Das Element von Straßenmobilisierung, wie zuletzt in Barcelona, ist relativ neu im Repertoire der spanischen Nationalisten. Es ist aber auch ein Anzeichen für die Polarisierungsspirale, die die Politik durchzieht. Relativ neu für die spanischen Nationalisten, aber eine, die von ihren Gegnern, den katalanischen Behörden, seit langem Anwendung findet.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das Bild des Konflikts, bei dem der spanische Staat »das katalanische Volk« angreift, wäre bestenfalls eine starke Vereinfachung. Allzu oft wird die kritische Rolle der katalanischen Behörden und Massenmedien übersehen, die den Unabhängigkeitsprozess vorangepeitscht haben. Ebenso übersehen werden die engen Verbindungen der katalanischen Regierung und des lokalen Verwaltungsapparates mit »zivilgesellschaftlichen Einrichtungen« wie etwa der »Assembla National de Catalunya« und »Ómnium Cultural«, deren Vertreter aktuell verhaftet wurden, ohne Möglichkeit, durch Kaution freizukommen.

Man kann auch nicht die allgemeine Freude über die katalanische »regionale« Polizei für ihre »professionelle« und »beeindruckende« Jagd auf marokkanisch-katalanische jugendliche Terrorverdächtige vergessen, deren außergerichtliche Tötung, mit extremer Vorverurteilung, wie es in so vielen sezessionistischen Kreisen Beifall fand. Das zeigt im Negativen, wie nahe die Katalanen schon einem eigenen Staat sind. Auf jeden Fall muss man einwenden: Verschiedene unabhängige Staatsapparate sind nicht dasselbe wie die Zerschlagung des Staates.

Der Konflikt zwischen »Spanien« und »Katalonien« ist zuerst und vor allem ein Konflikt zwischen dem zentralen und dem lokalen Staatsapparat, bei dem beide Seiten von der Polarisierung und Demagogie profitiert haben. Das ist nicht zu leugnen, auch wenn Teile der Bevölkerung unter den Unabhängigkeitsbefürwortern, deren Kern aus der katalanisch sprechenden Mittelklasse besteht, vom Staat eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden. Eine realistische Einschätzung der Kräfteverhältnisse in diesem Konflikt erfordert eine saubere Untersuchung der Rolle, welche die politischen Eliten in den Staatsapparaten auf beiden Seiten spielen.

Aber um nicht zu verwirren, auch wenn der sich spiralartig ausweitende Konflikt am besten verstanden werden kann als verfahrene Situation zwischen den zentralen und regionalen politischen Eliten und Staatsapparaten, welche beide in der Lage sind, größere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, liegen die Gesetze und Zwangsmittel in der Hand des spanischen Staates. Ebenso müssen die ökonomischen Kräfte berücksichtigt werden.

Die Wirtschaftsführer der katalanischen Ökonomie plädieren für eine Verhandlungslösung gegenüber dem jetzigen Zustand, vor allem in Bezug auf eine stärkere Finanzautonomie. Ihre klare Opposition gegen eine einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die katalanischen Behörden könnte den entscheidenden Ausschlag geben für den Ausgang des Konflikts. Die katalanischen Behörden haben ihr utopisches Projekt einer Unabhängigkeit fatalerweise der Bevölkerung als für kleines Geld zu haben verkauft. Mehrfach versprachen sie, die Unabhängigkeit würde mehr Wohlstand für alle Katalonier bringen, wenn das Joch von Madrid erst einmal abgestreift wäre. Viele Katalanen wurden in den Wochen nach dem Referendum eines Besseren belehrt in Bezug auf diese Illusionen.

Die Wirtschaft in Katalonien reagierte schnell. Vor allem die großen Unternehmen haben einfach zu viel zu verlieren. Vor allem angesichts der sehr realen Möglichkeit, nach einer erfolgreichen einseitigen Unabhängigkeitserklärung aus der EU ausgeschlossen zu werden, wie es die EU-Behörden mehrfach angekündigt haben. Und so reagierte die katalanische Wirtschaft mit einer Fluchtwelle und versetzt dem Unabhängigkeitsplan einen heftigen, vielleicht auch gewollten Stoß. 45 größere und mittlere Unternehmen verlagerten ihren Hauptsitz in andere spanische Regionen. Darunter sechs der sieben größten Unternehmen, die im spanischen Ibex gelistet sind, dem Aktienindex der 35 größten spanischen Unternehmen.

Die schnelle Reaktion der Bosse der katalanischen Ökonomie, sei es beabsichtigt gewesen oder nicht, leistete sicher einen sehr viel effektiveren Beitrag, die Unabhängigkeitsbefürworter zu Vernunft zu bringen, als auf Großmütter einzuschlagen, die wählen wollen, Politiker ins Gefängnis zu sperren oder die katalonische Autonomie zu suspendieren. Aber wahrscheinlich reicht allein ökonomischer Druck dem Teil der spanischen Nationalisten nicht, welche nach härterem Vorgehen und staatlicher Unterdrückung rufen. Ein Vorgehen der harten Hand, das sehr schnell umschlagen kann und von den Betroffenen sicherlich nicht so schnell vergessen werden wird. Sicherlich wird es die Überzeugung und Vorstellungen der Unabhängigkeitsanhänger dauerhaft befeuern.

Der Konflikt in Irakisch-Kurdistan

Lasst uns nun die Aufmerksamkeit richten auf eine Weltregion, die zwei Kriegspyromanen, Bush und Blair, vor einem Jahrzehnt in Brand gesetzt haben, nicht zu vergessen, mit Hilfe von José María Aznar2, ihres treuen Pudels und Juniorpartners in der für die katastrophale Destabilisierung verantwortlichen »Koalition der Willigen«. In Irakisch-Kurdistan fand ein weiteres Referendum statt, welches den bestehenden Konflikt zwischen zentralen und lokalen Staatsinstitutionen verschärfte. Auch hier wurde das Referendum protegiert von einem unter Druck stehenden Präsidenten, in diesem Fall Masûd Barzanî. Barzanî stand sogar noch mehr unter Druck als die korruptionsgebeutelten katalanischen Eliten.

Tatsächlich klammert sich Barzanî ohne gesetzliche Grundlage an die Macht. Er dient jetzt fast zweieinhalb Jahre länger als Regionalpräsident der kurdischen Autonomieregion als verfassungsmäßig zulässig ist. Die regionalen administrativen und machtausführenden Staatsinstitutionen bleiben gespalten zwischen der Loyalität zur Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), der Partei des kürzlich gestorbenen irakischen Staatspräsidenten Celal Talabanî. Seit Januar 2014 wurden wegen des Streits über die verfügbaren Ölreserven vereinbarte Überweisungen der Zentralregierung eingestellt. Das führte im Zusammenhang mit den fallenden Ölpreisen zu starken ökonomischen Problemen für die regionale kurdische Regierung.

Um das vorhersehbare Anwachsen von Unmut in der Bevölkerung zu kompensieren, antwortete Barzanî mit politischer Unterdrückung oppositioneller Kräfte im Regionalparlament. Aber da Zustimmung nicht allein durch Zwang gewonnen werden kann, beschloss er es zu kombinieren mit einen populistischem Unterfangen. Mit dem Ansetzen eines Unabhängigkeitsreferendums, genauer des Referendums über eine einseitige Unabhängigkeitserklärung, versuchte er mit einer demagogischen List das Schwinden seiner Macht zu verhindern, ja sie sogar noch zu stärken. Wie seine Brüder in Katalonien überreizte er die Karten, indem er die Gegenreaktionen, die ein einseitiger Bruch auslösen würde, unterschätzte.

Am Referendum, das am 25. September 2017 abgehalten wurde, beteiligten sich 73 % der Wähler, 93 % stimmten mit Ja. Das Ergebnis ist eine klarer Beweis für den Unabhängigkeitswunsch einer übergroßen Mehrheit der Kurden, vielleicht nicht überraschend nach deren völkermordähnlichen Erfahrungen. Das Ergebnis wurde erzielt, obwohl Talabanîs YNK vor dem Referendum gewarnt hatte. Tatsächlich hatten auch Bazanîs amerikanische Beschützer, die ihn vor dem Referendum gewarnt hatten, wenig Interesse, ihren nach Unabhängigkeit strebenden, sich am Öleinkommen bereichernden Klienten zu verteidigen.

Nicht überraschend reagierte ein weiterer ehemaliger Unterstützer Barzanîs, die Türkei, noch aggressiver. Barzanîs Referendum schürte vorhersehbar die Paranoia der türkischen extremen Rechten, von deren Unterstützung der türkische Präsident Erdoğan aktuell abhängt. Es darf nicht vergessen werden, dass die Komplizenschaft mit dem türkischen Staat, inklusive Kollaboration und Koordination im andauernden Krieg gegen die PKK, für Barzanîs Projekt in Irakisch-Kurdistan von Anfang an essentiell war. Der türkische Staat drohte – in Folge des Referendums – damit, die Ölausfuhren zu verhindern und sogar die Grenzen zu schließen. Drohungen, die, falls sie erfüllt würden, mit Sicherheit Barzanîs Regime in die Knie zwingen würden.

Barzanîs Gegenspieler in Bagdad reagierten sofort, indem sie die internationalen Flüge von und nach Hewlêr (Erbil) und Silêmanî (Sulaimaniyya) stoppten, zusammen mit den Forderungen an die kurdische Regionalregierung, ihnen die Kontrolle über die Flughäfen zu übergeben. Bevor die Woche um war, führten irakische und iranische Truppen gemeinsame Manöver an der Grenze zwischen dem Iran und der Autonomen Region Kurdistan durch. Am 15. Oktober 2017 zog die irakische Armee ohne Widerstand in Kerkûk ein nach einem offensichtlichen Deal mit den Kräften der YNK, welche die Ölfelder seit dem Angriff des IS im Sommer 2014 unter ihrer Kontrolle hatten. Dem Rückzug der YNK aus Kerkûk folgte der Rückzug aus 40 % der Region, die nach dem Willen Barzanîs durch das Referendum unabhängig werden sollte. Eine atemberaubende Niederlage infolge überreizter Karten. Es stellt neben der militärischen Niederlage auch eine humanitäre Katastrophe dar. Laut Berichten flohen 100.000 Menschen aus ihren Häusern in Kerkûk.

Die Alternative des demokratischen Konföderalismus

Die Diskussion in der westlichen Linken über die Ereignisse in Irakisch-Kurdistan hat sich etwas aufgespalten dadurch, dass Vermutungen Überhand nahmen, eine geopolitische Allianz würde die Kurden an die Amerikaner und in manchen Fällen auch an Israel binden. Aktuell wird diese Diskussion sehr vereinfachend und noch oberflächlicher geführt als im Fall von Katalonien.

Für Menschen, die sich nicht so gut auskennen, erscheinen die Kräfte hinter dem Referendum schlicht als »die Kurden«. Dabei wird übersehen, dass es sehr unterschiedliche Meinungen innerhalb der kurdischen Autonomieregion im Irak gibt. Noch größer sind die Gegensätze zwischen der Autonomieregion im Irak und anderen Teilen Kurdistans. Noch problematischer ist dabei, dass die radikalen Unterschiede zwischen Barzanîs nationalistischem Konzept der Unabhängigkeit und der Taktik und Strategie der kurdischen Befreiungsbewegung übersehen wird. Diese besteht aus der PKK und den revolutionären Kräften, die in Rojava in Nordsyrien dominieren. Beide sind inspiriert durch die inhaftierte Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan und seinem Programm, dem Modell des demokratischen Konförderalismus.

Demokratischer Konföderalismus ist ein radikaldemokratisches Projekt, basierend auf Bürgerversammlungen und Volksverteidigung. Es ist ein Programm, welches dem Begriff der Selbstbestimmung ein radikal neues Konzept hinterlegt als Demokratie in Abwehr gegen den Staat. Eine Neukonzeptionierung des Begriffes Selbstbestimmung, welche die Gleichsetzung von nationalem Befreiungskampf mit dem Ziel eines unabhängigen Nationalstaates zurückweist, weil es dort wiederum zur Spaltung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen käme. Dieses Konzept versucht die Gefahr einer erneuten Tyrannei der Mehrheit durch Errichtung einer revolutionären Räterepublik zu verhindern. Eine Räterepublik, deren Grundverständnis von einem multiethnischen, multisprachlichen und multireligiösen Ansatz geprägt wird. Dies wird erreicht, indem die verschiedenen Gruppen in den Entscheidungsgremien durch Quoten repräsentiert sind (konkret in Rojava für Araber und assyrische Christen), die verschiedenen Gruppen ihre eigenen Belange in eigenen Gremien entscheiden und auch ihre eigenen Selbstverteidigungskräfte stellen.

Zugleich ist der demokratische Konföderalismus ein radikaldemokratisches Projekt, welches die Geschlechterbefreiung hervorhebt und durch Quotierung sicherstellt, dass Frauen in allen Entscheidungsgremien gleichberechtigt vertreten sind, über ihre eigenen Belange in eigenen Versammlungen beschließen und ebenfalls eigene Selbstverteidigungskräfte aufstellen. Schließlich sieht sich der demokratische Konföderalismus auch der sozialen Ökologie und Nachhaltigkeit verpflichtet in einer Region, die von Blutvergießen um Öl geprägt ist.

Tatsächlich, im starken Gegensatz zu Barzanîs Konzept der »Selbstbestimmung«, bietet das von Öcalan und der kurdischen Befreiungsbewegung angestrebte Projekt des demokratischen Konföderalismus die einzige Alternative zu der Dialektik von Tyrannei und Chaos, welches gerade die Region verschlingt. Sie haben ein Konzept, welches Basisdemokratie, Selbstverteidigung, einen multikulturellen und multireligiösen Ansatz, Geschlechterbefreiung und soziale Ökologie miteinander verbindet. Es stellt einen realen Plan dar für den Frieden im Mittleren Osten und darüber hinaus. Möglicherweise könnten selbst in Katalonien und Spanien die CUP, die Kommunalbewegung und die spanische Linke das ein oder andere vom mutigen Experiment ihrer revolutionären Schwestern und Brüder aus der kurdischen Befreiungsbewegung lernen.

Wie es Abdullah Öcalan gut auf den Punkt gebracht hat in einem Moment kritischer Selbstreflexion, als er die Motivation für seine prinzipielle Ablehnung eines unabhängigen Nationalstaats als Ziel erläuterte: »Wenn ich in einem schuldig bin, dann ist das die Tatsache, dass ich eine Kultur von Macht und Krieg akzeptiert habe. Ich bin darin verstrickt, weil ich geradezu religiös davon überzeugt war, dass wir einen Staat bräuchten, um frei zu sein, und daher dafür einen Krieg führen müssten. Nur wenige, die für Freiheit und die Unterdrückten kämpfen, können sich von dieser Krankheit freisprechen. So wurde ich nicht nur schuldig in den Augen des herrschenden Systems, sondern auch in Bezug auf den Kampf für Freiheit, für den ich alles gegeben habe.«

Übersetzung aus dem Englischen aus: https://roarmag.org/essays/self-determination-kurdistan-catalonia-thomas-jeffrey-miley/


 

Fußnoten:

1 Die Proteste in Spanien 2011/2012 waren spontane, parteiferne Demonstrationen, die soziale, wirtschaftliche und politische Missstände kritisierten.
Spanische Medien bezeichnen sie auch als Movimiento 15-M (»Bewegung 15. Mai«) oder Indignados (»Empörte«), einige internationale Medien auch als »spanische Revolution«. Sie organisierten sich zu großen Teilen in sozialen Netzwerken; sie standen in engem Zusammenhang mit der politischen Bewegung ¡Democracia Real Ya! (»Echte Demokratie Jetzt!«) und gelten als Ursprung der linksalternativen Partei Podemos, die 2014 entstand.

2 Damaliger spanischer Ministerpräsident.


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018