Ein Gespräch in der Frauenkooperative »Vîna Jinê« in Kobanê
»Alles ist ersetzbar, nur das Leben nicht!«
Andrea Benario, Kobanê
Vor drei Jahren lag Kobanê vollständig zerstört in Trümmern. Doch mit der Nachricht von der Befreiung der Stadt am 26. Januar 2015 kehrten umgehend tausende Menschen trotz der schweren Winterbedingungen in ihre Stadt zurück. Viele berichten, dass sie beim Grenzübertritt niederknieten und die Erde Kobanês küssten. Wie Kobanê weltweit zum Symbol der internationalen Solidarität und der Kraft des gemeinsamen Widerstands gegen den Faschismus wurde, so hat die Stadt auch für die Menschen aus Kobanê eine neue Bedeutung gewonnen: Auf jedem Quadratmeter der Stadt hatte ein erbitterter Widerstand stattgefunden; Meter für Meter, Haus für Haus, Straße für Straße hatten die KämpferInnen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ und der Volksverteidigungseinheiten YPG die Umzingelung der letzten Straßenzüge durch die Mörderbanden des Islamischen Staates IS durchbrochen und die Stadt zurückerkämpft. Heute hat jede Straße ihre eigene Geschichte, die vom Mut und der Entschlossenheit der KämpferInnen erzählt, die mit einem Lachen im Gesicht und Hoffnung im Herzen ihr Leben für die Freiheit opferten.
Obwohl in den Tagen der Befreiung Kobanês viele staatliche und nichtstaatliche Organisationen versprachen, beim Wiederaufbau der Stadt mitzuhelfen, stellten sich die meisten Versprechungen als leere Worte heraus. Abgesehen von einigen wenigen Projekten wie beispielsweise dem Mutter-Kind-Krankenhaus, das im Rahmen einer internationalen Solidaritätskampagne errichtet wurde, hat die Bevölkerung von Kobanê ihre Stadt größtenteils aus eigener Kraft und im Verband mit den anderen Kantonen der demokratischen Autonomieverwaltung von Rojava bewerkstelligt. Auch wenn es immer noch Familien gibt, die obdachlos in Zelten leben oder bei Verwandten und Bekannten untergebracht sind, so hat sich die Lebenssituation für die Menschen in der Stadt in den letzten drei Jahren in vielen Bereichen verbessert und grundlegend verändert.
Vor allem für Frauen unterscheidet sich das Leben in Kobanê vor der Revolution und nach der Befreiung »wie Tag und Nacht«, um mit den Worten einer 50-jährigen Frau aus dem Stadtteil Kaniya Kurdan zu sprechen. Während der Einfluss der feudalen Stammesstrukturen und einiger religiöser Gelehrter der Nakschibendi-Sekte in Wechselwirkung mit der Unterdrückungspolitik des Baath-Regimes früher Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt hatte, sind Frauen heute überall präsent. Die mutige Rolle, die die Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ im erfolgreichen Widerstand gegen die faschistischen, frauenverachtenden IS-Banden spielten, hat weitreichende soziale Veränderungen bewirkt. Sie gab Frauen die Kraft und das Selbstbewusstsein, auch beim Neuaufbau eine führende Rolle zu spielen. Für Frauen jeden Alters wurden die Kämpferinnen der YPJ zu einem Bezugspunkt für ihren eigenen Freiheitskampf im Alltag. Viele Frauen kehrten allein mit ihren Kindern nach Kobanê zurück. Hiermit übernahmen sie zugleich Verantwortung für den Neuaufbau ihrer Stadt, für die Etablierung basisdemokratischer politischer und sozialer Selbstverwaltungsstrukturen, für den Aufbau von Schulen und Krankenhäusern, für die Sicherheit und Verteidigung gegen weitere mögliche Angriffe. Zugleich bauten sie ihre zerbombten Häuser wieder auf und kümmerten sich um die Versorgung ihrer Kinder und Familien. Während es früher »undenkbar« bzw. »unerhört« gewesen wäre, dass Frauen – außer in der landwirtschaftlichen Produktion oder als Lehrerinnen – außerhalb des eigenen Hauses arbeiten, sind Frauen heute in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und in vielen Arbeitsbereichen aktiv und spielen eine leitende Rolle. Beispielsweise sind über 90 % der LehrerInnen und MitarbeiterInnen im Bildungsbereich Frauen. Zugleich haben Frauen damit begonnen, ihre eigenen ökonomischen Strukturen und Solidaritätsnetzwerke aufzubauen.
Die Frauenkooperative »Vîna Jinê« (Wille der Frau), deren Aufbau durch die Frauenkommission der demokratischen Autonomieregierung des Kantons Kobanê initiiert wurde, ist ein Beispiel hierfür. Die stellvertretende Sprecherin der Frauenkommission des Kantons Kobanê, Necme Mazlumi, erläutert: »Der Widerstand der YPJ hat die Frauen von Kobanê weltweit bekannt gemacht. Aber die Frauen haben sich nicht nur im bewaffneten Widerstand gegen den IS behauptet. Auch im Bereich der Politik und der Wirtschaft akzeptieren Frauen die Unterdrückung nicht mehr, sie haben Neues erkämpft und aufgebaut. Wir betteln keinen Mann mehr um Geld an, auf das Niveau lassen wir uns nicht mehr herab.«
In den Räumlichkeiten der neu gegründeten Lebensmittelkooperative »Vîna Jinê« berichten Necme Mazlumi und die fünf ständigen Mitarbeiterinnen der Kooperative von ihrer Motivation und Arbeit:
Feride Mihammed sei 60 Jahre alt, wie sie mit einem Schmunzeln im Gesicht sagt. Das Alter hat sie geschätzt, denn als sie geboren wurde, ließen die meisten Eltern ihre Kinder nicht registrieren. Sie lebt mit ihrem Ehemann allein. »Unsere Familie ist in alle Richtungen zerstreut. Ich und mein Ehemann sind jetzt allein. Wir sind beide schon alt und haben niemanden, der uns unterstützen kann. Weil wir arm sind und mein Mann nicht arbeiten kann, brauchte ich eine Arbeit. Deshalb beteilige ich mich an den Arbeiten der Kooperative. Anstatt den Schmerz des Lebens in der Fremde zu erleiden, ist es besser hier zu sein und von der Arbeit meiner eigenen Hände zu leben. Es gibt mir Ruhe und Zufriedenheit, wenn ich hierherkomme und gemeinsam mit den Frauen arbeite.«
Dayika Emine ist laut eigener Schätzung um die 50 Jahre alt. Ihr 23-jähriger Sohn und ihr Ehemann wurden bei dem Massaker ermordet, das der IS nach der Befreiung der Stadt am 25. Juni 2015 in Kobanê anrichtete. Während des Krieges wurde ihr Haus bei den Luftangriffen der Koalition völlig zerstört. Bis heute hat sie noch keine eigene Wohnung. Über die Tage der Belagerung und ihre heutige Situation sagt sie: »Alle haben geglaubt, dass sie sterben werden, und sind in die Türkei geflohen. Aber ich, mein Sohn und seine Kinder sind in Kobanê geblieben. Zum Schluss war die ganze Stadt leer, aber wir sind geblieben. In den schwarzen, dunklen Nächte gab es keinen Strom. Wir haben draußen gesessen und auf einem kleinen Feuer Tee gekocht, bis morgens aus den Lautsprechern der Moschee [auf der anderen Seite der Grenze] in der Türkei die Rufe zum Morgengebet ertönten. Dann haben wir unser Morgengebet gemacht und uns danach schlafen gelegt. Damals gab es viele Schwierigkeiten, aber diese Zeit ist jetzt zum Glück vorbei. Wir finden uns zurecht. Unsere Häuser wurden vom IS oder bei den Luftangriffen zerbombt und konnten noch nicht wieder aufgebaut werden. So wie wir haben dreiviertel der Menschen in Kobanê kein [eigenes heiles] Haus mehr. Aber mit unserer Arbeit werden wir uns auch das wieder aufbauen. Das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir unser Leben verteidigen. Das Leben und die Seele eines Menschen sind unersetzlich. Die lassen sich nicht wieder zurückholen.«
Fatma Haci Şêx schätzt ihr Alter auf 40 Jahre. Vor dem Krieg lebte sie auf dem Land. Als die Dörfer um Kobanê zum Schutz vor den vorrückenden Truppen des IS evakuiert wurden, floh sie mit ihrer Familie zuerst ins Stadtzentrum, später über die Grenze in den Norden. Mit der Befreiung Kobanês kehrte sie allein mit ihren kleinen Kindern zurück, der Vater der Kinder blieb in der Türkei. Nun lebt sie mit ihrer 5-jährigen Tochter und ihren jüngsten Söhnen, die 9 und 11 Jahre alt sind, in der Stadt. Sie sei für die Arbeit in die Stadt gekommen, sagt sie. Auch ihre beiden kleinen Söhne arbeiten und tragen zum Unterhalt der Familie bei. Da ansonsten niemand bei ihr zu Hause ist, bringt sie ihre Tochter mit zur Arbeit bei Vîna Jinê. Stolz sagt sie: »Ich arbeite, damit ich nicht mehr auf Männer angewiesen bin. Frauen sollten sich nicht mehr in die Abhängigkeit von Männern begeben. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden. Die Arbeit hier ist schön, wir unterstützen uns gegenseitig. Vor dem Krieg mussten wir von dem Geld leben, das uns Verwandte geschickt haben, die im Ausland arbeiteten. Aber das war wenig und hat nie gereicht. Jetzt kann ich hier selber arbeiten und für meine Kinder sorgen.«
Şirîn Haci ist 20 Jahre alt. Sie erfuhr zwei Monate nach der Gründung von Vîna Jinê von diesem Projekt und wollte sich daran beteiligen. Vor dem Krieg studierte sie in Aleppo, nun kümmert sie sich um die Buchhaltung und Finanzen der Kooperative. Über ihre Arbeit sagt Şirîn mit einem Strahlen im Gesicht: »Die Arbeit hier macht mir Spaß. Wir sind alle Frauen und wie Mütter zueinander. Wir verstehen uns gut, gehen respekt- und liebevoll miteinander um. Außerdem haben wir einen guten Kontakt zu den Menschen aus der Nachbarschaft. Sie geben uns Ratschläge und teilen uns ihre Wünsche mit. Wir versuchen, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.«
Medya Hessan ist mit 19 Jahren die Jüngste im Team. Sie hatte früher nicht die Möglichkeit gehabt, eine Schule zu besuchen. Aufgrund der konservativen Moralvorstellungen ihres Familienumfeldes musste sie als unverheiratete Frau immer zu Hause bleiben und die Hausarbeit verrichten. Bezüglich ihrer Motivation, bei Vîna Jinê zu arbeiten, sagt sie: »Ich wollte endlich mal rauskommen und etwas tun! Ich war von Anfang an bei allen Arbeiten der Kooperative dabei; wir haben gemeinsam gearbeitet, gesungen und unseren Tee getrunken. Jetzt verkaufen wir unsere eigenen Produkte.«
Wie ist die wirtschaftliche Situation von Frauen in Kobanê heute? Welche Schwierigkeiten gibt es?
Dayika Emine: Die ganze Stadt war zerstört, natürlich gibt es da Schwierigkeiten. Die Frauen hier sagen: »Egal, was passiert, es soll keine Toten mehr geben!« Aber das Wichtige ist, am Leben zu sein. Wenn das Leben vorbei ist, ist alles vorbei. Das ist die einzige Schwierigkeit, die Frauen haben können. Ansonsten ist alles ersetzbar. Egal, ob das Haus oder Dinge zerstört werden, das lässt sich alles wieder reparieren und aufbauen. Aber wenn die Seele nicht mehr lebendig ist, dann hat alles keine Bedeutung mehr.
Fatma Haci Şêx: Frauen, die alleine ohne Mann leben, haben die größten ökonomischen Schwierigkeiten.
Dayika Emine: Was macht es aus, wenn eine Frau ohne Mann lebt? Dann geht sie eben arbeiten. So wie diese Frau und ihre Tochter hier. Wir schaffen es schon, uns selbst zu versorgen. Zum Glück gibt es jetzt Arbeitsmöglichkeiten für Frauen wie diese.
Wie entstand die Idee, die Frauenkooperative Vîna Jinê zu gründen?
Necme Mazlumi: Nach dem schweren Krieg und der vollständigen Zerstörung von Kobanê durch die IS-Banden sowie der Befreiung von Kobanê durch YPJ und YPG kehrte die geflohene Bevölkerung schnell zurück. Viele Frauen benötigten ein eigenes Einkommen. Frauen, die zur Schule gegangen waren, die lesen und schreiben konnten, hatten es nicht so schwer, eine Arbeit in den neu gegründeten gesellschaftlichen Einrichtungen oder als Lehrerinnen an den Schulen zu finden. Aber viele Frauen, die dringend ein Einkommen benötigten, sind Analphabetinnen.
So bauten wir zunächst kurz nach der Befreiung von Kobanê eine Schneiderei-Kooperative unter dem Namen »Vîna Jinê« auf. Denn die Menschen benötigten Kleider und die Frauen benötigten bezahlte Arbeit, von der sie leben konnten. Diese erste Frauenkooperative in Kobanê war sehr erfolgreich und zeigte uns, dass es möglich ist, als Frauen eigene ökonomische Projekte zu initiieren und zu organisieren. Derzeit arbeiten acht Frauen in der Schneiderei und stellen Kleidung für Kinder und Erwachsene her.
Auch in der Folgezeit wandten sich viele Frauen wegen ökonomischer Schwierigkeiten an uns. Die gegenwärtige wirtschaftliche Lage von Frauen in Kobanê ist ziemlich schwach. Insgesamt gibt es einen Mangel an bezahlter Arbeit. Doch insbesondere für ältere Frauen gibt es kaum Einkommensmöglichkeiten. Infolge des Krieges oder der Migration ihrer Ehemänner und erwachsenen Söhne sind viele alte Frauen auf sich alleine gestellt. Vor allem für Frauen, deren Angehörige durch den Krieg und beim Massaker durch den IS in Kobanê gestorben sind, ist die Situation sehr schwer. Außerdem gibt es Frauen, die sich selbst und ihre Familie versorgen müssen, weil ihre Angehörigen krank oder kriegsverletzt sind.
Wir diskutierten mit den Frauen, die sich an uns gewendet haben, was sie machen wollen und was benötigt wird. So entstand die Idee, unter dem Namen Vîna Jinê eine weitere Frauenkooperative ins Leben zu rufen – diesmal als eine Art Lebensmittelkooperative. Traditionell wird auf die Zubereitung von Wintervorräten wie getrocknetes oder eingelegtes Gemüse, Kräuter und Oliven in Kobanê viel Wert gelegt. Alle Frauen können das und haben diese Arbeit über Jahre hinweg bei sich zu Hause für ihre Familien gemacht. Die Speisen, die aus den getrockneten oder eingelegten Gemüsesorten zubereitet werden, sind sehr lecker und sorgen dafür, dass die Menschen auch im Winter eine vitaminhaltige und gesunde Ernährung haben. Doch nehmen diese Wintervorbereitungen sehr viel Zeit in Anspruch. Deshalb finden beispielsweise Frauen, die heute im Bildungsbereich, an den Akademien oder in anderen gesellschaftlichen Einrichtungen arbeiten, häufig nicht die Zeit, neben ihrer beruflichen Arbeit auch noch die traditionellen Wintervorbereitungen für ihre Familien zu machen. Mit der Lebensmittelkooperative haben wir sowohl Arbeitsmöglichkeiten für Frauen geschaffen, die dringend ein ökonomisches Einkommen benötigen, als auch berufstätigen Frauen und ihren Familien die Möglichkeit gegeben, in den Genuss der traditionellen Winterspeisen zu kommen. Denn sie können nun die dafür notwendigen Zutaten als fertige, aber handgemachte Produkte der Frauen aus Kobanê kaufen. Eine solche Möglichkeit gab es vorher nicht.
Wie habt Ihr dieses Vorhaben realisiert?
Necme Mazlumi: Gemeinsam mit Frauen aus den Kommunen haben wir Frauen bestimmt, die sich in der schwierigsten Situation befanden: Frauen, die allein für die Versorgung ihrer Familie verantwortlich sind; alleinstehende Frauen oder Frauen aus sehr armen Familien. Diese Frauen haben wir dann gefragt, ob sie an einem solchen Projekt mitarbeiten möchten. Wir haben Frauen aus allen Altersgruppen angesprochen: Jugendliche, Erwachsene und Alte. Diejenigen, die wir angesprochen haben, haben sich sehr gefreut. Nachdem die ersten Frauen eingewilligt hatten, haben wir mit den praktischen Arbeiten begonnen. Wir haben die Arbeiten und Aufgaben gemeinsam diskutiert und zunächst eine Übereinkunft für drei Monate getroffen: Unabhängig vom Einkommen der Kooperative haben wir beschlossen, dass die vollzeitlichen Mitarbeiterinnen einen festen Lohn bekommen, damit sie ihre Lebensbedürfnisse sichern können. Die Frauenkommission ist dafür verantwortlich, die Materialien zu besorgen und die Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Danach werden die Frauen, die hier arbeiten, die Leitung und Verwaltung der Kooperative übernehmen.
Im Anschluss an unsere Vereinbarungen mieteten wir dieses Gebäude an, in dem wir zwei Monate lang mit vielen Frauen gemeinsam die Produktion der Wintervorräte durchgeführt haben und das wir jetzt auch als Verkaufsräume benutzen. Außerdem hat sich die Frauenkommission darum gekümmert, die notwendigen Geräte und Zutaten zu besorgen. Nach der zweimonatigen Vorbereitung haben wir am 11. Oktober 2017 die Bevölkerung aus der Nachbarschaft zur Eröffnungsfeier eingeladen und unsere Produkte vorgestellt. Die Dinge, die wir hier verkaufen, sind alle selbst in Handarbeit von den Frauen der Kooperative hergestellt worden. Wir verkaufen keine Erzeugnisse aus irgendwelchen Fabriken. Das hat so großen Anklang gefunden, dass unsere Erzeugnisse, die wir zwei Monate lang hergestellt hatten, innerhalb von drei Tagen so gut wie ausverkauft waren. Frauen, die selbst keine Zeit und Möglichkeit haben, ihre Wintervorräte herzustellen, freuen sich, dass sie nun trotzdem die traditionellen regionalen Wintergerichte zubereiten können. Mit dem Aufbau von Vîna Jinê geht es uns nicht vorrangig um ökonomischen Gewinn. Vielmehr ist es unser Ziel, Frauen dabei zu unterstützen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und ihre Arbeit wertzuschätzen.
Was für Arbeiten habt Ihr bislang hier in der Kooperative gemacht?
Dayika Emine [lachend]: Wir haben tausende Arbeiten gemacht und jetzt ist alles weg, verkauft worden ... Wir haben Miloxî [eine Kräuterart, die ähnlich wie Spinat zubereitet wird], Auberginen, Peperoni und Tomaten getrocknet. Auberginen und Zucchini, die mit Reis gefüllt und gekocht werden können, haben wir ausgehöhlt und zum Trocknen auf lange Fäden gezogen und aufgehängt. Des Weiteren haben wir Granatapfelessig, Tomatenmark und Paprikapaste hergestellt. Auberginen haben wir mit einer Füllung aus Walnüssen und Knoblauch zu Maktus verarbeitet, was hier traditionell zum Frühstück gegessen wird. Wir haben Gurken, Wein- und Weißkohlblätter sauer eingelegt. Jogurt haben wir zu Lebnî, einer Art Frischkäse, verarbeitet. Wir haben alle diese Arbeiten mit Freude gemacht und sie sind uns gut gelungen.
Necme Mazlumi: Die Diskussionen und Arbeiten haben bislang alle in einem Geist der Freundschaft und Solidarität stattgefunden. Es erfüllt uns mit Stolz und Freude zu sehen, wie eine Gruppe von Frauen ganz eigenständig – ohne die Einmischung von Männern – ihre Arbeiten gemeinsam leitet, organisiert und durchführt. Die Freude und das Engagement der Frauen bei der Arbeit geben uns allen Moral und Kraft.
Gibt es manchmal unterschiedliche Meinungen oder Rezepte für die Zubereitung bestimmter Produkte? Wenn ja, wie entscheidet Ihr dann?
Dayika Emine: Nein, wir machen das alle auf die gleiche Weise und arbeiten gut zusammen. Wir verstehen manchmal gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Ehe wir uns versehen, sind die fünf Stunden vergangen, die wir als tägliche Arbeitszeit vereinbart haben. Wir kommen um 9 und gehen um 14 Uhr.
Kanntet Ihr Euch früher, bevor Ihr mit dieser Arbeit begonnen habt?
Dayika Emine: Nein. Jede von uns hat in einer anderen Gegend gewohnt. Wie hätten wir uns da kennenlernen sollen? Früher konnten Frauen das Haus nicht verlassen. Wir haben einander hier bei der Arbeit kennengelernt und verstehen uns alle gut.
Medya Hessan: Wir haben uns über die Arbeit kennengelernt, aber wir sind Freundinnen geworden; wir kennen und teilen unsere Schmerzen. Wir gehen gemeinsam zu Veranstaltungen und zu den Beerdigungszeremonien für die Gefallenen. Wenn eine von uns etwas Dringendes zu erledigen hat, dann spricht sie das mit den anderen ab und kommt an dem Tag nicht zur Arbeit oder später. Wir sind sehr verständnisvoll füreinander und ergänzen einander. Wenn eine krank ist, dann übernehmen die anderen ihre Arbeit, erkundigen sich nach ihr und besuchen sie zu Hause.
Gibt es noch Leute, die sagen »es gehört sich nicht für Frauen, außerhalb ihres Hauses zu arbeiten«?
Dayika Emine: Seit wir mit der Arbeit hier begonnen haben, hat uns niemand so etwas ins Gesicht gesagt. Ob es welche gibt, die hinter unserem Rücken so sprechen, weiß ich nicht und es interessiert mich auch nicht! Sollen sie doch schwätzen, wie sie wollen. Wir wissen, dass wir nichts Unanständiges tun, das reicht.
Was sagt Dein Ehemann dazu, dass Du hierherkommst, um zu arbeiten?
Feride Mihammed: Mein Mann ist sehr alt und krank. Er kann nicht mehr arbeiten. Er ist auf mich und meine Arbeit angewiesen.
Sind die Menschen, die bei Euch einkaufen, mit Euren Erzeugnissen zufrieden?
Şirîn Haci: Die Menschen aus Kobanê, die hier bei uns einkaufen, mögen unsere Produkte. Wenn sie etwas ausprobiert haben, kommen viele wieder und kaufen erneut bei uns ein, weil es ihnen geschmeckt hat. Sie sind mit der Qualität und dem Preis zufrieden. Manchmal meinen welche, dass unsere Waren teuer seien. Dann erklären wir ihnen genau, welche Ausgaben wir bei der Herstellung hatten und wie der Preis zustande kommt. Daraufhin zeigen sie Verständnis.
Schließt Ihr mit anderen Kooperativen, BäuerInnen oder HändlerInnen, bei denen Ihr einkauft, besondere Verträge ab?
Şirîn Haci: Bislang haben wir das noch nicht gemacht. Da wir dieses Jahr etwas spät mit den Arbeiten angefangen haben, hatten wir nicht die Möglichkeit, selbst auf die Dörfer zu fahren und mit den BäuerInnen und Kooperativen dort Absprachen zu machen. Deshalb mussten wir dieses Jahr unsere Einkäufe auf den Märkten in der Stadt machen, was ziemlich teuer und schwierig war. Aber wenn wir im nächsten Jahr selbst einige Dinge anbauen und uns direkt mit den Menschen in den Dörfern verständigen, dann können wir ein noch besseres Ergebnis erzielen.
Wie organisiert Ihr die Lohnzahlung für die Mitarbeiterinnen?
Necme Mazlumi: Monatlich bekommen alle Mitarbeiterinnen ihre Lohnzahlung. Die Höhe des Lohnes haben wir zuvor gemeinsam mit allen Mitarbeiterinnen diskutiert. Wir haben vereinbart, dass in der Anfangsphase alle einen Lohn von 25.000 SYL monatlich ausgezahlt bekommen. Das ist nicht viel, aber das liegt im Rahmen der Möglichkeiten, die wir in den ersten drei Monaten seit Bestehen der Kooperative haben. Zugleich sichert dieses Einkommen die existentiellen Bedürfnisse der Frauen. Das erste Jahr betrachten wir als eine Phase des Sammelns von Erfahrungen. Wir werden dann bewerten, was dabei herausgekommen ist: Was klappt gut? Was funktioniert nicht?
Dafür, dass wir erst neu angefangen haben, läuft es sehr gut. Momentan arbeiten fünf Frauen Vollzeit bei Vîna Jinê. Andere Frauen helfen saisonabhängig bei bestimmten Arbeiten mit, wenn es viel zu tun gibt. Im Herbst haben viele Frauen beim Trocken und Einlegen des Gemüses und der Zubereitung der Wintervorräte mitgearbeitet. Bis die Olivenernte beginnt, gibt es momentan nicht viel zu tun. Da reichen fünf Frauen aus, die sich um den Verkauf und die Organisation der Arbeiten kümmern. Aber es kann sein, dass im kommenden Jahr nach der Winterzeit zehn oder sogar zwanzig Frauen ständig mitarbeiten werden. Denn die Nachfrage und das Interesse sind sehr groß. Das zeigt uns, dass wir ein Bedürfnis richtig erkannt haben und wir unsere Produktion noch weiter ausbauen können.
Wenn wir uns allein den ökonomischen Aspekt ansehen, dann haben wir in diesem Jahr insgesamt mehr Ausgaben als Einkünfte gehabt. Denn wir mussten die gesamte Ausstattung, die Miete, die Löhne und den Einkauf der Rohprodukte erst einmal vorfinanzieren. Dabei hat uns die Autonomieregierung des Kantons Kobanê unterstützt. Aber wenn die Arbeiten richtig laufen, dann werden wir das Geld nach und nach wieder zurückbezahlen. Das Wichtigste war für uns, einen Anfang zu machen, den Willen der Frauen zu stärken und eine Möglichkeit zu schaffen, dass sie von der Arbeit ihrer Hände leben können. Nun können wir die Produktion ausweiten und für mehr Frauen die Möglichkeit schaffen, mit Selbstrespekt und Freude für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.
Hättet Ihr Euch vor der Revolution vorstellen können, dass Ihr eines Tages mit anderen Frauen und Müttern zusammen außerhalb des Hauses arbeiten und Euren Lebensunterhalt verdienen werdet?
Dayika Emine: Nein, wie hätte uns so etwas in den Sinn kommen können?
Feride Mihammed: Wir haben geglaubt, dass wir sterben werden, aber wir haben nicht geglaubt, dass wir eines Tages eigenständig in einer Frauenkooperative arbeiten werden.
Dayika Emine: Unter Beşar [Assad] hatten wir weder ein Einkommen noch Sicherheit. Jetzt werden wir so lange arbeiten, wie wir können. Danach müsst Ihr Euch um uns kümmern und uns eine Rente bezahlen!
Was sind Eure Pläne für die Zukunft?
Dayika Emine: Im Winter können wir Handarbeiten machen – weben, stricken, spinnen, nähen ... Das können wir alle. Aber dafür sind Materialien notwendig, die Geld kosten. Deshalb ist das momentan nicht möglich. Denn unsere Arbeit muss sich ja auch lohnen. Es gibt außer uns noch viele Frauen, die auch gerne arbeiten wollen. Aber dafür müssen wir noch die Bedingungen schaffen.
Necme Mazlumi: Wir haben erkannt, dass es notwendig ist, diese Kooperative noch zu erweitern und zu vergrößern, damit sich noch mehr Frauen daran beteiligen und davon profitieren können. Denn es gibt im Kanton Kobanê noch viel mehr Frauen, die dringend ein eigenständiges Einkommen benötigen. Viele von denen haben wir vielleicht bisher noch nicht erreicht.
Dieses Jahr haben wir erste Erfahrungen gesammelt, die für uns sehr wichtig und interessant waren. So können wir jetzt damit beginnen, die Produktionsbedingungen für das kommende Jahr zu organisieren. Zum Beispiel gibt es Frauen auf den Dörfern, mit denen wir Kontakt aufgenommen haben bzw. die sich an uns gewandt haben. Sie wollen den Gemüseanbau für uns machen. Wir koordinieren uns mit ihnen, so dass wir dann zur Erntezeit auf die Dörfer fahren und direkt – ohne Zwischenhändler – bei ihnen unseren Einkauf machen können. Das bringt sowohl uns Vorteile als auch den Frauen auf den Dörfern. Das haben wir aus den Erfahrungen dieses ersten Jahres gelernt. Momentan nutzen wir diese Räume sowohl als Produktionsstätte als auch als Verkaufsräume. Aber im kommenden Jahr wollen wir diese Räume, die nicht sehr zentral gelegen sind, nur noch als Produktionsstätte benutzen und in der Innenstadt einen Laden für den Verkauf eröffnen. Dann erfahren noch mehr Menschen von unseren Produkten und wir können noch mehr verkaufen. Damit können wir dann zugleich neue Arbeitsmöglichkeiten für mehr Frauen schaffen und neue Projekte starten.
Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018