Abdullah Öcalan ist aus der marxistischen Bewegung hervorgetreten ...

Die Schule Öcalans

David Graeber

Der Marxismus hat eine eigene Vorstellung von einer alternativen und intellektuellen Welt, mit seinen eigenen komplexen Debatten und Terminologien, mit nur wenigen Berührungspunkten mit dem akademischen Betrieb. Abdullah Öcalan ist aus der marxistischen Bewegung hervorgetreten, über sie hinausgewachsen und hat den Marxismus schließlich fast komplett hinter sich gelassen.

Heutzutage wird davon ausgegangen, dass nahezu alle signifikanten intellektuellen Arbeiten innerhalb von Universitäten entstehen, obwohl die Universitäten sich selbst verstärkt zu Institutionen transformieren, die nicht primär in Berührung mit der Wissenschaft stehen. Von Wissenschaftlern wiederum wird nicht erwartet, dass sie sich wirklich politisch engagieren. Eigentlich bleibt dieser Aspekt ziemlich undefiniert. Die meisten wissenschaftlichen Forschungsbereiche – außer den exakten Wissenschaften – können grob in zwei Bereiche unterteilt werden.

Der erste kann als »Machtdisziplin« bezeichnet werden. Dieser Bereich umfasst die wirtschaftlichen oder internationalen Beziehungen, die im Grunde genommen trainiert werden, um als Teil der nationalen oder globalen Bürokratie mitwirken zu können (wie z. B. in Ministerien, politischen Think Tanks, Banken oder anderen multinationalen Kooperationen, aber auch in Organisationen wie den UN oder dem IWF), sodass die dort bestehenden Machtstrukturen unterstützt werden.

Der zweite wissenschaftliche Forschungsbereich umfasst kritische Disziplinen, die von der Literaturtheorie über die Geschlechterforschung bis hin zur Anthropologie reichen.

Diejenigen, die den kritischen Disziplinen angehören, definieren sich nahezu immer als Linke und für gewöhnlich auch als Radikale, die sich den Machtverhältnissen widersetzen.

Je mehr sie dies tun, desto mehr neigen sie paradoxerweise dazu, echtes politisches Engagement jeglicher Art als verdächtig zu betrachten. Das führt dazu, dass eine endlose Verdichtung von Angst und Schuld stattfindet. Ausdruck findet diese Art von Einstellung u. a. in der Ablehnung der Möglichkeit, dass irgendjemand, der in der Lage war, irgendeine effektive politische Aktion in der Welt durchzuführen, gleichzeitig auch einen wichtigen Beitrag für die Grundstruktur menschlicher Denkweise leisten könnte. Die Ideen solcher Menschen könnten zwar zum Gegenstand einer Analyse gemacht werden; sie können aber keinesfalls als gleichwertig für die Entwicklung von Ideen betrachtet werden.

In Anbetracht dieser Beobachtungen ist es nicht verwunderlich, dass zeitgenössische Intellektuelle nicht wissen, was sie mit den Ideen von Abdullah Öcalan anfangen sollen.

Auf den ersten Blick scheint Öcalan keine völlig unbekannte Personl zu sein, da er zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner intellektuellen Karriere der Anführer einer marxistischen Partei war. Der Marxismus ist vielleicht die einzige soziale Bewegung, die von einem Doktor der Philosophie begründet wurde. Darüber hinaus war der Marxismus immer stark theoriegeleitet, da er sich intern immer rund um seine großen Denker organisiert hat. Unter den Staatsoberhäuptern oder Parteichefs finden sich noch immer Leninisten, Maoisten, Trotzkisten, Stalinisten, die einen Schatten auf die rein intellektuellen Figuren werfen. Der Marxismus bildet eine Art alternative intellektuelle Welt für sich, mit eigenen komplexen Debatten und Terminologien, die sich nur punktuell mit der Akademie kreuzen.

Öcalan ist aus dem Einfluss dieser intellektuellen Welt hervorgetreten, hat sie überschritten – sich gar von ihr emanzipiert – und sie schließlich vollständig hinter sich gelassen. Dabei hat er viele wesentliche Bestandteile der marxistischen Doktrin verworfen. Darüber hinaus hat er auch eigene Werke über diese Theorie verfasst, die sich jeglichem Versuch widersetzen, sie zu einer Doktrin irgendwelcher Art zu verwandeln. Viele seiner Kerngedanken bestehen aus Ideen, Zusammenbrüchen, Eingeständnissen und Geschichten, die sich dagegen wehren, in irgendeiner biblischen oder unfehlbaren Form gelesen zu werden. Andere seiner Werke sind zugegebenermaßen systematischer.

Die Spannung, welche hierdurch geschaffen wird, macht ihn zu einer eher ambivalenten Figur. In der kurdischen Bewegung, die ihn als Anführer betrachtet, nimmt er die Rolle des lebendigen Märtyrers ein. In einer politischen Welt, in der tote Helden im politischen Kontext abgebildet werden, steht er als der alte lebende Führer, als langjähriger Gefangener seiner Feinde, dazwischen.

Er ist also auch die Art von intellektuellem Führer, der seinen Anhängern rät, alle Gewissheiten zu hinterfragen, die von intellektuellen Führern einschließlich seiner selbst an die Gesellschaft herangetragen werden. Eine Person in seiner Rolle würde normalerweise das Gegenteil von seinen Anhängern erwarten. Er ist eine Art von Patriarch, der dazu auffordert, den Mann in sich zu töten. Die Art von ultimativer Autoritätsperson, die die Jugend dazu ermutigt, jeden Menschen in Frage zu stellen, der behauptet, besser zu sein als jemand anderes oder sie selbst.

In dem Prozess seiner politischen Rolle hat Öcalan ein ­theoretisches Fundament hervorgebracht, in dem politische und akademische Denker wie Bookchin, Foucault, Wallerstein oder Federici herangezogen und miteinander verbunden wurden. Dadurch sind seine theoretischen Werke keiner offensichtlichen intellektuellen Kategorie zuzuordnen. In gewissem Maße hat er ein beispielloses theoretisches Fundament erschaffen. Seine gesammelten Werke sind gewissermaßen beispiellos: Sie reichen von Reflexionen der Idee einer auf Quantenmechanik basierenden Soziologie, über Konzepte der Mechaniken direkter Demokratie bis hin zu einer vielseitigen und mehrbändigen Weltgeschichte mit dem Fokus auf den Nahen/Mittleren Osten.

Die Bandbreite und Differenziertheit seiner Werke sind besonders außergewöhnlich. Fast all seine Werke sind im Gefängnis verfasst worden. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass er keinen Zugang zum Internet hatte und nur drei Bücher für die Quellenforschung verwendet werden konnten, sofern seine Gefängniswärter seinen Anwälten erlaubten, ihm diese Materialien zu übermitteln. Rein technisch betrachtet waren all seine Werke eigene Erzeugnisse, da er sich aufgrund seines Prozesses wegen Vaterlandsverrats unter gesonderten Umständen in Haft befindet.

Nicht nur, dass die intellektuelle Welt, welche zu diesem Punkt fast vollständig von den oben genannten universitären Diskursen vereinnahmt ist, sich als unfähig erwiesen hat, irgendeine seiner theoretischen Erkenntnisse oder Argumente gedanklich aufzunehmen. Sie war auch kaum daran interessiert, Öcalan als Gesprächspartner zu behandeln und seine Ideen zur Analyse von Konflikten außerhalb der extrem spezialisierten Teildisziplinen kurdischer oder türkischer Studien zu betrachten – trotz ihrer offensichtlichen Auswirkung auf das Weltgeschehen.

Eine interessante Frage ist auch, wie viel Zeit noch vergehen und was noch geschehen muss, damit die Intellektuellen der Welt die Ideen von Öcalan gleichermaßen zur Kenntnis nehmen wie die von Walter Benjamin, George Bataille, Simone de Beauvoir, Frantz Fanon – um einige politisch engagierte Gelehrte zu nennen, die weder Parteiführer noch Akademiker waren – oder auch ein Comedian wie Slavoj Zizek.

Die Qualität seiner Ideen hat definitiv nichts damit zu tun, ob sie von der intellektuellen Welt goutiert werden. Das intellektuelle Leben wurde größtenteils an den akademischen Betrieb gekoppelt. Akademiker werden gelehrt, instinktiv Angst vor Ideen zu haben, die etwas in der Welt bewirken können – und sind daher oberflächlich und herablassend. Vielleicht werden wir irgendwann an einem Punkt angelangen, an dem das unvermeidbar sein wird.

Quelle: http://freeocalan.org/#/news/english/david-graeber-ocalan-and-the-academy


 Kurdistan Report 197 | Mai/Juni 2018