Das Wissen darüber, dass es Alternativen zu patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft gegeben hat und gibt, eröffnet uns neue politische Handlungsoptionen ...

Auf den Spuren der Göttinnen

Andrea Benario, Juni 2018

Unzählige Keramikscherben übersäen den Boden. Sorgfältig zu Werkzeugen und Bauelementen bearbeitete Steine, uralte Lehmbaumauern zeugen von den verschiedenen Epochen des Lebens. Ich setze zögernd meine Schritte, denn ich will den Göttinnen, die hier ruhen, keinen Schmerz zufügen, ihre Werke nicht zerstören ... Beim Anblick der »Gir«-Hügel oder beim Besuch historischer Stätten in Rojava überkommen mich jedes Mal diese zwiespältigen Gefühle: Einerseits empfinde ich ein ehrfürchtiges Schaudern angesichts der großen Taten, die hier vollbracht wurden. Zugleich verspüre ich Melancholie und Trauer angesichts der Ignoranz und Plünderungen, denen diese Zeugnisse der Menschheitsgeschichte ausgesetzt waren.

Von Efrîn bis Dêrik, von Serê Kaniyê und Kobanê bis Minbic, Raqqa und Abu Kemal durchziehen die Spuren zweier Frauenrevolutionen die Landschaften von Rojava und Nordsyrien. Im Rahmen von Studien und Nachforschungen an verschiedenen Orten Nordsyriens bemüht sich die Jineolojî-Akademie darum, Fakten und Wissen über die erste Frauenrevolution zusammenzutragen und sichtbar zu machen. Denn diese Geschichte und Geschichten von Frauen, die von ausbeutungsfreien und solidarischen Gesellschaftsformen berichten, wurden und werden durch die herrschende Geschichtsschreibung weiterhin verleugnet, ignoriert oder als »unwissenschaftlich« disqualifiziert. Wir hingegen begreifen das Wissen und das Bewusstsein über die Existenz nicht staatlich-patriarchaler Lebenskulturen als eine Bereicherung unseres Vorstellungshorizonts. Um die Frauenrevolution im 21. Jahrhundert verwirklichen zu können, müssen wir als Erstes die patriarchalen, kolonialistischen Wahrheiten infrage stellen, religiöse und positivistische Dogmen durchbrechen können. Nur so können wir uns das geraubte Wissen und enteignete Werte zurückerobern, verteidigen und neues aufbauen.

Kennst du deine Geschichte, so kannst du auch die Gegenwart besser verstehen und deine Zukunft gestalten ...

Vierzehntausend Hügel, die über die Ebene von Obermesopotamien1 verteilt aus ihr herausragen, sind Zeugen und zugleich Erzeugnisse einer nahezu vierzehntausendjährigen Menschheitsgeschichte. Diese Hügel – auf Kurdisch als »Gir« oder auf Arabisch als »Til« bezeichnet – sind nicht durch geologische Vorgänge entstanden. Sie sind im Prozess des Aufbaus von Siedlungen, ihres Zerfalls und des Wiederaufbaus auf den Ruinen vorheriger Siedlungen durch menschliche Arbeit gewachsen. Til Halaf und Girê Fexêriyê bei Serê Kaniyê, Til Hemokar in der Nähe von Til Koçer, Girê Mozan (Orkêş) in der Nähe von Amûdê, Til Çuwêra in der Nähe von Mabrûka, Girê Leylan nah bei Tirbesipî, Til Birak, Til Bêder und Girê Biderî in der Umgebung von Hesekê, Girê Sor im Kanton Kobanê, Girê Endarê und Girê Cindirêsê im Kanton Efrîn sind Beispiele für Tausende von Hügeln, die Konglomerate verschiedener Epochen und Zivilisationen darstellen. Ihre Schichten zeugen von der Schaffenskraft von Frauen sowie vom Kreislauf des Aufbaus, der Zerstörung und des Neuaufbaus. Die destruktive Seite dieser Spirale wurde manchmal durch Naturgewalten wie Klimaveränderungen, Sandstürme oder Trockenheit angetrieben, zumeist jedoch durch Herrschergewalt, Eroberungsfeldzüge und koloniale Besatzungen. Diese Einwirkungen führten zum Verlassen der Siedlungen, zu Vertreibung, Flucht und Entwurzelung. Jedoch kehrten immer wieder – sei es nach Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden – Menschen an diese Orte zurück und errichteten auf den Fundamenten alter, unter Sand und Erde begrabener Siedlungsplätze neue Dörfer und Städte. So wuchsen die Hügel Schicht für Schicht in die Höhe, wobei eine jede Zivilisation dem Ort einen neuen Namen gab. Deshalb tragen heute manche Orte fünf bis sechs verschiedene Namen in verschiedenen Sprachen aus verschiedenen Epochen. Ihre ursprünglichen Namen wurden zumeist in Vergessenheit verbannt. Bis zum heutigen Tag wiederholt sich im Kontext des revolutionären Aufbaus in Rojava und der zerstörerischen Realität des 3. Weltkrieges im Mittleren Osten diese Spirale der Schaffenskraft, der Destruktion und der Wiederbelebung.

Die Angriffe und Besatzungspolitiken imperialer Mächte, des IS und der türkischen Armee, die mit dem Irak-Krieg begannen, wurden nicht nur mit militärischer Gewalt und politisch-ökonomischen Zielen geführt. Sie haben in den letzten 15 Jahren nicht nur den politischen Status quo im Mittleren Osten, sondern auch die gewachsenen Gesellschaftsstrukturen erschüttert. Diese Kriege werden zugleich als Propagandafeldzüge mit der Zielsetzung geführt, »neue Wahrheiten« zu etablieren. Auf diese Weise sollen Hegemonialansprüche legitimiert und die historisch-sozialen Gesellschaftsstrukturen zerstört werden, die die jeweiligen Machtinteressen gefährden könnten: Dieser Strategie bedienen sich die USA und Russland beim Versuch, ihre jeweilige »Neue Weltordnung« durchzusetzen, genauso wie der »Islamische Staat« oder das »Neo-Osmanische Reich« Erdoğans. So unterschiedlich und widersprüchlich diese Expansionsprojekte und ihre Urheber auf den ersten Blick erscheinen mögen, so sehr gleichen sie sich in Zielen und Methoden. Mittels patriarchaler Gewalt, Feminizid und kulturellem Genozid, beabsichtigten sie die Integrität der Frauen, der Individuen und Gesellschaften des Mittleren Ostens zu brechen, um sie ihren kapitalistischen Machtinteressen entsprechend ausbeuten zu können.

Die Wiege der Menschheit

Um zu verstehen, warum im Mittleren Osten insbesondere Frauen und historisch-kulturelle Werte zur Zielscheibe kolonialer Angriffe erklärt wurden, wollen wir die Grundlagen der eingangs erwähnten »Gir« und »Til« etwas genauer unter die Lupe nehmen. Das Fundament dieser Hügel ruht auf den ersten Dorfgründungen entlang der Flüsse Tigris, Xabur, Euphrat und Awrîn und ihrer Nebenflüsse im frühen Neolithikum. Archäologische Funde – darunter eine Vielzahl an Muttergöttinnen-Skulpturen, Tempeln und Symbolen – belegen, dass Frauen eine zentrale Rolle im Prozess der Sesshaftwerdung spielten, der mit der Entwicklung von Landwirtschaft und Viehzucht sowie dem Aufbau einer kommunalen, solidarischen Lebenskultur einherging. Die ersten Siedlungen wurden ab dem 12. Jahrtausend v. u. Z. aus runden Lehmhäusern aufgebaut. Gemeinsame Feuer- und Vorratslagerstellen an zentralen Plätzen der Dörfer weisen darauf hin, dass Arbeit, Produktion und Verbrauch gemeinschaftlich organisiert wurden.

Neben neuen Produktionsweisen und materiellen Entwicklungen kennzeichneten vor allem eine starke spirituelle Kultur und kollektive Werte das Zusammenleben der Menschen in der Region. Die Tradition, Tote unter den Fußböden der Häuser zu bestatten, ist Ausdruck eines Verständnisses der Einheit von Leben und Tod, der Seele und des Körpers, der Welt und des Universums, der Natur und des Menschen. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in der Symbolik von Zeichnungen, Steinhauereien, Keramiken und in der Architektur der Lehmhäuser wider. Wie stark der ideelle Zusammenhalt der Menschen in der Region war, wird unter anderem daran deutlich, dass die BewohnerInnen von Girê Sor (Til Ahmar) sich jedes Jahr auf den ca. 200 km langen Weg nach Xirabreşk2 begaben, um dort an den zentralen Gedenkzeremonien für ihre AhnInnen teilzunehmen.3 Im 10. Jahrtausend v. u. Z. versammelten sich Menschen aus der gesamten Euphrat-Region zu Feierlichkeiten in der eindrucksvollen Tempelanlage. Die riesigen Steinmonumente, deren Anordnung an das System des Universums erinnern, sind Produkte meisterhafter Arbeit und kollektiver Kraft. Infolgedessen können wir annehmen, dass diese Bauwerke als Resultate gemeinsamer Überzeugung und Wertschätzung errichtet wurden. Denn Anzeichen für Sklaverei oder Zwangsarbeit existieren aus dieser Zeit nicht. Das gilt auch für die ersten Städte, die ab dem 9. Jahrtausend an Orten wie Til Mureybet, Til Halula und Girê Sor am Laufe des Euphrats errichtet wurden.4

Im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung, dass die ersten Städte als patriarchal-hierarchisch organisierte Stadtstaaten unter den Sumerern in Untermesopotamien entstanden seien, sind bei den Ausgrabungen der um Jahrtausende älteren Städte in Obermesopotamien5 keinerlei Gebäude oder Anzeichen bekannt geworden, die auf eine zentrale hierarchische Regierungsgewalt hinweisen. Die Lebenskultur in diesen Städten – die auch als matriarchale Kultur bezeichnet wird6 – beruhte auf kommunalen gesellschaftlichen, ökonomischen, spirituellen und kulturellen Einrichtungen. Die neolithischen Göttinnen-Tempel, von denen viele der Göttin Ischtar-Innana geweiht waren, wiesen eine andere Struktur und Bedeutung auf als die Zikkurats der sumerischen Priester, die in späteren Epochen als Prototypen der staatlichen Herrschaft aufgebaut wurden. Die ersten Göttinnen-Tempel waren nicht Orte der Macht und Besitzanhäufung, sondern Orte der (Um-)Verteilung und Verwaltung von Produkten, des kulturellen Austauschs von Wissen und Bildung, von künstlerischem und handwerklichem Können, von medizinischen und technischen Erfindungen. Austausch und Handel verbanden die Städte in Mesopotamien zu einem konföderalen Netzwerk von autonomen Siedlungen, über die sich geistiger, kultureller und technischer Fortschritt schnell verbreitete, die Versorgung und das Leben der Menschen bereicherte.

Frauenbilder

In diesem Kontext entwickelte sich im Zeitraum 6000–5300 v. u. Z. die Halaf-Kultur im nördlichen Mesopotamien. Sie ist nach dem Hügel Til Halaf am Fluss Xabur in der Nähe der heutigen Stadt Serê Kaniye benannt. Er gilt als »erster Fundort« von unter der Sonne getrockneten sowie gebrannten Keramikerzeugnissen, die als ein Charakteristikum der Halaf-Kultur bekannt wurden. Beim Brennen des Tons wurde auch Kupfer als ein Nebenprodukt des Brennprozesses entdeckt und weiterverarbeitet. Die Halaf-Keramik bestand aus Gefäßen und Tonfiguren in schlichten Formen und Farben sowie einer Vielzahl an künstlerisch verzierten, fein verarbeiteten Keramikprodukten. Diese Gegenstände waren nicht nur Gebrauchsgegenstände. Ereignisse und Geschichten wurden damals mit roten, schwarzen oder weißen Farben auf Tonteller, -gefäße und -tafeln gemalt. Sie wurden in den vielfältigen Mustern und Formen festgehalten und vor dem Vergessen bewahrt. Bilder von Tieren wie Löwen, Ochsenhörnern, Schlangen, Vögeln und Fischen, die als Symbole der Göttinnen galten, sowie weibliche Figuren gehörten zu den Hauptmotiven dieser Geschichtsschreibung genauso wie die Doppelaxt Labrys, die auf Bildnissen von der Göttin Ischtar getragen wurde und im 6. Jahrhundert v. u. Z in der Mittelmeer- und Schwarzmeerregion zum Symbol der Amazonen wurde. Weibliche Tonfiguren, die mit beiden Armen ihre Brüste umschlungen halten, Frauen mit großen Bäuchen und Oberschenkeln, die aus der Epoche der Halaf-Kultur stammen, weisen auf die Wertschätzung und das Ästhetikempfinden hin, das mit den Körpern von Frauen assoziiert wurde. Im Gegensatz zu der patriarchalen Darstellung von Frauen als Accessoires und Sexualobjekte verkörpern diese Frauenfiguren die Wahrnehmung von Frauen als eigenständige Existenz, als heilige Quelle und Energie des Lebens und der Gemeinschaft. Fruchtbarkeit, geistige und physische Kreativität bildeten eine Einheit. Auch auf den Rollsiegeln, die an vielen Ausgrabungsorten der Halaf-Kultur wie beispielsweise in Urkesch (Girê Mozan) gefunden wurden und Kennzeichen des Aufbaus von komplexeren Verwaltungs- und Handelsstrukturen waren, sind Frauen in zentralen Rollen des politischen und wirtschaftlichen Lebens zu sehen. All diese Bilder berichten von der Bedeutungsvielfalt und Schaffenskraft, mit der Frauen das gesellschaftliche Leben in dieser Epoche prägten. Ein wichtiger Punkt ist hierbei, dass dies keine Darstellungen über Frauen sind, sondern dass sie Selbstdarstellungen von Frauen zu ihrer Zeit verkörpern. Die Töpferei war eine Kunst der Frauen. So stellte u. a. der sowjetische Archäologe P. N. Tretjakow fest, dass die Form der Fingerabdrücke auf verschiedenen Erzeugnissen darauf hinweisen, dass Tonwaren im Neolithikum von Frauen hergestellt wurden.7

Genauso bezeichnend ist, dass die Bildnisse der Göttin ­Ischtar, die in verschiedenen Schichten der Girs an vielen Orten Mesopotamiens gefunden wurden, verschiedene Charaktere der Göttin zum Ausdruck bringen: Manchmal sehen wir sie als Fruchtbarkeit und Schaffenskraft symbolisierende Urmutter, manchmal als stehend auf dem Löwen reitende, mit Pfeil und Bogen bewaffnete kämpferische Autorität, die ihre Werte verteidigt.

Die Spuren der Schaffenskraft von Frauen und der damit einhergehenden tief greifenden gesellschaftlichen Entwicklungen, die auch als »neolithische Revolution« bezeichnet werden, durchziehen das gesamte Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds entlang der Zagros- und Taurus-Gebirge, vom Persischen Golf bis hin zum Mittelmeer. In der Kultur verschiedener Völker Mesopotamiens wurden viele Werte und Symbole dieser Frauenkultur im kollektiven gesellschaftlichen Gedächtnis bewahrt. Sie stellen ein gemeinsames Erbe dar, das heute die Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens und die treibende Kraft der Frauen beim Aufbau des Demokratischen Konföderalismus in Nordsyrien bildet.

Die Gegenwart ist Ausdruck der Geschichte und des gesellschaftlichen Gedächtnisses

Obwohl auf den ersten Blick das Wissen und Bewusstsein über Frauengeschichte im Mittleren Osten – wie auch in anderen Teilen der Welt – verblasst scheinen, so ist diese Geschichte doch allgegenwärtig. Es gibt viele Orte in Rojava, die nach Frauen benannt sind, heilige Stätten oder Dörfer, die Frauennamen tragen. Hierzu gehören u.a. Stätten wie Şikefta Qîzikan (Höhle der Mädchen), Newala Qîzikan (das Tal der Mädchen), Kevirê Bûkê (der Stein der Braut), die Girê Jindiresse (der Hügel der spinnenden Frau), Girê Selma (der Hügel von Selma) oder Ziyareta Porsa Xatûn (das heilige Grab von Porsa Xatun), um nur einige Beispiele zu nennen. Auch wenn heute viele BewohnerInnen nicht mehr wissen, wer die Namensgeberinnen waren und was sie gemacht haben, spiegeln sich in vielen ihrer Traditionen, Gebräuchen, in den Geschichten und Persönlichkeiten von Frauen Werte der neolithischen Frauenkultur und des kommunalen Lebens wider: Freude, Schmerz und Lebensnotwendigkeiten werden mit Nachbarn, Familienangehörigen und in der Gesellschaft geteilt. Die Erleichterung der Trauer und der Arbeiten einer Familie bei Todesfällen, die gemeinschaftliche Versorgung von Gästen, Kranken und Armen in der Nachbarschaft werden von allen als eine selbstverständliche, gemeinschaftliche Aufgabe begriffen. Wer sich hierfür nicht verantwortlich fühlt und keine Empathie zeigt, genießt kein gesellschaftliches Ansehen. Die Kultur des Schenkens, d. h. geben, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten und dabei Freude zu verspüren, ist eine Tradition, die dem kapitalistischen Eigentums- und Konsumdenken widerspricht und bis heute bewahrt werden konnte. Hochzeiten und traditionelle Feste der verschiedenen Gemeinschaften werden in den Dörfern und Nachbarschaften gemeinsam gefeiert. Hierzu gehören beispielsweise das kurdische Neujahrsfest Newroz, das êzîdische Frühjahresfest Çarşema Sor, das assyrische Frühjahrsfest Akîto, das christliche Osterfest oder das islamische Opferfest. An diesen Tagen werden die Familien und Gemeindehäuser der jeweiligen Gemeinschaften von ihren NachbarInnen und Bekannten besucht.

Stammes-Kultur als geschichtliche Grundlage des Demokratischen Konföderalismus

Auch in der Stammes-Kultur und im Dorfleben in Nordsyrien sind gemeinschaftliche, solidarische Werte und Lebensformen bis heute lebendig. Die Stammes-Kultur wird heute – um das Monopol des modernen Staates durchzusetzen – häufig als »rückständig« und »feudal« diffamiert. Jedoch geht der Ursprung der Stammesstrukturen auf matrilineare Clanstrukturen zurück. Die kurdische Bezeichnung für Stamm »eşîr« wird als »yên ku heman şîrê dayika hev vexwarine« (diejenigen, die von derselben Mutter Milch getrunken haben) interpretiert. Die Stammes-Kultur in Mesopotamien hat ihre Wurzeln in den föderalen Clanstrukturen der HurriterInnen, den demokratischen Verwaltungsstrukturen der Mitanni oder der multikulturellen und multilingualen Föderation der Königtümer Komagene, die über lange Zeit das friedliche und vereinte Leben verschiedener Völker in der Region sichern konnte. Große Stammeskonföderationen, die als »kurdische Stämme« bekannt wurden, wie z. B. Barazî oder Millan, hatten neben kurdisch-muslimischen Stämmen auch arabische, turkmenische, kurdisch-êzîdische und alevitische Stämme als Mitglieder in ihren Konföderationen, die als ein Modell der Selbstverwaltung auf gemeinsamen ethischen und politischen Werten beruhten. Sie umfassten lokale Dorfräte, die sich über Alltagsangelegenheiten und die Lösung von Problemen berieten und in den »odayên gund« tagten, die zugleich als ein Schutzraum fungierten. Beispielsweise konnten hier von Blutfehden bedrohte oder anderweitig in Not geratene Menschen anderer Gemeinschaften Rat und Unterstützung finden. Fälle, die in den Dorfräten nicht gelöst werden konnten, kamen auf die Tagesordnung der Ältestenräte »şêwra eşîr û gundan«. Über die Diskussionen und Beratungen, die hier über gesellschaftliche Probleme stattfanden, wurden Geschichte, Kultur und ethische Werte von einer Generation an die andere weitergegeben und gemeinsame Prinzipien entwickelt. Bei der Lösung von existentiellen Problemen und der Schlichtung von Streitigkeiten wurde insbesondere der Rat von weisen, älteren Frauen eingeholt. Die Gemeinschaft maß ihrem Gerechtigkeitsverständnis und ihrer auf Lebenserfahrung beruhenden Kraft zur Voraussicht großen Wert und Respekt bei.

Frauen und Männer arbeiteten gemeinsam in der Landwirtschaft, die als eine kommunale, kollektive Wirtschaftsform, wie eine Art Kooperative, in den Dörfern organisiert wurde. Die Erzeugnisse wie Weizen, Roggen, Linsen, Kümmel oder Kichererbsen wurden in Gemeinschaftsdepots »bênder« gelagert und ihre Verteilung wurde kollektiv organisiert. Hierbei wurde jeweils ein Anteil für arme oder bedürftige Familien bestimmt. Menschen aus den Dörfern Kobanês berichten, dass bis vor ca. 40 Jahren Geld keine bedeutende Rolle in ihrem Leben spielte. Tauschen und Teilen gehörten zur natürlichen Lebensethik. Die Wertschätzung von Handarbeiten, in deren Mustern Frauen ihre Geschichten und Sehnsüchte webten, sowie der Erde und der landwirtschaftlichen Erträge spiegelt sich bis heute in verschiedenen Bräuchen wider. Beispielsweise werden mit Getreide, Reis, Linsen, Kichererbsen u. a. Nahrungsmitteln gefüllte Gläser auf Grabstellen gestellt. Diese Tradition erinnert an den neolithischen Glauben von der Einheit von Leben und Tod, Erde und Menschen, Wertschätzung der Arbeit und ihrer Erzeugnisse.

Mit der fortschreitenden Verstädterung des Lebens und dem Aufbau von Märkten in den Stadtzentren jedoch wurden die solidarischen Dorfgemeinschaften vor ca. 30 Jahren zunehmend zerstört. Wie eine Frau sagte: »Als Geld und Eigentum in unser Leben Einzug hielten, wurden sie zur Ursache von Unmut und Problemen unter den Menschen.«8

Widerstand der Göttinnen-Kultur gegen Kolonialismus und Kriege der staatlichen Zivilisation

Seit der Ausbreitung der hierarchisch-patriarchal organisierten sumerischen El-Obeid-Kolonien ab dem 5. Jahrtausend v. u. Z. verfolgten verschiedene koloniale Herrscher die Absicht, die Spuren der Göttinnen-Kultur Schritt für Schritt zu verwischen, zu enteignen und unkenntlich zu machen. Sie beschlagnahmten die Errungenschaften, Produktionsmittel, Land und das Wissen der neolithischen Gesellschaft. Sie transformierten Fortschritte und Ressourcen, die zum Nutzen der Gemeinschaft geschaffen worden waren, zu Mitteln der Macht und versklavten ihre Schöpferinnen.

An diese Strategie der patriarchalen Konterrevolution knüpften verschiedene Kolonialregime an. Der Kolonialismus ging einher mit Entwurzelung, Entfremdung und Fremdbestimmung, mit kulturellem Genozid und Feminizid: Von der Ausbreitung des assyrischen Reiches über die Feldzüge Alexander des Großen, gefolgt von hellenistischer und römischer Besatzung, der Herrschaft des sassanidischen und des byzantinischen Reiches, Feldzügen der islamischen Kalifate der Omerer und Abbasiden, über die europäischen Kreuzzüge und den Einfall mongolischer Armeen, die 300-jährige Osmanische Herrschaft, abgelöst durch die französische Kolonialherrschaft Frankreich bis hin zum gegenwärtigen Krieg hegemonialer Mächte und ihrer Stellvertreter in Syrien bemühten und bemühen sich fremde Mächte die Spuren der Frauengeschichte auszulöschen und zu enteignen. Diese Strategie beabsichtigte, mittels Massakern, Zerstörung, Vergewaltigung, Kulturraub und Assimilation das Selbst-Bewusstsein von Frauen auszulöschen, um die »patriarchale Wahrheit« von der Minderwertigkeit und Abhängigkeit von Frauen fest zementieren zu können. Indem Frauen und die Gesellschaften ihrer Erinnerungen und ihres Gedächtnisses beraubt wurden, sollten ihre Identitäten unkenntlich gemacht werden.

Vom 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Krieges in Syrien 2011 führten unterschiedliche ForscherInnenteams hegemonialer Staaten wie Deutschland, Frankreich, USA, Großbritannien, Italien, Russland, Japan und Frankreich archäologische Grabungen in Mesopotamien durch. Das Wissen und der Reichtum, der unter diesen Hügeln verborgen lag, wurden herausgeholt und an fremde Orte geschafft. Die Kolonialherren benutzten die lokale Bevölkerung bei ihren Expeditionen und Raubzügen als Hilfsarbeiter und Wegweiser. Der deutsche Orientalist Max Oppenheim war einer von denen, die die Göttinnen Til Halafs in die kalten Museen Europas entführten. Zynisch nannte er die Göttin »seine Braut«. Bis heute befindet sie sich im Privatbesitz der Oppenheim-Stiftung. Andere Raubstücke sind im Pergamonmuseum in Berlin, im Louvre in Paris oder im British Museum in London als namenlose „weibliche Figuren« ausgestellt. Sie wurden genauso ihrer Namen beraubt wie die Menschen und Orte am Platz ihrer Herkunft, die durch Krieg, Plünderungen und Ausbeutung in Leid und Armut gestürzt wurden.

Auf die kolonialen Raubzüge imperialistischer Staaten im 19. und 20. Jahrhundert folgte eine neue Welle der Zerstörung von Werten der Frauenkultur durch das Baath-Regime. Diese ging einher mit der Überflutung der ältesten neolithischen Siedlungen wie Til Mureybet, Ebu Hureyra, Til Halula und Girê Sor durch die Staudämme bei Tischrin und Tebqa. Während die archäologischen Stätten und mit ihnen wichtige Belege für die egalitären Gesellschaftsformen im Neolithikum unter den Fluten des Assad-Stausees begraben wurden, wurde zugleich das geschichtliche Wissen der lokalen Bevölkerung ausgelöscht. Durch Zwangsumsiedlungen wurden die Menschen – insbesondere Frauen – ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Wurzeln und natürlichen Lebensformen beraubt. Demografische Veränderungen und Assimilation wurden als Werkzeuge benutzt, um die Allmacht des Staates, arabisch-nationalistischer Ideologie und patriarchaler Herrschaft abzusichern.

Hierauf folgte im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine erneute Welle der Zerstörung mit dem Ziel, die letzten verbliebenen Spuren der Frauenkultur auszulöschen. Faschistisch-patriarchale Kräfte wie der IS, al-Nusra und die türkische Armee wählten insbesondere Erzeugnisse und Stätten der neolithischen Kultur im Fruchtbaren Halbmond als Angriffsziele für ihren Genozid. Es ist kein Zufall, dass die vom AKP-Regime unterstützten Al-Nusra-Banden als Erstes das Zentrum der neolithischen Til-Halaf-Kultur in Sere Kaniyê unter Beschuss nahmen. Genauso wenig kann es als Zufall gelten, dass die Mörderbanden des IS vorrangig Städte der Göttinnen-Kultur besetzten und zu Zentren ihres »Kalifats« machen wollten. Hierzu gehörten beispielsweise die Stadt der Göttin Semiramis, Musil, die heilige Stadt der Göttin Atargatis, Minbic, oder die Stadt des Welterbes der Königin Zenubia, Palmira. Die Belagerung des Kantons Kobanê und die Besatzung von Cerablus umfassten die Geografie der Zivilisation Kargamish, als deren Gründerin die Göttin Kubaba verehrt wurde. Auch der planmäßige Genozid und Feminizid des IS gegen die ÊzîdInnen in Şengal beabsichtigte, eine Kultur aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis auszulöschen, die über Jahrhunderte hinweg ihren Glauben und ihre gemeinschaftlichen Traditionen, die auf Würdigung der Natur und des Menschen beruhen, gegen staatliche Unterdrückung bewahren konnte.

Efrîn zu verteidigen bedeutet, die Frauenrevolution zu verteidigen

In das gleiche Konzept reihen sich auch die jüngsten Angriffe der türkischen Armee und die Besetzung des Kantons Efrîn ein, die am 20. Januar 2018 begannen. In der Kultur, der Geografie und den archäologischen Stätten Efrîns waren die Spuren der neolithischen Frauenkultur, der Göttin Ischtar und der hurritischen Königin Puduhepaji bis dato allerorts lebendig. Sie waren das historische Fundament der Demokratischen Selbstverwaltung, des Selbstbewusstseins der Frauen und der Kraft des Widerstands gegen die faschistische Besatzung.

Der Ischtar-Tempel in Ain Dara, bevor ihn die türkische Luftwaffe zerstörte. Foto: wikipedia.org  Mit der Zerstörung und Plünderung der Schätze des neolithischen Zeitalters streben patriarchale Staaten und faschistische Kräfte an, jegliche Belege der ersten Frauenrevolution in Mesopotamien und damit die Wurzeln der Frauenkultur und der ethisch-politischen Gesellschaft zu vernichten. Hiermit wollen diese Kräfte die Umsetzung und Ausbreitung der zweiten Frauenrevolution auf dieser Erde verhindern, die im Zuge der Revolution in Rojava immer mehr an gesellschaftlicher Dynamik gewonnen hat. Dies wurde erneut bei den Angriffen der türkischen Armee auf den Kanton Efrîn deutlich. So ist es auch kein Zufall, dass der türkische Staat und hegemoniale Mächte Efrîn ins Zentrum ihres Besatzungskrieges stellten, wo jeder Ort, ein jeder Berg eine Geschichte von der Kultur der Frauen, dem Zusammenleben der verschiedenen Völker und Glaubensgemeinschaften erzählt. Dies wurde insbesondere am 6. Tag der Angriffe deutlich: An diesem Tag bombardierte die türkische Luftwaffe den Ischtar-Tempel in Ain Dara. Die Bomben des 3. Weltkrieges zertrümmerten gezielt ein Weltkulturerbe der Wiege der Menschheit. Die riesigen Fußabdrücke, die auf dem Steinboden des 3.000 Jahre alten Tempels prangten, wurden von den Menschen in der Region als Zeichen der Allgegenwart der Göttin Ischtar aufgefasst. Heute sind sie unter Trümmern der alten Ornamente, Säulen und Statuen begraben. Bis zu dem Tag, als die mit der Gefahr des physischen Genozids konfrontierte Bevölkerung sich gezwungen sah, die Stadt zu verlassen, war das kommunale solidarische Leben fest in der Lebenskultur von Efrîn verankert. Es gab Dörfer wie das Dorf Zehra, in dem alle Dorfbewohnerinnen jeden Donnerstag gemeinschaftlich ihr Essen zubereiten, essen und den Tag gemeinsam verbringen. Im Dorf Şeytana, in dem viele Geschichten vom Widerstand der Frauen erzählt wurden, und das von Frauen gemeinschaftlich verwaltet wurde, verrichteten Frauen im täglichen Leben und in der Landwirtschaft kollektiv ihre Arbeiten. Frauen aus dem Dorf Ruta in der Provinz Mabata erzählten, dass sie ihre eigene Sprache entwickelt hätten, die nur Frauen verstehen. Auf die Nachfrage, woher diese Sprache komme und warum sie diese Sprache benutzten, antwortete eine Bewohnerin von Ruta mit einem selbstbewussten Lächeln: »Damit wir uns gegen die Macht der Männer schützen können!«9

Die riesigen Fußabdrücke, die auf dem Steinboden des 3.000 Jahre alten Tempels prangten, wurden von den Menschen in der Region als Zeichen der Allgegenwart der Göttin Ischtar aufgefasst. Heute sind sie unter Trümmern der alten Ornamente, Säulen und Statuen begraben.Die Frauen von Efrîn haben sich die Widerstandskultur der Göttinnen unter den Bedingungen von Krieg und Belagerung bewahrt. Die Erzählung vom Widerstand der Urgöttin Innana gegen die Herrschaftsbestrebungen des männlichen Gottes Enki aus der sumerischen Mythologie bietet die Möglichkeit, Parallelen zur aktuellen Situation zu ziehen. So wie Innana erbittert ihre 104 Me – die Errungenschaften und Werte des neolithischen Zeitalters – gegen den Versuch Enkis verteidigte, diese zu enteignen und für seine eigene Macht zu missbrauchen, so weigerten sich auch die Frauen von Efrîn bis zuletzt ihre Städte und Dörfer der türkischen Besatzung zu überlassen. Auch wenn es Enki durch Hinterlist vorübergehend gelang, die 104 Me an sich zu reißen, so dürfen wir nicht vergessen, dass es Innana letztendlich durch Unnachgiebigkeit und einen entschlossenen Kampf gelang, die gestohlenen Werte zurückzugewinnen und in ihre Heimat zurückzubringen. In diesem Sinne setzen die Frauen aus Efrîn in Şehba heute ihren Widerstand gegen die türkische Besatzung, gegen koloniale und faschistische Angriffe mit dem Ziel fort, ihre Heimatorte von der Besatzung zu befreien und an sie zurückzukehren.

Das Wissen über die Geschichte der Frauenrevolutionen und patriarchalen Konterrevolutionen kann uns dabei behilflich sein, in verschiedenen Facetten und Möglichkeiten zu denken. Dies ist die Voraussetzung dafür, die patriarchalen und neoliberalen Gedankenkonstrukte einzureißen, die uns glaubhaft machen wollen, der Mann sei nun mal »natürlich überlegen« und es gäbe keine Alternative zum Herrschaftssystem von Staat und Kapital.

Indem wir aus unserer Geschichte lernen, sie neu interpretieren und begreifen, gewinnen wir an neuen Horizonten hinzu. Das Wissen darüber, dass es Alternativen zu patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft gegeben hat und gibt, eröffnet uns neue politische Handlungsoptionen für die Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft.

Die internationale Solidaritätskampagne »Women Rise Up For Afrin – Frauen erheben sich für Efrîn!«, die der Frauenkongress Kongreya Star initiiert hat, bietet Frauen an jedem Ort der Welt die Möglichkeit, sich an der Verteidigung und Verbreitung der zweiten Frauenrevolution zu beteiligen: Sie be­inhaltet den Aufruf, uns als Frauen unserer lokalen und globalen Geschichte bewusst zu werden, an das Wissen und den Erfahrungsschatz über solidarische Gesellschaftsformen anzuknüpfen und mit dem Aufbau von Alternativen im Hier und Jetzt zu beginnen. Zugleich beinhaltet sie den Aufruf, unsere Selbstverteidigung und Bündnisse gegen Feminizide und Faschismus zu stärken. Indem wir uns selbst aus der Allmacht der patriarchalen, kolonialistischen Wahrheiten befreien, werden wir auch Mittel und Wege finden, uns der imperialistischen Kriegs- und Ausbeutungspolitik entschlossen entgegenzustellen und unsere Solidarität mit den Frauen aus Efrîn in konkrete Erfolge zu verwandeln: Dazu gehört es, durch unseren gemeinsamen Kampf Efrîn von der türkischen Besatzung zu befreien und die Kriegsverbrecher, Plünderer und ihre Auftraggeber zur Rechenschaft zu ziehen. So wird auch der Tag kommen, an dem die entführten Göttinnen Mesopotamiens, von der Kälte der Museumshallen in Europa befreit, in die Wärme ihrer Muttererde zurückkehren. Hier können sie dann zu Zeuginnen der Revolution ihrer Nachkommen werden, die sie selbst inspiriert haben.

Fußnoten:

1 Geografische Region zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris; Gebiet, das sich von Osten nach Westen entlang der heutigen syrisch-türkischen Grenze erstreckt; auch als Rojava (Westkurdistan) bezeichnet.

2 Göbekli Tepe bei Riha (Urfa) in Nordkurdistan.

3 Vgl. Danielle Stordeur

4 Diese historischen Stätten wurden durch den Bau der Assad-Staudämme in den 1980er und 1990er Jahren überflutet.

5 Geografische Region zwischen Euphrat und Tigris im südlichen Irak.

6 Vgl. Heide Göttner-Abendroth, »Am Anfang die Mütter«

7 Vgl. Elaine Morgan »Der Mythos vom schwachen Geschlecht« 1989, S. 193

8 Vgl. Bericht über vorläufige Untersuchungsergebnisse einer soziologischen Feldstudie über die Geschichte und Gegenwart von Frauen in Rojava; vorgestellt von der Jineolojî-Akademie auf der 1. Jineolojî-Konferenz in Nordsyrien, Januar 2018

9 Vgl. vorläufiger Forschungsbericht der Jineolojî-Akademie, vorgestellt auf der 1. Jineolojî-Konferenz in Nordsyrien, Januar 2018


 Kurdistan Report 198 | Juli/August 2018