Das nahende Ende des Status quo in Südkurdistan

Eine Entscheidung für oder gegen die Gesellschaft steht an

Rojbin Ekin

Südkurdistan/BehedînanIn jedem Teil Kurdistans, das seit Jahrhunderten geteilt ist, gab es einen lange währenden Widerstand gegen die Politik des Genozids und der Assimilation. Auch in dem Teil, den man Südkurdistan nennt, hat der Freiheitskampf der kurdischen Gesellschaft viele Jahre eingenommen und kostete viele Opfer. Sowohl das irakische Baath-Regime als auch der kontinuierliche interne Krieg und Ausnahmezustand haben tiefe Wunden gerissen und für hohe Verluste gesorgt. Doch in den letzten 26 Jahren, also seit dem 19. Mai 1992 bis heute, wurde das Parlament aufgebaut und begonnen, sich selbst zu verwalten. Das Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes und die damit verbundenen Phasen waren und sind zweifellos sehr schmerzhaft. Ich habe zwei Jahre lang als Journalistin in Südkurdistan gearbeitet. Ich bin vertraut mit der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur. Ich hielt mich in einer Phase vor Ort auf, als die inneren politischen Auseinandersetzungen sehr intensiv waren, die wirtschaftliche Krise sich permanent vertiefte und die Proteste der Gesellschaft gegen die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung mit jedem Tag zunahmen. Die seit 2015 zu verzeichnenden Protestkundgebungen und Reaktionen dauern immer noch an.

Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Instabilität führt in der regionalen Gesellschaft zu Zukunftsängsten und Hoffnungslosigkeit, die die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat veranlassen. Die Wut richtet sich nun gegen die Regionalregierung. Wenn die wechselnde Regierung sich nicht auf Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stützt, führt das zur gegenteiligen Entwicklung. Es wird die gefährlichste Form der Macht und verursacht große Verluste in der Gesellschaft. Der emotionale Bruch und die Hoffnungslosigkeit werden verstärkt. Wir wollen nun eine kurze Zusammenfassung der momentanen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation in Südkurdistan angehen.

Südkurdistan ist geographisch und politisch zwischen zwei großen politischen Parteien aufgeteilt. Der historische Widerspruch und Konflikt zwischen der PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und der YNK (Patriotische Union Kurdistans) haben die kurdische Gesellschaft in zwei und in den letzten Jahren sogar in noch mehr Teile gespalten. Die Innen- und Außenpolitik der YNK und PDK haben die Menschen in Südkurdistan diesen politischen Strukturen erheblich entfremdet. Deshalb entstehen neue politische Gebilde und die alternative Politik organisiert sich an der Basis. Gorran, Neveya Nû, Tevgera Azadî und etliche weitere politische Strukturen haben sich einer alternativen Politik zugewandt. Dabei ist die Politik von PDK und YNK sehr einflussreich, nicht gesellschaftsbasiert, sondern mehr auf engstirnigen Familien- und Stammesinteressen beruhend.

Die Selbstbehauptung dieser beiden Kräfte in Südkurdistan ist bis heute problematisch. YNK und PDK haben die militärische Organisierung aller politischen Strukturen mit kriegerischen Mitteln zerschlagen. So wurden sie zu den beiden zentralen Kräften im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Diese beiden wesentlichen Stützen der föderalen kurdischen Regionalregierung haben sich bis zum Jahr 1997 heftig bekriegt. Die PDK, die bis dahin Hewlêr (Erbil) unter Kontrolle hatte, verdrängte die YNK von dort. So wurde der Entstehung der als »grün« und »gelb« bezeichneten Gebiete, in die das kurdische Regionalgebiet politisch, militärisch und gesellschaftlich gespalten ist, der Weg bereitet. Das »grüne« Gebiet untersteht der Kontrolle der YNK, das »gelbe« der PDK. Auch wenn in Letzterem andere politische Strukturen zum Teil die Möglichkeit finden, sich zu organisieren, ist die Region militärisch und politisch vollständig PDK-kontrolliert. Folglich kann keine Struktur oder Einzelperson, die gegen die Regierung gerichtet ist, Lebens- und Organisationsraum finden, um sich zu artikulieren. Das YNK-kontrollierte »grüne« Gebiet ist im Vergleich zum »gelben« flexibler, so dass andere politische Ausrichtungen Raum zur eigenen Organisierung und Entfaltung finden können.

Nach dem Ende der Präsidentschaft von Mesud Barzanî am 20. August 2015, der aber de facto immer noch diese Tätigkeit ausübt, und der Einstellung der Auszahlung der der Autonomen Region offiziell zustehenden Transferzahlungen der irakischen Zentralregierung wurde eine schwere politische und wirtschaftliche Krise eingeleitet. Danach breiteten sich Proteste der Beamten in der »grünen« Region aus.

Der Parlamentspräsident Yusuf Mohammed von Gorran konnte seine Aufgabe nach Beginn der Proteste im August 2015 seit dem 17. Oktober desselben Jahres aufgrund der Intervention der PDK nicht mehr erfüllen und das kurdische Regionalparlament ist außer zu einigen wenigen spezifischen Sitzungen nicht mehr zusammengekommen. Da die PDK die Gorran-Partei für die Proteste, die mit der politischen Krise begannen, verantwortlich machte, wurde Gorran mit nicht legalen Methoden aus der Regierung gedrängt. Einschließlich Parlamentspräsident wurden fünf Gorran-Minister ihres Amtes enthoben.

Die Widersprüche zwischen den Parteien und die undemokratischen, despotischen und hegemonialen Ansätze der PDK wurden zum Hindernis für die Lösung der politischen Krise. Trotz regelmäßigen Austauschs zwischen den Parteien und Versöhnungsbestrebungen haben die weiterhin bestehende Kontrolle der PDK über das Präsidentenamt und den Regierungsvorsitz sowie ihre Bemühungen, Gorran politisch unwirksam zu machen, zur Verschärfung der andauernden Krise geführt. Im September 2018 werden die Parlamentswahlen erwartet.

Die politische und wirtschaftliche Krise hat sich am stärksten auf die Gesellschaft ausgewirkt. Die zunehmend verarmende und von Zukunftsängsten geprägte Bevölkerung will ihr Land, für das sie so viele Opfer gebracht hat, verlassen. Seit dem Jahr 2015 herrscht eine starke Migration aus dem kurdischen Autonomiegebiet. Vor allem Jugendliche sind davon betroffen und bewirken eine Dynamik zur Veränderung. Sie verlieren ihr Zugehörigkeitsgefühl. Die Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Krise führt zu einer großen gesellschaftlichen Krise. Die Frauen sind vollständig aus dem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich verdrängt. Sie sind mit großer Ungleichheit, Gewalt und Massakern konfrontiert. Die Selbstmordrate steigt und der gesellschaftliche Druck auf Frauen und Jugendliche wächst stetig.

Die Region verfügt über große Ölreserven und landwirtschaftliche Flächen, doch die Menschen bekommen keinen Anteil aus den Gewinnen. Auch wenn sie die landwirtschaftlichen Flächen nutzen, können sie die Produkte weder auf dem Binnenmarkt verkaufen noch exportieren. Denn die kurdische Regionalregierung importiert alle Waren aus der Türkei und dem Iran. Nur zwei Jahre zuvor konnte sie mit Eigeninitiative eine Tomatenfabrik in Helepçe (Halabdscha) eröffnen. Dass der Markt in der Autonomen Region Kurdistan nur aus iranischen und türkischen Waren besteht, hat ohne Zweifel auch politische Gründe. Es hängt genauso mit den politischen und wirtschaftlichen Abkommen zusammen, die PDK und YNK mit den beiden Ländern geschlossen haben. Die Politik der YNK im Schatten des Iran und die der PDK im Schatten der Türkei haben sich auch auf den wirtschaftlichen Bereich ausgewirkt.

Diese Beziehungen haben eine lange Vergangenheit, im Falle der Türkei reichen sie bis zur Phase 1989 bis 1993 zurück. Die Beziehung, die begann, um die PKK zu zerschlagen, dauert heute noch an. In dieser Zeit wurde die Region Kurdistan für die Besetzung durch den türkischen Staat geöffnet, um die PKK zu vernichten. Später haben die PDK und der türkische Staat zu diesem Zweck politische und militärische Operationen durchgeführt. Diese Schicksalsgemeinschaft wurde im Jahr 2007 nochmals vertieft.

Die Beziehungen wurden über enge wirtschaftliche Interessen gestärkt. Waren wie Kleidung, Lebensmittel und Getränke, die auf dem Markt in der Region angeboten werden, sind alle aus der Türkei importiert. Von 3013 Firmen in der Region gehören 1351 zur Türkei. Die Zahl der Arbeiter aus der Türkei übersteigt die 30.000. 70 Prozent von ihnen arbeiten im Privatsektor und sind türkische Staatsbürger. Das Handelsvolumen zwischen der Türkei und der Autonomen Region Kurdistan betrug im Jahr 2013 8 Milliarden Dollar. Nach 2013 stieg es auf aktuell 12 Milliarden. Zwischen der Türkei und der kurdischen Region gibt es in der Woche 78 Flüge. Die noch sehr guten Beziehungen zur irakischen Zentralregierung haben die Türkei noch näher an die kurdische Region gerückt. Mit der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zur Regionalregierung hat die Türkei begonnen, Erdöl auf dem Weltmarkt anzubieten. In der Region, in der täglich 600.000 Barrel Öl auf den Markt kommen, wurde zwischen dem Ministerpräsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Nêçîrvan Barzanî, und der Türkei ein Ölabkommen über 50 Jahre geschlossen. Weil der Gewinn aus dem Ölgeschäft nur zur Barzanî-Familie fließt, protestiert die Gesellschaft seit dem 17. Februar 2011 auf den Straßen gegen die Armut.

So wie die PDK die Region völlig der wirtschaftlichen Besetzung durch den türkischen Staat ausliefert, so auch auf der militärischen Ebene. Die Besatzung dauert seit 1991 an. Die 1300 türkischen Soldaten, die im Jahr 1990 mit Zustimmung des Irak als Beobachter geschickt worden waren, hatten begonnen, langfristig Basen aufzubauen. An den Grenzen zu Duhok, Zaxo, Hewlêr und Silêmanî in Südkurdistan sind Spezialkräfte und Mitglieder des Geheimdienstes MIT stationiert, deren Zahl offiziell nicht bekannt ist. Diese Militärstützpunkte sind stark befestigte Basen mit schweren Waffen, Panzern, Kanonen und Hubschraubern. Auch wenn im Jahr 2008 im kurdischen Regionalparlament ein Beschluss gegen die Militärpräsenz des türkischen Staates und die Besatzung gefasst wurde, ist er niemals umgesetzt worden. Trotzdem es durch Luft- und Artillerieangriffe immer wieder zu Schäden unter der Zivilbevölkerung kommt und dies Reaktionen hervorruft, hat sich noch nie genügend Entschlossenheit und Organisierung entwickelt, um der türkischen Besatzung ein Ende zu bereiten.

Die jüngsten Militäroperationen des türkischen Staates dauern seit März 2018 an. Mit intensivierten Angriffen in Behdînan und Bradost werden für die Erweiterung und die Nachhaltigkeit seiner militärischen Präsenz auch neue Stützpunkte gebaut. Obwohl als Grund für die Besatzung die PKK genannt wird, ist das eigentliche Ziel der Traum von den Grenzen zu Zeiten vor dem Vertrag von Lausanne. Die Besetzungsoperation ist also nicht nur ein Plan zur Zerschlagung der PKK, sondern richtet sich genauso gegen die Errungenschaften der kurdischen Gesellschaft in Südkurdistan. Der türkische Staat erkennt, dass er nicht wieder einen Bruderkrieg zwischen PKK und PDK entfachen kann, unterstützt die PDK verdeckt, kollaboriert mit ihr und führt Operationen durch. Zuvor hatten auch Bombardierungen durch die Luftwaffe stattgefunden. Dass die PDK der PKK nicht offen den Krieg erklärt, hängt zweifellos mit den Reaktionen der Menschen in Südkurdistan zusammen, die keinen Bruderkrieg mehr wollen. Die kurdische Gesellschaft demonstriert ihre Reaktion immer wieder öffentlich. Sie wirft der PDK Mitschuld an der türkischen Besatzung vor. Die militärische, politische und ideologische Präsenz der PKK in dem Gebiet hat die PDK beunruhigt. Denn PKK und PDK haben verschiedene ideologische Strukturen und Paradigmen. Das von der PKK geschaffene System, das sich am demokratischen, ökologischen und frauenbefreienden Paradigma orientiert, hat die PDK sehr gestört. Deshalb sieht sie die PKK als eine große Gefahr an.

Wie oben kurz zusammengefasst, ist der grundlegende Faktor, der die Region in eine komplizierte Sackgasse führt, die falsche Innen- und Außenpolitik der PDK, die den gesellschaftlichen und nationalen Interessen diametral entgegensteht. Die PKK spielt für die Lösung der Probleme eigentlich eine alternative Rolle. Doch da die Entwicklung der Wirkung der PKK in der Region den Einfluss der anderen politischen Strukturen brechen wird, beabsichtigen die anderen politischen Parteien, vor allem die YNK und die PDK, die PKK einzugrenzen und wenn möglich zu vernichten.

Das aufgrund der praktizierten Innen- und Außenpolitik abnehmende Vertrauen der Gesellschaft in die bestehenden politischen Vertreter bringt sie immer näher an die PKK heran. Die Menschen sehen die PKK als ihre Garantie für die Zukunft. Sie vertrauen ihr als bestimmende und zentrale Kraft für den Aufbau der nationalen Einheit. Deshalb werden die Öffnung südkurdischen Territoriums durch die kurdische Regionalregierung für den türkischen Staat und die Besetzungsoperationen der Türkei nicht ausreichen, um die Existenz der PKK zu beenden. Denn diese wird in allen vier Teilen Kurdi­stans als die Kraft verstanden, der die kurdische Gesellschaft am meisten vertraut.

Deshalb werden von nun an die Kollaboration mit dem türkischen Staat und dessen Besatzung die PDK selbst schwächen und zu ihrer Niederlage führen. Die PKK kämpft seit vierzig Jahren als Widerstandsbewegung und wird von dieser widerständigen Haltung nichts aufgeben. Deshalb ist die PDK an der Reihe zu entscheiden, welchen Weg sie ab jetzt verfolgen wird. Sie wird entweder die nationale Einheit wählen, sich von der für ihren Völkermord an der kurdischen Gesellschaft bekannten Türkei distanzieren und sich mithilfe demokratischer Transformation um die Probleme im Land kümmern – oder sie wird wie alle anderen Kräfte des Status quo überwunden werden.


 Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018