Der Kampf um die Einheit

Qendîl – das Herz Kurdistans

Seyit Evren

Qendîl – das Herz KurdistansQendîl ist ein Gebiet, in dem steile Felsen, Schluchten, dicht bewachsene Wälder, tiefe Täler und Plateaus aufeinandertreffen. In dieser geographischen Struktur gibt es hunderte zerstreute Dörfer, Kleinstädte, dutzende Landkreise und einige Provinzen. Auch wenn es in diesem Gebiet bisher keine offiziellen Volkszählungen gab, kann mit Gewissheit gesagt werden, dass hunderttausende Kurd_innen in Qendîl leben.

Die türkische Regierung hat eine Wahrnehmung geschaffen, bei der Qendîl nur mit einem einzigen Berg assoziiert wird. Dahingegen hat Qendîl eine Gesamtfläche von mehreren hundert Quadratkilometern. Das Gebiet liegt im Dreiländereck der Kolonialstaaten Iran, Irak und Türkei, das dutzende Bergketten, Wasserläufe und tausende tiefe Täler beheimatet.

Die geographische Struktur

Die Region dieses Dreiländerecks ist an manchen Stellen bis zu tausend Meter hoch und umfasst eine Fläche von 500 Quadratkilometern. Aufgrund dieser geographischen Lage ist das Gebiet sowohl für die Kolonialstaaten als auch für das kurdische Volk von enormer strategischer Bedeutung.

Aufgrund der Beschaffenheit der Region Qendîl, die gebirgig und bewaldet ist, betreibt die ansässige Bevölkerung vor allem Landwirtschaft und Viehzucht und sichert sich damit ihren grundlegenden Lebensunterhalt. Viele Dörfer wurden von der Regierung verbrannt, und es gibt nicht viele Waren auf den Märkten, also deckt die Lokalbevölkerung ihre Bedürfnisse durch Eigenanbau. Durch die kriegsbedingte Wirtschaft und die fortwährenden feindlichen Angriffe sind die Einheimischen von anderen Produktionsketten abgeschnitten. Zu erwähnen ist dabei vor allem die PDK (Demokratische Partei Kurdistans), die maßgeblich die Geschicke der regionalen Regierung lenkt und in den Bereichen Produktion und Außenpolitik ihren Beitrag hierzu leistet.

Das Zentrum des historischen Widerstands

Qendîl ist im Laufe der Geschichte für die Kurd_innen und für die gesamte Region aufgrund der geostrategischen und politischen Lage zur Widerstandsregion geworden. So gut wie alle kurdischen Parteien und Organisationen aus dem Irak und dem Iran haben hier Zuflucht gefunden. Es handelt sich dabei nicht ausschließlich um kurdische Gruppen: In Qendîl haben auch andere kommunistische und sozialistische Parteien ihren Platz, die sich gegen die Regime im Irak und dem Iran stellen.

Nach einigen Aufständen entstanden nach und nach Parteien, die sich für die Kurdenfrage einsetzten. Eine dieser Parteien ist die PDK-I (Demokratische Partei Kurdistans-Iran), die sich in Ostkurdistan (Rojhilat) entwickelt hat und in Qendîl von Anfang an ihre Basis aufbaute. Qendîl ist einer der Orte, an dem die Vorreiter der PDK-I und deren Parteigründer wie z. B. Suleyman Moini agierten.

Letzterer und viele weitere wurden vom iranischen Regime gezielt verfolgt und umgebracht. In Qendîl befindet sich auch die Hauptzentrale, die nach Dr. Abdurrahman Qasimlo benannt wurde, der als Generalsekretär der PDK-I fungiert hatte und in Wien einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war. Dr. Qasimlo stationierte seine Kräfte einst in einem Gebiet, das in Zelê beginnt und sich weitläufig zwischen Diyana und Ranya erstreckt. Von dort aus begann der fortwährende Kampf gegen das iranische Regime. Die YNK (Patriotische Union Kurdi­stans) hatte ihre Parteigründung in Qendîl, genauer gesagt im Tal Balayan im Dorf Xezînê verkündet. Später im Jahr 1978 ließ man die Gebiete Zelê und Nokan hinter sich, um sich der sozialistischen Partei Kurdistans und deren Kampf anzuschließen. Kurze Zeit nach dem Zusammenschluss griffen der Irak mit einer Bodenoffensive und der Iran aus der Luft an. Aufgrund dessen verließen rund 700 Peşmerge Zelê in Richtung Şemzînan (Şemdinli). Diese Einheit stand unter der Leitung der führenden Köpfe der sozialistischen Partei Elî Eskerî, Şengalli Êzîdî, Hussein Babaşêx und Dr. Seîd Xalid. In Elkê (Beytüşşebap) wurden Elî Eskerî und die 700 Peşmerge ermordet. Dieses Ereignis ist in die kurdische Geschichte als das »Ereignis von Elkê« eingegangen.

Der Widerstand ist über Jahrzehnte hinweg Teil des Lebens der Bevölkerung in Qendîl geworden. Die älteren Menschen, die den Konflikt seit Kindestagen kennen, geben ihn mündlich an die folgenden Generationen weiter. Schon im Jugendalter sahen sie sich unweigerlich mit dem Konflikt konfrontiert. Sie wurden Teil des Widerstands gegen Saddam und den Iran.
Nicht nur die PDK-I oder YNK haben in Qendîl Zuflucht gefunden, sondern auch viele andere politische Parteien wie die irakisch-kommunistische Partei Pasok, die von dort aus ihren Kampf gegen den Irak führte.

Qendîl ist aus zwei Gründen zum Angriffsziel des Iraks und des Irans geworden: Es ist die Keimzelle des Widerstands, und alle oppositionellen Kräfte finden hier ihren Platz. Im Zuge der Angriffe wurden die Dörfer Zelê, Alîreşê, Şênê, Bestê, Soregulê, Elkê, Meredo, Bêpalan, Suredê, Kaskan, Qirnekê, Sinemokê und viele weitere Dörfer zum Ziel. Außerdem wurden in Xakurkê 36 Dörfer und in Xinêre 86 Dörfer zur ständigen Zielscheibe. Im Jahr 1978 wurden die Genozid-Operationen von Saddam Hussein eingeleitet. In den drei Phasen der Operationen zwischen 1982 und 1986 sind in der beschriebenen Region die meisten Opfer zu beklagen. Das Balista-Tal, das heute im Landkreis Soran liegt und zu Qendîl zählt, ist der Ort, an dem Saddam Hussein in den dort gelegenen Dörfern zum ersten Mal chemische Waffen einsetzte. In der genannten Region wurden durch die drei Angriffsphasen hunderte Dörfer wiederholt verbrannt und zerstört. Die lokale Bevölkerung wurde in eigens eingerichteten Camps rund um Hewlêr (Erbil) und Silêmanî (Sulaimanya) untergebracht. Die Bevölkerung von Qendîl verließ die Camps trotz der drohenden Gefahren Tod, Völkermord und Gefängnis und kehrte in ihre Dörfer zurück. Der Irak und der Iran versuchten, den Widerstand zu brechen, doch Qendîl als Ganzes gab nicht auf. Die bewaffneten Kräfte leisteten an jeder Front erbitterten Widerstand. Trotz der militärischen Überlegenheit des Irans und des Iraks hielt der Widerstand von Qendîl an und wurde zum Zentrum des iranisch-irakischen Krieges, der Ende 1979 begann und acht Jahre lang anhielt. Auch in diesem Krieg wurden die Dörfer von Qendîl erneut zum Angriffsziel. Trotzdem flüchtete die Bevölkerung nicht, sie verließ ihre Heimat nicht auch nur für einen Moment.

Obwohl der Iran wie auch der Irak über Jahre hinweg die Angriffe gegen die Widerstandskämpfer_innen fortsetzte, konnten beide keinen wirklichen Zugang zur Region erkämpfen. Der Widerstand der Bevölkerung hat dazu geführt, dass die Besetzungspläne nicht durchgesetzt werden konnten. Aus diesen Gründen ist Qendîl die Festung des Widerstands geworden und ist es noch heute.

Die Dörfer von Qendîl

Die Bevölkerung von Qendîl ist von Generation zu Generation mit diesem Widerstand groß geworden. Die jüngeren Generationen haben ihn von ihren Großeltern, Müttern und Vätern überliefert bekommen, die wiederum von klein auf mit den Auseinandersetzungen konfrontiert waren. Schon im jugendlichen Alter fanden sie sich inmitten des Widerstands gegen Saddam und den Iran. Sobald sie zur Waffe griffen, waren sie als Kämpfer_in auch Teil des bewaffneten Widerstands. Sucht man das Gespräch mit der Lokalbevölkerung, so lassen sich viele Widerstandsgeschichten finden.

Eine dieser Geschichten ist die von Şivanê İbrahim. Er war von 1963 bis 2003 YNK-Peşmerga und wohnt im Dorf Qalatuka. Denjenigen, die ihn aufsuchen, erzählt er die Geschichte des Widerstands des Dorfes Qalatuka, der sich von dort über den Berg Mamendê ausbreitete bis nach Pilingan, das hinter Ranya liegt und wiederum einen verlängerten Arm der Berge Qendîls bildet. Eine andere ist die Geschichte von Mam Ebubekir aus dem Dorf Bolê. Er berichtet Interessierten über seine gemeinsame Zeit mit Dr. Qasimlo. Mam Ebubekir kann nicht nur von Qasimlo selbst erzählen, sondern auch von anderen widerständigen kurdischen Organisationen, Parteien und Strukturen in Qendîl. So berichtet er auch über die Zeiten des Hauptquartiers von Qasimlo und die damaligen Angriffe auf die Dörfer.

Der mittlerweile 70-jährige Enzê Mam Mihemed sagt über die Angriffe auf Qendîl und den geleisteten Widerstand: »Als ich noch ein Kind war, kamen von den Bergen Schussgeräusche. Ich wuchs mit diesen Schüssen auf, und so nahm auch ich später meine Waffe und schloss mich dem Widerstand an. Die Schüsse, die ich damals in meiner Kindheit gehört hatte, hörten nun auch meine neu geborenen Kinder. Sie sind damit aufgewachsen genau wie ich. Davon geprägt schlossen auch sie sich dem Widerstand an. Nun bin ich 70 Jahre alt und immer noch höre ich die Schussgeräusche von den Bergen. Solange wir nicht frei sind, werden sie zu den Bergen gehören.«

Hecî Elî, der im Dorf Lewcê lebt, hat die Ereignisse zu Beginn der 80er Jahre hautnah miterlebt. Er hat mit eigenen Augen die kurdischen, kommunistischen und sozialistischen Organisationen gesehen, die von der Basis Qendîl aus Widerstand gegen das Saddam-Regime und den Iran leisteten. Ihm ist auch nicht entgangen, dass es unter den Gruppen Konflikte gab. Von der Freiheitsbewegung wurden deshalb in diese Region Guerillaeinheiten und deren Kommandeur_innen entsandt, um beiderseitigen Frieden zu stiften. Das war für Hecî Elî der erste Kontakt mit der Guerilla.

Ömer Hamid ist 70 Jahre alt und wohnt im Dorf Silê in Xakurkê. Als er die Geschichte erzählt, füllen sich seine Augen mit Tränen. Er musste miterleben, wie die Dörfer in den Tälern Xakurkê, Lolan und Xinêre durch den damaligen irakischen Staatspräsidenten Hasan Bekir gewaltsam entvölkert wurden. Hasan Bekir wurde 1978 durch Saddam an der Macht beteiligt und später von selbigem weggeputscht. Mittlerweile sind die Dörfer nicht mehr bewohnt, erzählt Ömer Hamid, aber er versuche, jeden Frühling auf die umliegenden Almen zu gehen, um diese zu beschützen.

Die kurdische Freiheitsbewegung in Qendîl

Die kurdische Freiheitsbewegung ging zu Beginn der 80er Jahre nach Qendîl. Den ersten Kontakt zu Dr. Qasimlo knüpfte Hilvan Siverek über Ostkurdistan. Der Kommandant des Widerstands Mehmet Karasungur war der erste Guerillakämpfer, der nach Qendîl ging. Die kurdische Freiheitsbewegung baute im Jahr 1982 in Lolan, zwischen Xinêre und Xakurkê, ihr erstes Camp auf. 1983 ist Yaşar Organ in dem beschriebenen Camp gefallen. Der Kommandant der Guerilla Mehmet Karasungur und sein Freund Ibrahim Bilgin waren mit den Vorbereitungen beschäftigt, der kurdischen Freiheitsbewegung den Zugang zu Qendîl zu ebnen, indem sie Infrastruktur schufen. Am 3. Mai 1983 fielen auch Karasungur und Bilgin, als sie in Cengê, der Hauptschlagader Qendîls, zwischen kurdischen und anderen Kräften vermitteln wollten. Die Gräber beider blieben zwanzig Jahre lang im Dorf Bergirkê, das zu Qendîl gehört. Genau zwanzig Jahre später, im Jahre 2003, verlegte man die Gräber von Begirkê nach Qendîl, wo eine Grabstätte für gefallene Kämpfer_innen errichtet worden war, die nach ihnen benannt ist.

Die kurdische Freiheitsbewegung hat mit ihrer Verankerung in Qendîl im Laufe der Zeit dazu beigetragen, dass sich der Kampf qualitativ maßgeblich verändert hat. Der Kampf begann nationale Ausmaße anzunehmen. Allen voran die USA, aber auch andere internationale Kräfte wollen den Konflikt klein, zersplittert und regional begrenzt halten. Im Zuge dessen haben sie auch andere kurdische Kräfte dazu bewegt, gegen die kurdische Freiheitsbewegung vorzugehen. Unter anderem war dies ein Grund für den sogenannten Bruderkrieg in Südkurdistan (Başûr), der 1992 ausbrach. Mit kriegerischen Mitteln konnte die kurdische Freiheitsbewegung nicht in die Knie gezwungen werden, doch wurde weiterhin auf einer Kapitulation beharrt. Aufgrund eines verräterischen Abkommens mussten die Kräfte der kurdischen Freiheitsbewegung aus Xakurkê nach Zelê verlegt werden. Daraufhin griffen 52 türkische Kampfflugzeuge Zelê an, wo sich die Guerilla der kurdischen Freiheitsbewegung befand. Mit diesem Angriff trat die Türkei neben Irak und Iran als dritte Besatzungskraft in der Region auf. Später systematisierte sie ihre Angriffe auf Qendîl. Die kurdische Freiheitsbewegung verstärkte ihre Bestrebungen, den Kampf auf eine nationale Ebene zu bringen. Aus diesem Grund wurde 1999 das internationale Komplott gegen den Vordenker des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, initiiert. Zu Beginn der 2000er Jahre wurde weiter versucht, den wachsenden Widerstand zu sabotieren. Dies sollte zur Zerschlagung der Freiheitsbewegung führen. Im Jahr 2000 war die YNK verantwortlich für die Vertreibung der kurdischen Freiheitsbewegung aus Qendîl. Das damit erhoffte Ergebnis trat nicht ein, ganz im Gegenteil schaffte es die Bewegung, sich in Qendîl mehr denn je zu festigen. Auch unter der Bevölkerung in Südkurdistan konnte sie Prestige und Sympathie gewinnen. Die Rolle der kurdischen Freiheitsbewegung im nationalen Kampf wurde von der südkurdischen Bevölkerung anerkannt.

Trotz der Angriffe nimmt der Kampf zu

Trotz internationaler wie auch regionaler Pläne, bei denen die Türkei die Vorreiterrolle übernimmt, und trotz anhaltender systematischer Angriffe der türkischen Besatzungskräfte auf Qendîl setzt die kurdische Freiheitsbewegung ihren Widerstand fort. Der Widerstand dieser Region wird für die Selbstverteidigung aller vier Teile Kurdistans und um die nationale Einheit geführt. Der Kampf entwickelt sich hin zu einem gemeinsamen Kampf um politische Einheit der Kurd_innen.

Die Freiheitsbewegung und die Widerstandsregion sind nun zum Ziel der faschistischen AKP-MHP-Regierung geworden. Die türkische Regierung versucht, das umzusetzen, was die kolonialen Besatzungskräfte Irak und Iran bisher nicht geschafft haben. Deswegen bleiben die Geräusche der Kampfflugzeuge, Bomben und Raketen der gesamten Region und ihrer Bevölkerung auch weiterhin nicht erspart. Die Bevölkerung von Qendîl bleibt entschlossen und sagt: »Bisher konnte uns keine Kraft aus unserer Heimat vertreiben, die Türkei wird das auch nicht schaffen. Wir werden bis zuletzt auf unserem Land bleiben und gegen sie kämpfen.« Vor kurzem wurde in Qendîl von der patriotischen Jugend die Aktion »lebende Schutzschilde« initiiert, wofür ein Zelt errichtet wurde. Ein alter Peşmerga war dort zu Besuch und sagte: »Die Türkei greift jeden Tag mit ihren Kampfflugzeugen an. Sie können auch ihre Soldaten mit Helikoptern hier absetzen. Wie die aber von hier wegkommen sollen, weiß ich nicht.« Was dieser Peşmerga damit zum Ausdruck bringen wollte, ist der Umstand, dass das Ende aller Besatzungskräfte mit einer Niederlage und Frustration besiegelt ist.

Die internationalen als auch regionalen Pläne für die Region und die anhaltenden systematischen Angriffe der türkischen Besatzungskräfte halten an. Die kurdische Freiheitsbewegung führt hier ihren Widerstand für die Selbstverteidigung aller vier Teile Kurdistans und für die nationale Einheit fort. Der Kampf beginnt immer mehr an nationaler Bedeutung zu gewinnen. Die Entwicklungen haben dazu geführt, dass die politische Einheit unter den Kurd_innen Fahrt aufgenommen hat.


 Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018