Aktuelle Bewertung

Der Krieg des US-Dollars

Nilüfer Koç

Im siebenjährigen Krieg in Syrien, an dem etliche globale und regionale Mächte beteiligt sind, haben sich bislang zwei Kräfte behaupten können: die Demokratische Föderation Nordsyrien und das syrische Regime.

Bis zur Befreiung der Regionen Mûsil (Mosul, Irak) und Raqqa (Syrien) vom Islamischen Staat (IS) im letzten Jahr wurde ein Stellvertreterkrieg geführt. Hinter dem IS hatten sich etliche Staaten versteckt. Die Türkei allerdings unterstützte neben dem IS eine Reihe anderer Gruppierungen der Islamisten sehr offensichtlich. Ihre Kurdenphobie veranlasste sie zu versuchen, mit allen erdenklichen Mitteln die Kurden von der Bühne zu treiben.

Zekî Şengalî (Ismail Özden), Mitglied der êzîdischen Koordination Şengal, wurde am 15. August bei einem gezielten Anschlag des türkischen Staates tödlich verletzt. Der Anschlag der türkischen Luftwaffe auf das Fahrzeug des êzîdischen Politikers ereignete sich auf der Rückfahrt von einer Gedenkveranstaltung im Dorf Koço. Das Dorf war am 15. August 2014 fast vollständig von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ausgelöscht worden. | Foto: ANFSpätestes mit der türkischen Besetzung Efrîns im März wurde das neue Bild des Krieges in Syrien um einiges klarer. Hier führte nicht der IS, sondern die Türkei den Krieg. Unterstützt von Russland und dem Iran, gedeckt durch passive Haltung der USA, EU, UN. In Efrîn ging es um die Machtpolitik einzelner Staaten, die bislang ihre Existenz in Syrien mit der Präsenz des IS legitimiert hatten. Hier erfuhren die Kurden die pure Barbarei staatlicher Interessenpolitik. Begriffe wie Menschenrechte, Genfer Konvention, Demokratie, Frieden, UN, mit denen viele ihre Präsenz in Syrien in den sieben Jahren rechtfertigten, waren in Efrîn nur verbaler Natur. Allerdings standen Millionen von Menschen rund um den Globus auf der Seite des Widerstands von Efrîn. Diese Solidarität war maßgebend, damit 58 Tage lang trotz unverhältnismäßiger Gewaltanwendung Widerstand geleistet werden konnte. Berücksichtigung müsste finden, dass die Türkei den Krieg ausschließlich über den Luftraum geführt hat. Die Gewalt, die die Menschen in Efrîn erfuhren, war im Wesentlichen nicht viel anders als die, die sie vom IS kannten.

Heute, acht Monate nach Beginn des türkischen Angriffskriegs gegen Efrîn, bietet die politische Situation in Syrien ein etwas anderes Bild. Als Russland und der Iran die türkische Invasion befürworteten, ging es ihnen um ihre eigenen Interessen. Beide hatten sich aufgrund ihrer Konzentration auf Syrien in den letzten sieben Jahren zu Schutzherren von Syrien entwickelt, was die USA vehement als Gefahr für ihren hegemonialen Anspruch sahen. Russland hatte sich erhofft, dass Efrîn durch den türkischen Angriff geschwächt und später, dem Geiste Astanas entsprechend, dem syrischen Regime überlassen werden könnte. Das ist auch der Grund dafür, warum das Regime, trotz des Aufrufs der kantonalen Selbstverwaltung von Efrîn, seine Staatsgrenze nicht gegen eine ausländische Invasion verteidigen wollte. Das Regime hatte Garantien aus Moskau erhalten. Die Türkei hatte jedoch eigene Pläne und besetzte Efrîn, um es für sich zu behalten. Dies schuf ein neues Problem sowohl für Russland als auch den Iran und das syrische Regime. Jenseits von Efrîn zeigt die Türkei mit mehr als hunderttausend Kämpfern aus den verschiedenen Banden eine starke Präsenz in Cerablus (Dscharabulus), Idlib, Al-Bab, was auch ein Problem für das russisch-iranisch-syrische Bündnis bedeutet. Im Konflikt Russlands mit den USA wird es jetzt darum gehen, ob sich die Türkei an die Moskau-kontrollierten Astana-Abkommen hält und diese Regionen dem syrischen Regime überlässt oder sie als NATO-Mitglied unter die eigene und indirekt unter NATO-, d. h. US-amerikanische, Kontrolle stellt. Die Gefahr einer neuen militärischen, politischen und diplomatischen Eskalation wird davon abhängen, wer die Türkei mehr überzeugen wird.

Offensive nach NATO-Gipfel

Gegenwärtig ist der Druck mit dem Dollar, also der Wirtschaftskrieg, die eigentliche Waffe, mit der die USA die Türkei wieder unter die Kontrolle der NATO bringen wollen. Einem der wichtigen Beschlüsse des NATO-Treffens am 11. Juli in Brüssel zufolge soll unter anderem die NATO die Türkei mit Verteidigungshilfe gegen die Gefahren an der Südflanke beschützen, womit der russische Einfluss gemeint war. Dabei würde die NATO der Türkei mit der Stationierung von Patriot-Raketen an ihrer Grenze helfen. Ferner forderte der US-Präsident, die NATO noch mehr zu stärken, eine Entwicklung, die Grund zur Sorge bot. Seinen Äußerungen, die Verteidigungsausgaben der Partner seien zu niedrig und alle sollten eigentlich vier Prozent ihrer Wirtschaftsleistung ansetzen statt der versprochenen zwei Prozent, die noch nicht einmal von allen erreicht werden würden, folgt heute eine Politik, die erst im Nachhinein verständlich wird. Die USA, und mag man sich über ihren Präsidenten Donald Trump lustig machen, waren mit einem klaren Konzept auf dem NATO-Gipfel. Es geht um eine neue breit angelegte wirtschaftliche, politische und militärische Offensive in Richtung Asien. Nicht umsonst wird das 21. Jahrhundert das »asiatische Jahrhundert« genannt. Das heißt im politischen Klartext, dass sich politische und wirtschaftliche Gewichte vom europäisch-atlantischen zum asiatisch-pazifischen Raum verlagern wer­den. In diesem Verlagerungsprozess spielt der Nahe Osten gegenwärtig eine wesentliche Rolle. Die Schlachten hier werden den zeitlichen Rahmen der Verlagerung bestimmen.

Es ist das historische Schicksal dieser Region, stets zwischen Ost und West, Europa und Asien zu stehen. Viele Imperien in der Geschichte sahen das Gebiet als Sprungbrett für ihre Expansion an, von West nach Ost oder von Ost nach West. Der politische Begriff Mittlerer Osten, der von den Engländern stammt, drückt die Besonderheit dieser Region aus. Der Mittlere Osten, ein Name, den man ständig hört, ist geographisch gesehen kein Kontinent. De facto allerdings wird er wie ein Kontinent gehandhabt. Wollen die östlichen Mächte wie Russland, China und der Iran den Krieg in den Grenzen des Mittleren Ostens halten, dann wollen die USA, die EU weiter nach Osten, d. h. Asien. Parallel zum Krieg im Mittleren Osten verstärken die USA und die EU ihren Einfluss im asiatischen Raum, aber auch auf anderen Kontinenten, während Russland, der Iran und vor allem China auch auf dem europäischen, lateinamerikanischen, afrikanischen Kontinent ihre Macht ausdehnen. Entscheidend für ihre Expansion allerdings wird die Neuordnung im Mittleren Osten sein.

Handel und Wirtschaft als aktuelle Kriegsführungsinstrumente

Im Mittleren Osten haben die USA ihren Druck vor allem auf die Türkei und den Iran rapide erhöht. Mithilfe der Wirtschaft und des Handels soll der Iran geschwächt und die Türkei erneut unter Kontrolle gebracht werden. Wirtschaftssanktionen und neue Handelsregeln werden jetzt als aktuelle Waffe eingesetzt. Beide Staaten haben eine tief verwurzelte Staatsführungstradition im Nahen Osten von über 1000 Jahren und zählen damit zu den führenden in der Region. Sie sind wichtig als Sprungbrett für die globalen Mächte wie die USA, China und Russland.

Sowohl die Türkei als auch der Iran waren am Beispiel des Syrienkrieges daran interessiert, vom politischen Chaos Gebrauch zu machen, um ihre Macht auszudehnen. Nachdem es ihnen nicht so recht gelungen ist, bemühen sie sich jetzt um die Aufrechterhaltung ihres Nationalstaats ohne jegliche Veränderung. Ferner haben sie sich an fast allen Konflikten in der Region beteiligt, um sich selbst vor einer Schwächung zu bewahren. Sie beharren auf dem Status quo des 20. Jahrhunderts und wollen den extrem zentralistischen Staatscharakter beibehalten, um sich gegen den neoliberalen Druck vonseiten der »neuen Nationalstaaten« zu behaupten. Deshalb der Wandel zum faschistoiden Staatscharakter der Türkei nach den Wahlen am 24. Juni. Der radikale Rechtsruck und die Ein-Mann-Führung sollen das Land nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich homogenisieren. Extreme Zentralisierung und Homogenisierung dienen in diesem Zusammenhang dem Selbsterhalt.

Die USA wollen gegenwärtig mit ihrer Handelspolitik, den Sanktionen gegen türkische Minister, dem radikalen Kurswechsel des Dollars gegenüber der Lira etc. den staatlichen Neoliberalismus durchsetzen. Eine wirtschaftlich schwache Türkei wird wieder in eine starke Abhängigkeit von IWF und Weltbank geraten müssen.

Die Frage EU versus USA

Dagegen steht der etwas anders nuancierte politische Kurs der EU. Nicht nur im Falle der Türkei, sondern auch des Iran haben sich mehrere EU-Staaten gegen diese Politik aus den USA gewandt. Während die USA die Türkei über die Finanzkrise verändern wollen, pumpen deutsche Banken Gelder in die türkische Staatskasse. Obwohl Erdoğan durch die USA gegenwärtig zur Persona non grata erklärt wurde, will ihn die Bundesregierung trotz starker gesellschaftlicher Kritik im Land im September mit großem Bahnhof empfangen. Für deutsche Großmachtpläne hat die Türkei nach wie vor eine wichtige Bedeutung. Aber auch die deutsche Unterstützung für den Iran signalisiert, dass die Regierung heute erreichen will, was der deutsche Kaiser mit der Berlin-Istanbul-Bagdad-Bahn bis in den Iran nicht geschafft hat. Damals hatte Großbritannien der deutschen Expansionspolitik einen Strich durch die Rechnung gemacht. Inwieweit die USA Deutschland heute den Rahmen einer Großmachtpolitik einräumen werden, bleibt abzuwarten.

Deutschland, Frankreich, aber auch China und Russland wollen den bisherigen Status quo des 20. Jahrhunderts ähnlich wie die Türkei und der Iran erhalten. Sie stehen nicht für Veränderung. Jedoch ist für die Macht der USA der Drang des Neoliberalismus zur Globalisierung im Gegensatz zu diesen Staaten vital.

Gegen die USA, die die Währungs- und Finanzkrise in der Türkei eskalieren lassen, hat sich Bundeskanzlerin Merkel für eine schnelle wirtschaftspolitische Stabilisierung der türkischen Regierung ausgesprochen. Niemand habe ein Interesse an »einer wirtschaftlichen Destabilisierung« des Landes, erklärte Merkel. Mit diesem Konfrontationskurs gegen die USA setzt Berlin auf eine »wirtschaftlich prosperierende Türkei«.

Den USA geht es jetzt vor allem darum, das türkisch-russische Bündnis zu schwächen und die Türkei damit wieder in den Rahmen der NATO zu holen. Mit diesem Schritt würde Russland einen herben machtpolitischen Verlust erleiden. Für die Machtpolitik Russlands im Nahen Osten reicht seine Präsenz in Syrien nicht aus. Für sie ist die Türkei aus geopolitischen und militärstrategischen Gründen um vieles wichtiger.

Während Russland und der Iran ein großes Interesse daran haben, den Krieg im Nahen Osten auf Syrien zu konzentrieren, planen ihn die USA auf andere Ebenen und in andere Gebiete zu verlagern.

Ein anderes Land, das gegenwärtig in die Enge getrieben wird, ist der Iran. Mit der Ansage, aus dem Atomabkommen mit dem Iran auszusteigen, verkündete der US-Präsident im Mai im Gegensatz zur EU und zahlreichen anderen Staaten seine Politik zur Isolierung des Iran. Bereits seit seinem Saudi-Arabien-Besuch im letzten Jahr hatten die USA gemeinsam mit Israel Schritt für Schritt die Grundlagen zur Schwächung des iranischen Einflusses vor allem im arabischen Raum zu legen begonnen. Mit der von Saudi-Arabien geführten Koalition ist eine arabische antiiranische Koalition gegründet worden. Vor allem setzten sich die USA dafür ein, sämtliche militärischen Gefahren für Israel aus dem Weg zu räumen. Mehrere Militärstandorte in Syrien entlang der Grenze zu Jordanien und Libanon, die de facto unter iranischer Kontrolle standen, wurden systematisch bombardiert.

Bekanntlich hatte der Iran in den letzten sieben Jahren viel investiert, um den »schiitischen Halbmond« als Kontrollzone für seine Mittelostpolitik auszubauen. Persische Macht mit regionalem Anspruch hatte zur Einmischung in etlichen Staaten der arabischen Welt geführt. Der schiitische Halbmond, der unter anderem den Iran, den Irak, Syrien, den Libanon, Bahrain, einen Teil des Jemen und Aserbaidschan einschließt, sollte Irans Interessenpolitik in der Region festigen.

Die immer härtere antiiranische Strategie der USA bezweckt, den Iran mithilfe der arabischen Koalition zu umzingeln und zu isolieren, ferner mit Sanktionspolitik Druck für innere Unruhen zu erzeugen, um der im Ausland geförderten iranischen Opposition an die Macht zu verhelfen. Auch in dieser Hinsicht finden die USA keine große Rückendeckung. Denn sowohl die EU als auch Russland und China sind gegen diese Politik. Dennoch sieht es so aus, als würden die USA keinen Rückzieher machen. Immerhin haben sie einen großen Erfolg mit Nordkorea erzielt. Über militärischen und diplomatischen Druck war es Washington gelungen, Nordkorea in eine für sie akzeptable Lage zu manövrieren.

Washington: Ja zu arabischen Staaten – Nein zum türkischen und zum iranischen Staat

Mit der Stärkung der arabischen Koalition (Saudi-Arabien, Jordanien, Vereinigte Arabische Emirate, Ägypten) bemühen sich die USA und Israel, den Iran unter Druck zu setzen. Pläne zur Schaffung einer »arabischen NATO« als Zusammenschluss von Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, Bahrain, Oman, Kuwait, Qatar, VAE sind auf der Agenda.

Bereits jetzt wurden die Kräfte der arabischen Koalition motiviert, in Syrien sehr aktiv zu werden. Damit soll der iranische Einfluss in Syrien geschwächt werden. Deshalb organisiert vor allem Saudi-Arabien die arabischen Stämme in Syrien, vor allem in Nordsyrien. Denn die Koalitionskräfte sind vor allem gegen das kurdisch geführte Projekt der Demokratisierung in Nordsyrien äußerst aktiv. Es handelt sich bei ihnen um theokratisch-monarchistisch-diktatorische Regime, denen es um den sunnitisch geführten Panarabismus geht. Mit der arabischen Koalition soll in der Region eine nationalistisch-liberale arabische Politik gefördert werden, um den iranisch-schiitischen Einfluss einzudämmen. Diese Politik dient zugleich auch als Schutz für Israel, das den Iran als Erzfeind betrachtet. Die USA wie auch Israel üben starken Druck auf Russland aus, um den Iran aus Syrien zu werfen. Es ist ungewiss, wie Russland sich verhalten wird. Bekannt ist, dass Russland bislang eine pure machiavellistische Politik des Pragmatismus verfolgt hat. Im Falle eines Kompromisses könnte Russland die Existenz des Iran in Syrien einschränken und die iranische Interessenszone unter die eigene Kontrolle bringen. Was es als Gegenleistung von den USA und Israel verlangen würde, wird sich mit der Zeit klären.

Irak – Schauplatz des Machtkampfes zwischen Iran und USA

Im Irak wird sehr deutlich sowohl das Chaos als auch der Krieg zwischen den regionalen und globalen Kämpfen des Mittleren Ostens reflektiert. Er ist gewissermaßen ein Spiegelbild der gesamten Region.

Neben Syrien ist vor allem der Irak ein offenes Schaufenster für den US-amerikanisch-iranischen Machtkampf geworden. Für den Iran war der Irak wichtig, um sich von hier aus bis nach Syrien und damit zum Mittelmeer ausbreiten zu können. Das Mittelmeer bedeutet Kontrolle über den Energietransport, was einen Staat wirtschaftlich sehr mächtig machen kann.

Trotz der Wahlen am 12. Mai konnte bislang keine Regierung gebildet werden. Sie ist in Kürze auch nicht in Sicht und wenn, dann wird sie vom Machtkampf zwischen den USA und dem Iran abhängen. Millionen Menschen haben im Irak gewählt. Bei der Regierungsbildung werden nicht ihre Stimmen, sondern außenpolitische Machtbelange entscheiden. Konkret der Krieg zwischen Iran und USA. Es ist den USA gelungen, den arabischen Nationalismus zu aktivieren. Nach dem Sturz Saddams hatten die arabischen Schiiten des Irak zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Möglichkeit, an die politische Führungsspitze zu gelangen. Den Iran als Zentrum des Schiitentums sahen sie als eine Art natürlichen Bündnispartner an. Unter den arabischen Schiiten war lange Zeit eine einheitliche, zumindest übereinstimmende politische Einigkeit ersichtlich. Doch hat sich auch diese Einheit in den letzten zwei Jahren aufzulösen begonnen. Die Förderung des Panarabismus, also des arabischen Nationalismus, durch die globalen Mächte führte zur Spaltung unter den schiitischen Arabern im Irak. Längst fühlen sich dort nicht alle schiitischen Araber bei ihren Glaubensgenossen im Iran zuhause. Im Irak hat diese Spaltung zwei Zentren des Schiitentums hervorgebracht: des persischen Schiitentums in Qum und des arabischen in Nadschaf. Letzteres ist jetzt zum ideologischen Zentrum des arabischen Schiitentums avanciert, setzt die Priorität auf das Arabische und ebnet damit den Weg, sich auch mit sunnitischen Arabern zu einigen. Führend ist dabei der Wahlsieger Al-Sadr. Der iranische Einfluss ist durch diese Spaltung maßgeblich geschwächt worden.

In Dutzenden Städten Europas haben am vierten Jahrestag des IS-Angriffs auf Şengal vom 3. August 2014 Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen stattgefunden. | Foto: ANF

Was tun?

Für uns Kurden ist es wichtig, im Chaos des Dritten Weltkriegs, der parallel mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln geführt wird, uns im Klaren zu sein und auf die Strategie des »Dritten Weges« zu setzen. Die politische Polarität zwischen Russland, China, Iran, Türkei, Syrien, USA, arabischer Koalition, Israel und zum Teil EU wird schwanken. All diesen globalen wie Regionalmächten geht es um Interessenpolitik. Zeitweilige Überscheidungen mit kurdischer Politik mögen sich ergeben. Daher ist jedem geraten, die Kurden nicht gleich als Kollaborateure mit regionalen oder globalen Kräften zu beschimpfen. Es wird noch ein heftiger Krieg auf uns zukommen. Wir alle, die wir jenseits staatlicher Politik agieren, sollten alles daransetzen, Wege und Möglichkeiten für den Frieden in Erwägung zu ziehen, und uns alle als die Dritte Kraft verstehen. Die Kraft des Friedens.

In den komplizierten gegenwärtigen Verhältnissen war es eine historische Maßnahme, dass die größte kurdische Bewegung in Ostkurdistan (Iran), nämlich die PJAK (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – Partei für ein Freies Leben in Kurdistan), dem iranischen Regime eine Roadmap für den Frieden im Iran vorgelegt hat (s. S. 22). Man mag annehmen, dass all die Staaten aufgrund ihrer materiellen Möglichkeiten viel mächtiger seien als man selbst. Wir können nur stark sein, wenn wir die Alternative durchsetzen. Das Beispiel Syrien hat gezeigt, dass sich im Chaos des Krieges zwischen den globalen wie regionalen Mächten zwei Kräfte behaupten konnten: das syrische Regime mit der vehementen Unterstützung des Iran und Russlands und das kurdisch geführte Modell der Demokratie in Nordsyrien, das mehrheitlich von Menschen aus dem zivilen Bereich in Form von internationaler Solidarität unterstützt worden ist.

Konkret wird sich die kurdische Politik im Iran darauf konzentrieren, mit demokratischen Kräften eine Alternative zum theokratischen Regime zu entwickeln. Eine ausländische Invasion liegt weder im Interesse der Kurden noch all derjenigen, die sich vom Mullah-Regime befreien wollen. Ein Krieg im Iran wird andere schwerwiegendere Folgen mit sich bringen als im »kleinen« Syrien. Welche Gestalt die Zukunft annehmen muss, müssen die Völker und Frauen des Iran bestimmen. Die Entwicklungen signalisieren jedoch, dass nach Syrien der Iran mit Krieg an die Reihe kommt. Die Kurden hier müssen vorbereitet sein und sich wie in Syrien als Motor und Dynamik der Demokratie begreifen. Daher ist der Aufruf der PJAK sowohl an kurdische Parteien in Rojhilat (Ostkurdistan) als auch an iranische progressive Kräfte sowie den iranischen Staat sehr wichtig. Nicht zu vergessen ist, dass in Rojhilat als dem Norden des Iran fünfzehn Millionen Kurden leben. Sie haben für die Revolution in Rojava/Nordsyrien große Sympathien empfunden und viele Frauen und Männer sind zur Hilfe geeilt, als es um Kobanê und Efrîn ging. Das Modell des demokratischen Konföderalismus in Nordsyrien ist auch die bislang beste Lösung für das zentralistisch-theokratische Regime, das die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Ethnien des Landes unterdrückt.

Der Iran sollte von der Türkei lernen

Auch die Türkei stand mit Beginn des Syrienkrieges am Scheideweg. Einerseits war ihr Machthunger geweckt. Der neoosmanische Traum rückte in den Bereich des Machbaren. Aber andererseits hatten die Entwicklungen um Syrien die Türkei in Angst versetzt, da ihr klar war, dass der westliche Liberalismus in Form des Neoliberalismus alle alten Typen der Nationalstaaten aus dem 20. Jahrhundert durch Liberalisierung neugestalten würde. Im Bewusstsein dessen hatte Abdullah Öcalan die Initiative ergriffen und von Ende 2012 bis April 2015 den türkischen Staat zu überzeugen versucht, den »alten« Nationalstaat durch politische und gesellschaftliche Eigendynamik ohne ausländische Intervention über die Lösung der kurdischen Frage zur Demokratie zu bewegen. Erdoğan erklärte Öcalans Konzept für null und nichtig und ließ sich von den Elementen des »Tiefen Staates« vom Neoosmanismus überzeugen. Der Traum einer Großtürkei auf dem Erbe des Osmanischen Reiches und die Betrachtung der Kurden als Erzfeinde haben die Türkei heute in eine Lage gebracht, die äußerst schwer zu bewältigen sein wird. Hätte aber Erdoğan Öcalans Friedensangebot und Friedenskonzept angenommen, so hätte die Türkei heute ein führendes Land für den Frieden in der Region werden können. Ich sehe schwarz für die Türkei. Auch wenn die Bundesregierung Erdoğan Ende September mit allen staatlichen Ehren empfangen will, wird es die Türkei schwer haben.

Eine Chance, den totalen Konkurs der Türkei abzuwenden, kann die Zusammenarbeit progressiver Kräfte mit den Kurden sein. Denn immerhin haben sich fünfzig Prozent der Menschen bei den Wahlen gegen Erdoğans Diktatur und türkischen Faschismus ausgesprochen. Neben der Politik der Militärputsche gibt es auch eine Tradition der revolutionären Bewegungen in der Türkei. Der Druck aus dem Westen wird diese Tradition zur Aktivität zwingen. Dabei fällt den Kurden eine führende Rolle zu, da sie sich trotz staatlicher Gewalt bislang behaupten konnten und ihr gesellschaftliches Demokratiemodell entwickelt haben. Und dies trotz des permanenten Ausnahmezustands. Die Ergebnisse der Wahlen in Nordkurdistan (Türkei) sprechen die Sprache der kurdischen Stärke.

Es wird unter anderem auch im Iran davon abhängen, ob der Staat mit all den Kräften, die er verfolgt, Frieden schließen will oder nicht. Ein erster Schritt wäre der Frieden mit den Kurden. Denn ähnlich wie in Nordsyrien werden sie über die Zukunft des Iran maßgeblich mitentscheiden. Die Kurden stehen für Frieden und Demokratie. Der Iran muss jetzt eine Entscheidung treffen und sollte den Fehler der Türkei nicht wiederholen.

Zeit, den Frieden zu globalisieren

Eine schwere Kriegszeit kommt auf uns alle zu. Eine Alternative zu der schrecklichen Machtpolitik zwischen den regionalen wie globalen Mächten sollten wir alle aufstellen, die kein Interesse am Krieg haben. Das kann aber nicht geschehen, wenn wir uns für eine der Seiten entscheiden und uns spalten. Die Großen streiten sich heute und können morgen wieder zusammenkommen. Machiavelli oder der Großmeister des Pragmatismus Nizam Al-Mulk würden heute staunen, könnten sie die pure Praxis des Pragmatismus erleben.

Wenn wir aber die Welt vor den brutalen Kriegen schützen wollen, müssen wir eine globale Kraft des Friedens schaffen. Aus der Sicht von uns Kurden wissen wir, dass Demokratie und Frieden keinen Platz in der großen Politik haben. Weder bei den USA, dem Iran, Russland, China oder der Türkei noch bei Israel, den arabischen Staaten oder der EU. Noch vor kurzem, im März, haben wir es am Beispiel von Efrîn erlebt.

Gegen die Globalisierung des Krieges ist es heute an der richtigen Zeit, den Frieden zu globalisieren. Frieden im Mittleren Osten kann dazu führen, diese Region auch als Sprungbrett für den Frieden in den asiatischen Raum zu nutzen. Die Kurden als staatenlose Gemeinschaft und Opfer staatlicher Gewalt eignen sich bestens für den Frieden. Da sie staatliche Gewalt sowohl regional als auch global erfahren. Kriege gehen von den Staaten aus. Frieden sollte von uns ausgehen.


 Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018