Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

im medialen Diskurs der vergangenen Sommermonate in Deutschland und Europa war das Sterben im Mittelmeer besonders präsent. Während die Herrschenden weiter Mauern um Europa bauen und mithilfe der »Das Boot ist voll«-Rhetorik den Rechtsruck EU-weit forcieren, kristallisiert sich in der Zivilgesellschaft eine Reaktion dagegen heraus. Aus Geflüchteten-, Antira- und Menschenrechtsgruppen hat sich eine internationale Bewegung »Seebrücke« gebildet, die sichere Einreisewege und offene Grenzen fordert. Wer diese Debatte verfolgt, stößt oft auf die Formel »Flucht­ursachen bekämpfen«. Wenn wir jedoch in einer Welt leben möchten, in der Menschen ihre Heimat nicht aufgrund von Armut, Gewalt und Krieg verlassen müssen, brauchen wir einen radikaleren Blick für das weltweite Geschehen; eine Denk- und Handlungsweise, die der Sache an die Wurzel, auf den Grund geht. Die Revolution in Rojava kann in diesem Sinne als eine radikale Form der Bekämpfung von Flucht­ursachen betrachtet werden. Trotz stärkster Angriffe dauert dieses größte staatenlose Demokratieprojekt mitten im Dritten Weltkrieg seit sechs Jahren unvermindert an und beweist, dass mit einem Politikansatz, der sich primär auf die Organisierung der Gesellschaft stützt und auf seine eigene Kraft vertraut, alles möglich ist!

Der Krieg in Syrien geht währenddessen gegen die dschihadistischen Gruppen in die letzte Runde. Die Anzeichen für eine nahende Operation des syrischen Regimes gegen die islamistische Hochburg Idlib, die unter türkischem Einfluss steht, verdichten sich zunehmend. Währenddessen gab es auch die ersten Treffen zwischen Vertretern der syrischen Regierung mit Vertretern der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Dies zeigt uns, dass die Kurden im neuen Syrien und Mittleren Osten ein politischer Faktor geworden sind, der nicht weiter umgangen werden kann. Ihre Vorschläge für eine Dezentralisierung und Demokratisierung der Nationalstaaten beschränkt sich dabei nicht nur auf Syrien. Im Rahmen des Projekts des demokratischen Konföderalismus vertritt die kurdische Freiheitsbewegung spezifische Programme für die verschiedenen Probleme in der Region, wie wir der Roadmap der Demokratischen und Freien Gesellschaft Ostkurdistans (KODAR) für den Iran in dieser Ausgabe entnehmen können.

Demonstration gegen Erdoğan: Erdoğan not welcome!Die Angriffe gegen die Errungenschaften der kurdischen Gesellschaft und gegen die kurdische Freiheitsbewegung durch die Türkei und die schweigende Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft dauern hingegen an. Sei es die Besatzung von Efrîn, die die Türkei mit ihrer Kriegspolitik an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds gebracht hat, oder der Versuch des Iran, den Krieg gegen die kurdische Guerilla außerhalb des Landes zu tragen. Oder in Südkurdistan, wo die Türkei aufgrund des Widerstands der Guerilla bei Lêlîkan nicht weiter vorankommt. Ihre Drohungen gegen die Kantone in Nordsyrien hält sie dabei immer noch auf der Tagesordnung.

Die deutsche Bundesregierung rückt im Zeichen des 25. Jahrestags des Betätigungsverbots der PKK nicht von ihrer tatkräftigen Unterstützung für die Türkei und ihren Präsidenten Erdoğan, der wegen begangener Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof gehört, ab. Ganz im Gegenteil wird Erdoğan am 28. und 29. September in Berlin mit militärischen Ehren und einem Staatsbankett empfangen. Wir schließen uns den Protesten gegen seinen Besuch an: Ein Ticket nach Den Haag statt Tee in Berlin! Erdoğan Not Welcome!

Die Redaktion


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