Grundlagen entmenschlichenden Umgangs mit kurdischen Frauen

Das nackte Leben von Frauen im Ausnahmezustand

Esra Serhed, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V.

Ereignisse wie etwa Genozid, Verluste durch Tod, Kriegserfahrungen, Enteignung dürfen nicht im Sinne von individuellen Schicksalsschlägen verstanden werden, sondern sollten als historische und kollektive Traumata behandelt werden. Es stellt sich die Frage, wie ein solches transgenerationales Trauma durchbrochen wird, welches unbewusst an die nächsten Generationen weitergegeben wird und teilweise auch ihre Verhaltensweisen beeinflusst.

Raqqa nach der befreiung vom ISDas Gedächtnis hält die Geschichte zusammen. Es ist der Ort, wo Erinnerungen gespeichert werden. Vor diesem Hintergrund haben die nächsten Generationen die historische Verantwortung, sich Teile aus der Vergangenheit im Bewusstsein zu halten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesellschaftlich und juristisch aufzuarbeiten. Mit diesem Artikel soll der Versuch unternommen werden, sich die Geschehnisse in Nordkurdistan nach 2015 bis heute vor Augen zu führen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten und sich niemals wiederholen können. Ein starker Fokus wird hierbei auf das Leben von kurdischen Frauen gelegt, die während der in den letzten zwei Jahren verhängten Ausgangssperren in Nordkurdistan enormen Angriffen ausgesetzt waren. Dieser Artikel versucht die kurdische Frau als femina sacra, die weibliche Version von Agambens homo sacer, und gleichzeitig als widerständiges Subjekt theoretisch zu erfassen. Obwohl Agamben keine feministischen Theorien liefert, ist seine Arbeit dennoch nützlich, um zu verstehen, warum das Recht gegenüber einzelnen oder bestimmten Gruppen von Frauen versagt. Das Homo-Sacer-Konzept von Agamben soll durch die Kategorie femina sacra als nacktes Leben und vergeschlechtlichtes Objekt erweitert werden, indem der Gender-Aspekt in die Machtanalyse einbezogen wird, was Agamben versäumt hat.

Souveränität und Ausnahme

Agamben fokussiert vor allem die Unterscheidung zwischen Staatsbürger*innen (politische Existenz) und bloßem Leben (nacktes Leben) und fragt, wie der Staat und die Rechtsordnung dieses Verhältnis zuerst produzieren, um es dann zu verwalten. Die Grenzziehung zwischen dem Menschen als Subjekt des Rechts und dem Menschen als bloßes Lebewesen ist Agamben zufolge die inhärente Logik der Souveränität. Der Souverän existiert gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Rechts, weil er die Fähigkeit hat, das Gesetz zu schaffen und aufzuheben. Um den Zusammenhang zwischen Ausnahme und Souveränität aufzuzeigen, verweist Agamben auf die folgende These von Carl Schmitt: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Im Hintergrund dieser Aussage leitet Agamben das Wesen der Ausnahme aus der Souveränität ab. »Die Ausnahme ist eine einschließende Ausschließung.« In der Ausnahme gilt die Regel insofern, als sie aufgehoben ist. In diesem Sinne bestätigt die Entscheidung über den Ausnahmezustand nicht nur die Regel der Rechtsordnung, sondern die Ausnahme geht ihr voran und konstituiert ihre Geltungsfähigkeit. Der Ausnahmezustand erzeugt also einen Zustand, in dem das Recht zwar gilt, aber keine Schutzwirkung mehr entfaltet.

Im Zusammengang des nackten oder bloßen Lebens greift Agamben auf die aristotelischen Begriffe für das Leben, bios und zoe, zurück. Der Begriff bios bedeutet das politische Leben – Aristoteles spricht hierbei von einer »höheren und ewigen« Lebensform. In Abgrenzung zum bios meint zoe das einfache, unqualifizierte Leben. Das natürliche Leben, die zoe, wurde aus der polis ausgeschlossen und lag ausschließlich in der privaten Sphäre des oikos. Zur polis hatten nur Menschen Zugang, die Polisbürger*innen und Subjekte des Rechts, also bios waren. In diesem Kontext verweist Agamben auf die Biopolitik, in der das ehemals von der polis ausgeschlossene Leben zum Gegenstand der Politik wurde. Im Unterschied zu Foucault sieht Agamben die Biopolitik nicht nur als eine spezifische Erscheinung der Moderne, sondern als die Herrschaft des Souveräns über das nackte Leben. »Man kann sogar sagen, daß die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist.«

Homo Sacer und das Lager

Agambens Annahme des nackten Lebens als Gegenstand der biopolitischen Macht verweist auf einen aus dem römischen Recht stammenden Begriff des homo sacer. Der homo sacer verkörpert insofern das nackte Leben, als er ohne Rechtsbruch getötet werden kann, den Göttern jedoch nicht geopfert werden darf. Folglich war die Figur homo sacer doppelt rechtlos, weil er von der menschlichen wie auch der göttlichen Rechtsordnung ausgeschlossen war.

Das Zusammenspiel von souveräner Macht und Biopolitik produziert nach Agamben die Linie zwischen dem, was leben soll, und dem, was nicht lebenswert ist. Es ist diese Linie zwischen Leben und Tod, auf der Agmaben die homines sacri als »lebende Tote« positioniert. In diesem Zusammenhang verändert sich die Biopolitik dahingehend, dass sie nicht mehr auf Lebenssteigerung ausgelegt ist, sondern zur Politik des Tötens – zur »Thanatopolitik« – wird. Der Ort, an dem Biopolitik und Thanatopolitik in Agambens Denken zusammenfallen, ist das Lager. Als Lager bezeichnet Agamben den Ort, wo homines sacri systematisch produziert und getötet werden können. Wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird, dann entsteht das Lager als Raum der Ausnahme und alle Menschen, so Agamben, sind potenzielle homines sacri.

Die Kategorien Leben und Tod, Recht und Gewalt, bios und zoe geraten in eine »Zone irreduzibler Unterscheidbarkeit«, welche in der Moderne sehr unpräzise und beweglich ist und durch den Souverän immer wieder neu bestimmt werden muss.

In Bezug auf das nackte Leben von Frauen macht die souveräne Macht eine Ausnahme: Frauen werden zwar oft als nacktes Leben ausgeschlossen, aber auch als sexualisierte Wesen positioniert. In Kriegssituationen übernehmen Frauen somit zwei Rollen: Sie gelten zugleich als Träger*innen der Ehre und der Schande des Kollektivs. Bei der Ersteren wird ihre Sexualität als Herrschaftsinstrument benutzt, während die Zweite als rein, hilflos und somit als rettungsbedürftig gilt.

Kurdische Frauen und femina sacra

Besonders für Frauen hat sich die Atmosphäre unter dem Ausnahmezustand in der Türkei seit 2015 gravierend verändert. So beschloss der türkische Staat die Inhaftierung der gewählten Bürgermeister*innen und Aktivist*innen sowie die Schließung von Frauenvereinigungen und -häusern oder ihre Umbenennung zu Koranschulen und Institutionen für Eheschließungen nicht in einem außerrechtlichen Raum, sondern auf dem »Schachbrett« des Rechts. Der Ausnahmezustand ist die rechtliche Bedingung dafür, dass kurdische Frauen ohne Anklage und ohne rechtlichen Schutz verhaftet und willkürlicher Gewalt unterworfen werden.

Die Verhaftung von dutzenden Aktivistinnen, an die sich Frauen in Fällen von Gewalt wenden konnten, hat zweifelslos die Zunahme häuslicher und staatlicher Gewalt gegen Frauen gefördert. Frauen sind zugleich der Gewalt außerhalb des Gesetzes, und zwar der »masculine sovereignty of the household« unterworfen. In diesem Sinne kann das Fehlen eines Raumes für Schutz und soziales Leben, auf den Frauen nicht mehr zurückgreifen können, als ein politisches Mittel der Isolationspolitik gesehen werden. Mit dem Wegbrechen dieser Strukturen wurden kurdische Frauen aus dem politischen Leben – in Agambens Worten aus dem bios – verdrängt und wieder auf ihre alte Rolle zurückverwiesen. Als »ethnisierte« und »weibliche« Subjekte sind kurdische Frauen unter dem Ausnahmezustand in doppelter Weise gefährdet, femina sacra zu werden.

Während in den 90er Jahren kurdische Aktivist*innen von Paramilitärs oder Polizisten erst verschleppt und dann getötet wurden, hat sich die Atmosphäre im Ausnahmezustand dahingehend verändert, argumentiert Meral Çiçek, dass der türkische Staat heute öffentlich und unverdeckt tötet. »Als sei das Töten von Kurden vollkommen legitim und rechtens.« Das Schweigen der türkischen Politik spiegelt diese Realität wider. Im Zuge der sogenannten Sicherheitsoperationen ist bisher keine Person wegen des Tötens von Kurd*innen verurteilt und kein politisch Verantwortlicher suspendiert worden. In der Stadt Cizîr (Cizre) im Südosten der Türkei, wo im Zuge der 79 Tage dauernden Ausgangsperren 288 Menschen getötet, circa 3000 Gebäude zerstört oder beschädigt wurden, sind bisher nur gegen einen Sicherheitsbeamten Ermittlungen eingeleitet worden. Statt eine Untersuchung der Todesfälle einzuleiten, beschuldigte der Staat die im Keller getöteten Menschen der Terrorunterstützung und ergriff repressive Maßnahmen gegen ihre Familienangehörigen. Der Bruder einer Frau, die im Keller von Cizîr getötet worden war, berichtete Folgendes:

»On 25 February, my family was summoned by the public prosecutor. We were given three small charred pieces of what he claimed was my beloved ablam (sister)’s body.« (zit. n. vgl. UNHRC 2017).

Dass der türkische Staat einer Familie die sterblichen Überreste ihrer getöteten Tochter, die aus drei kleinen Stücken verkohlten Fleisches bestanden, übergeben oder den Leichnam von Taybet Inan, nachdem er sieben Tage auf offener Straße lag, ohne Wissen der Familie an einem unbekannten Ort beigesetzt hat, zeigt, dass kurdische Frauen aus Sicht des türkischen Staates die »Unbetrauerbaren« darstellen – in Worten von Zygmunt Bauman (2005) als »Abfall« entsorgt werden.

Die Notstandsgesetze des türkischen Staates haben dazu geführt, dass der ursprünglich temporäre Ausnahmezustand in Nordkurdistan zu einer permanenten und normalen räumlichen Anordnung wurde, die Agamben als Lager illustriert. Diejenigen, die dieses Lager betreten, sind von den Normen der Rechtsordnung abgewichen, bereits ihrer Staatsbürgerschaft beraubt und völlig auf das bloße Leben reduziert. Da sie ihrer Menschlichkeit beraubt sind, können sie jederzeit getötet werden, sind aber aufgrund ihrer Taten nicht opferwürdig. Sie bewegen sich in einer Zone der Unbestimmtheit zwischen innen und außen, Gesetz und Ausnahme, in der subjektives Recht und Rechtsschutz keinen Sinn machen. Hier zeigt sich nach Agamben die Dynamik der Biopolitik, wo die souveräne Macht Frauen in feminae sacrae verwandelt. Dieser Moment markiert nach Agambens Vorstellung den Punkt, an dem die Entscheidung über das Leben zu einer Entscheidung über den Tod wird und Biopolitik zu einer Thanatopolitik werden kann.

Vor allem im Rahmen der Ausgangssperren in Nordkurdi­stan hat die menschenunwürdige Praxis in Form von Entblößen und Schänden von Leichen ihren Höhepunkt erreicht. Die Politik der Entblößung des toten Körpers als Einschüchterungspraxis in den 1990er Jahren wurde mit der Guerillakämpferin Ekin Wan, die am 20. August 2015 durch Sondereinheiten des türkischen Militärs in Gimgim (Varto)/Mûş (Muş) getötet, geschändet, anschließend nackt auf die Straße geworfen wurde, erneut zum Mittel der türkischen Kriegspolitik. Durch diese Praxis versucht der türkische Staat die Kontrolle über die kurdische Gesellschaft zu erlangen, indem er die »Trägerinnen« ihrer kulturellen Werte schikaniert und entblößt. Der Körper der entblößten, getöteten kurdischen Frau symbolisiert zugleich die Unterwerfung der kurdischen Nation. Es ist nicht nur die Frau, die hierbei erniedrigt, geschlagen oder getötet wird, sondern das ganze kurdische Volk. Denn der Staat als von außen eindringende Besatzungsmacht hat sich bereits als den »starken Mann« und Kurdistan als eine zu erobernde, zu plündernde »Frau« definiert. Der Körper von kurdischen Frauen, der »neither saving nor sacrificing« wert ist, wird zum Terrain, auf dem der türkische Staat seine souveräne Macht inszenieren kann. Diese Kriegspraktik offenbart, dass das, was einer Rettung bedurfte, nicht die kurdischen Frauen an sich waren, sondern die »hypermilitarized masculinity« türkischer Soldaten.

Das Prinzip der »Straflosigkeit der türkischen Männlichkeit« setzte sich von der Entblößung von Frauenkörpern bis hin zum Ausstellen des privaten Bereichs, der zoe, fort. Die türkischen Sicherheitskräfte sind in die Häuser der Menschen eingedrungen, die diese während der Ausgangssperre verlassen mussten, und haben sie in Militärbasen verwandelt und den privaten Raum besetzt. Somit wurden Frauen nicht nur aus der Öffentlichkeit in den privaten Bereich gedrängt, sondern auch ihr privates Leben wurde zum Angriffsziel des türkischen Staates. Für Agamben ist dies kennzeichnend für das »Eintreten der zoe in die Sphäre der Polis«. Menschen, die nach kurzer Zeit in ihre Stadt zurückkehrten, wurden auf der einen Seite mit der Zerstörung ihrer Häuser und auf der anderen Seite mit den an die Wände geschmierten rassistischen und sexistischen Sprüchen konfrontiert. An den Hauswänden sind die Sprüche am sichtbarsten, welche die türkischen Sicherheitskräfte hinterlassen haben: »Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet«, »Gehorche den Türken«, »Armenische Bastarde« oder sexistische Sprüche wie »Mädels, wir sind tief in eure Höhle eingedrungen«.

Hierbei stellt sich die Frage, warum »die starken Männer« des türkischen Staates, die über schwere Waffen verfügen und ihr Vorgehen als rechtmäßig ansehen, dennoch Wände mit Sprüchen beschmieren und dies öffentlich machen. Das Schreiben und das Öffentlichmachen von Sprüchen durch türkische Sicherheitskräfte können nicht losgelöst von kolonialer Geschichte und Praxis analysiert werden. Im Zuge der Ausgangsperren in den kurdischen Regionen hat sich eine Geschichte von mehr als 40 Jahren wiederholt. In der Tat verweisen viele Losungen wie »Wenn du Türke bist, dann sei geehrt, wenn nicht, dann gehorche ihm« (»Türksen Övün Değilsen İtaat Et«) oder »Wir sind gekommen – Republik Türkei« (»TC burda«) auf vergangene Massaker und Staatsterror. Der türkische Staat kündigt eine neue Form der Besatzung und Eroberung an, indem er an die Wände schmiert. Die Souveränität des türkischen Staates soll nicht nur physisch, sondern auch symbolisch zu jeder Zeit widergespiegelt, verkörpert, gespürt und gesehen werden.

Trotz der Unterdrückung und Verachtung kurdischer Frauen durch den türkischen Staat wäre es verkehrt, sie nur als Opfer beziehungsweise als feminae sacrae zu betrachten. Frauen in Kurdistan agieren seit den 80er Jahren als wichtige politische Subjekte des Widerstands. Das Leben von Frauen in Kurdistan ist durch eine lange Widerstandstradition geprägt. Die Beteiligung kurdischer Frauen sowohl am bewaffneten Kampf als auch an der lokalen Politik sowie an Protesten hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse in der kurdischen Gesellschaft. Auch heute widersetzen sich kurdische Frauen ihrer Rolle als femina sacra und schaffen unter schwierigen Bedingungen Gegenräume.

Quellen:
Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bauman, Zygmunt (2005): Wenn Menschen zu Abfall werden. In: Zeit: Interview. https://www.zeit.de/2005/47/st-bauman_alt/komplettansicht, Zugriff am 13.04.2018).
Çiçek, Meral (2016): Über den Zusammenhang von Leben, Tod und Widerstand. Das Recht auf Leben und die Unbetrauerbaren von Kurdistan. In: Kurdistan Report 184 (März/April 2016).
Loick, Daniel (2012): Kritik der Souveränität. Frankfurt am Main [u. a.]: Campus-Verl.
Lentin, Ronit (2006): Femina sacra: Gendered memory and political violence. In: In Framing Gendered Identities: Local Conflicts/Global Violence, Women’s Studies International Forum 29(5). p. 463–473.
Yildiz, Rojda (2018): Direnişin ve kırımın görünmeyeni: Kürt kadınlar. In: GazeteKarinca. (http://gazetekarinca.com/2018/01/direnisin-ve-kirimin-gorunmeyeni-kurt-kadinlar-rojda-yildiz/, Zugriff am 02.05.2018).


 Kurdistan Report 200 | November/Dezember 2018