Aktuelle Bewertung

36 Jahre Kurdistan Report – 36 Jahre Entwicklung kurdischer Politik

Nilüfer Koç, Ko-Vorsitzende des Nationalkongresses Kurdistan (KNK)

200. Ausgabe Kurdistan ReportFür die 200. Ausgabe des Kurdistan Reports eine Analyse der politischen Entwicklungen zu schreiben, ist für mich eine große Ehre und Freude. Zuallererst möchte ich mich bei den Redaktionsmitgliedern des Reports herzlichst für ihre unermüdliche Arbeit durch die Jahre bedanken. Seit November 1982 erscheint der Kurdistan Report. In all den Jahren hat er beharrlich den politisch motivierten Manipulationen der Mainstream-Medien beim Thema Kurdistan entgegengewirkt. Auch möchte ich mich bei all den treuen Lesern und Leserinnen des Reports bedanken, die stets ein Interesse daran hatten, aus erster Hand Informationen aus Kurdistan zu erhalten.

Die 36-jährige Geschichte des Kurdistan Reports spiegelt auch ein Stückchen die Wahrheit des kurdischen Freiheitskampfes in den letzten 36 Jahren wider. Es ist die Geschichte eines Kampfes gegen den Strom der materiell Überlegenen. Es war und ist die Überzeugung, dass es, koste es, was es wolle, für die Wahrheit gegen den starken und großen Strom und Sturm zu schwimmen gelte. Der Report erschien stets in Deutschland. Oft wurden Räumlichkeiten, in denen der Report erstellt wurde, von der deutschen Polizei durchsucht. Erst Schreibmaschinen, dann später Computer und Drucker wurden unzählige Male beschlagnahmt. Dennoch haben es die Redaktionsmitglieder, Autoren des Kurdistan Reports geschafft, 36 Jahre lang trotz politischer und polizeilicher Repression in Deutschland der Stimme der kurdischen Gesellschaft Gehör zu verschaffen.

Heute zur 200. Ausgabe kann ich mit Sicherheit sagen, dass in der internationalen Politik die Ignorierung, Negierung oder Leugnung der Kurden nicht mehr wie im vergangen Jahrhundert möglich ist. Auch ist es nicht möglich, sie militärisch mundtot zu machen, wie es die Türkei in den letzten vierzig Jahren mit modernster Technologie tut. Die Kurden stehen an einer Schwelle. Rationale, flexible Politik auf kurdischer Seite, die sowohl die globalen als auch regionalen Machtkämpfe kalkuliert, kann es ermöglichen, die Schwelle zu überschreiten und diesem Volk mit seinen 45 Millionen in der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien endlich verfassungsrechtliche Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts zu gewährleisten. Schaffen es die Kurden, würde dieser Erfolg eine Kettenreaktion auslösen, mit der auch die Frage anderer ethnischer und religiöser Gemeinschaften in deren Ländern gelöst wird. Selbstverständlich wäre damit auch ein großer Beitrag zur Demokratisierung dieser Staaten ermöglicht.

Die im 20. Jahrhundert politisch konstruierte kurdische Frage, deren Instrumentalisierung für die Interessen der Großmächte sich im Nahen Osten im vergangenen Jahrhundert bestens geeignet hat, bietet heute nicht mehr dieselben Möglichkeiten. Während die regionalen und internationalen Mächte mit altbekannten Methoden wie »teile und herrsche« oder der sogenannten kurdischen Karte mal auf Konfrontation, mal auf Kooperation setzten, haben die Kurden es geschafft, sich als passives Glied, als Opfer aus diesem langen Spiel zum größten Teil zu befreien. Die Kurden reden heute mit. Sowohl in der globalen als auch in der regionalen Politik. Sie können nicht mehr übersehen werden.

Als mit dem Kurdistan Report im November 1982 begonnen wurde, war die kurdische Frage den Staatspolitikern und einigen politischen Insidern oder Akademikern bekannt. 1982 war die Zeit der nackten Gewalt in der Türkei. Nach dem Militärputsch 1980 herrschte die Diktatur des Militärs. Mehrere zehntausend kurdische und türkische progressive und revolutionäre Menschen wurden in den Gefängnissen gefoltert, ermordet. Viele flohen ins europäische Ausland. Die weltweite Öffentlichkeit wusste kaum etwas über die Ausmaße dieser Schreckensherrschaft. Die Türkei als NATO-Mitglied profitierte von ihrer geostrategischen Lage gegenüber dem Warschauer Pakt. Nicht nur die NATO, auch die Sowjetunion schwieg zur Brutalität des türkischen Staates. Denn auch sie wollte ihre bilateralen Kontakte zur Türkei pflegen, um deren Zugehörigkeit zur NATO auszubalancieren. Dieses Spiel widerspiegelt und wiederholt sich heute im Norden und Osten von Syrien zwischen den USA und Russland.

In diesen 36 Jahren tut Russland das, was es kennt. Das alte russische Spiel mit den Kurden wiederholt sich wie mit einem Leierkasten. Es ist oft furchtbar langweilig, diese alte Realität in der neuen Zeit immer wieder zu erklären. Als ganz neuer Akteur nach dem Zerfall der Sowjetunion ist jetzt die globale Macht, die USA, auf der Bühne. Ob sie das britisch-französische Erbe des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der Kurden übernehmen wird, ist noch nicht ganz klar. Immerhin sehen die USA vor, im Rahmen ihrer Greater-Middle-East-Politik die Region im Sinne des Neoliberalismus umzustrukturieren. Dafür setzten sie wie beim Beispiel Irak darauf, die Aufteilung von Staaten nach ethnischer und religiöser Zugehörigkeit in föderale Strukturen zu forcieren.

Die entscheidende Frage zwischen den USA und den Kurden wird sein, inwieweit eine Zusammenarbeit vor allem zweier verschiedener Pole aussehen kann. Auch wenn die US-Politik die Präsenz der Kurden nicht übersieht, so ist auch ihr an Kurden gelegen, die sich ihren Interessen entsprechend verhalten. Also Kurden, die der US-amerikanischen Weltanschauung folgen. Und weil Abdullah Öcalan und die PKK in vielen Punkten anders denken und dementsprechend ihre eigenen politischen Alternativen schaffen, musste Abdullah Öcalan vor zwanzig Jahren am 9. Oktober 1998 aufgrund des Drucks aus Washington Syrien verlassen. Und nach fünf Monaten am 15. Februar 1999 folgten seine Entführung und Auslieferung an die Türkei.

Die US-Politik bietet den Kurden das Existenzrecht. Allerdings ist es vonnöten, dass sie auch offen ist für die kurdische Lösung in Kurdistan und dem Nahen Osten. Die Strategie des dritten Weges, die Öcalan für die kurdische Politik vorschlug, eignet sich gut, um Kompromisse zu finden. Auch Öcalans Strategie »Staat plus Demokratie« macht es für die kurdische Seite einfacher, mit kontroversen Kräften den Dialog zu finden. Das bedeutet, den jeweiligen Staat, der den Kurden Steine in den Weg legt, nicht frontal anzugreifen oder militärisch zu bekämpfen, sondern dass der Staat neben dem demokratischen Modell bestehen kann. Also die Existenz zweier Pole basierend auf gegenseitigem Respekt.

Als es mit dem Kurdistan Report vor 36 Jahren begann, war die Türkei der leuchtende Stern der NATO. Heute nach 36 Jahren erlischt dieser Stern und hat immense Probleme mit der NATO. Der Warschauer Pakt, die Sowjetunion existieren nicht mehr. Die Türkei hat den tiefsten Punkt ihrer Staatsgeschichte erreicht. Und aus ein paar tausend Kurden 1982 sind zig Millionen geworden. Der wesentliche Erfolg der kurdischen Freiheitsbewegung war die Aufdeckung der kurdischen Frage als eine regionale und globale Frage. Aber auch der Mittäterschaft aller Staaten, die Kurden ihren Interessen opferten. Dabei ging es nicht nur um die Türkei, den Iran, den Irak oder Syrien. Vor allem gelang es Öcalan und der PKK, die europäische Verantwortung aufzudecken. Nun stehen die Frage und diejenigen, die sie schufen, ganz offensichtlich da. Der Kurdistan Report hat vor allem in diesem Zusammenhang die deutsche Mitverantwortung bei Repression und Verfolgung aufgedeckt. Es ist verstanden worden, dass die kurdische Frage nicht eine Frage der Kurden ist, sondern von Machthabenden künstlich als Schlagstock geschaffen wurde. Diese aufgedeckte Wahrheit stellt für viele mitverantwortliche Staaten eine Herausforderung dar.

Heute nach 36 Jahren sind die Kurden auf fünf Kontinenten bekannt. Sie genießen weltweit große Sympathien. Mit der Entwicklung des Modells des demokratischen Konföderalismus des Nahen Ostens stellen die Kurden eine Alternative zum globalen Greater Middle East Project dar. Kurdistan und die kurdische Frage, bisher als Instrument der Destabilisierung geltend, agieren mit ihren demokratischen Projekten in der Region als stabilisierende Kraft. Schaut man sich aber nach 36 Jahren der kurdischen Frage nach all den anderen Akteuren um, so wird man feststellen, dass sie wenig Neues zu bieten haben.

Dreidimensionaler Befreiungskampf

Neben der nationalen Ebene, welche die politische Einheitsfrage auf kurdischer Seite bedeutet, muss die regionale, also die türkische, arabische und persische Haltung, des Weiteren auch noch die globale, unter anderem US-amerikanische, europäische und russische, Ebene gesehen werden. Die kurdische Frage hat drei Dimensionen: national, regional und global. Alle drei stehen in direktem Verhältnis zueinander. Für die Kurden heißt es, den Freiheitskampf in diesen Dimensionen, parallel, ineinander verschränkt zu führen. Was dank Öcalans Vorschlägen heute möglich ist. Die absolute Dezentralisierung von Entscheidungsorganen der kurdischen Bewegung macht es ihr möglich, flexibel, spontan und sofort national, regional und global zu handeln. Vor allem die Türkei ist seit dem Syrien-Krieg bemüht, die Kurden auch in all diesen Dimensionen zu diskreditieren, um sie von einer Lösung abzuhalten.

Der mehrdimensionale Krieg der Türkei gegen die Kurden

Angesichts der momentanen türkischen Staatspolitik kann gesagt werden, dass es gegenwärtig die Türkei ist, die auf allen drei Ebenen eine antikurdische Strategie verfolgt. Auf nationaler Ebene ist die Türkei bemüht, einen innerkurdischen Krieg vor allem in Südkurdistan (Irak) zwischen der PKK, PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und YNK (Patriotische Union Kurdistans) zu entfesseln. Die Kurden sollen sich in einem »Bruderkrieg« gegenseitig schwächen. Das wäre für die Türkei auch eine sehr kostengünstige Variante des kurdischen Krieges. Ohnehin geht es dem Land wirtschaftlich miserabel. Zumal die USA die Türkei über den Wirtschaftskrieg wieder auf ihre Seite bringen wollen. Daneben führt die Türkei auch einen Krieg gegen die Kurden in Syrien. Auch hier versucht sie sie gegeneinander auszuspielen. Ferner setzt sie den Islamischen Staat und ähnliche Banden militärisch gegen die Kurden ein.

Auf regionaler Ebene trachtet die Türkei danach, auch den Iran zu einem antikurdischen Kurs zu bewegen. Vor allem nach den strikten Sanktionen und der Kriegserklärung der USA gegen den Iran zieht die Türkei den Nutzen daraus und sucht dessen Hilfe für die Bekämpfung der Kurden. Trotz US-amerikanischer Drohungen gegen den Iran haben die Kurden, bis auf wenige schwache Parteien, keinen Konfrontationskurs gegen ihn eingeschlagen. Die PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan) als die größte kurdische Partei in Ostkurdistan (Rojhilat) setzt nach wie vor auf eine politische Lösung der kurdischen Frage durch Demokratisierung des gesamten Iran. Allerdings gibt die PJAK auch zu verstehen, dass sie sich, wenn sich der Iran mit der Türkei in ein antikurdisches Bündnis begibt, nicht scheuen wird, gegen Angriffe in die Offensive zu gehen. Dem iranischen Regime hat die PJAK vor ein paar Wochen eine Roadmap zur politischen Lösung inklusive Konzept für die Demokratisierung des Landes öffentlich vorgestellt [vgl. Kurdistan Report 199, S. 22ff.].

Türkei zieht Iran in die kurdische Sackgasse

Die Antwort des Iran auf das kurdische Angebot erfolgte mit seinem Raketenangriff auf Stellungen der PDK-Iran in Koy (Südkurdistan), dem Erhängen dreier kurdischer Politiker der Komala-Bewegung und der Ermordung dreier PJAK-Mitglieder in Sine (Sanandadsch, Ostkurdistan), all diese Brutalitäten kurz nach dem türkisch-iranischen Gipfel am 7. September in Teheran. Die Türkei hat dem Iran als Gegenleistung die Sicherheit angeboten, sich im Falle einer Verschärfung der US-amerikanischen Politik neutral zu verhalten, anstatt sich ihr anzuschließen. Damit ist die Türkei bemüht, auch den Iran in die kurdische Sackgasse zu zerren, in der sie gegenwärtig steckt und die sie in den Absturz treibt.

Türkei will auch Bagdad in antikurdische Strategie einbeziehen

Während die Türkei auf der einen Seite von einem Bündnis mit der PDK profitiert, agiert sie andererseits mit der Zentralregierung in Bagdad gegen die Kurden im Norden deren Landes. Vor allem nach dem gescheiterten Referendum letzten Jahres in Südkurdistan mobilisiert sie die sunnitischen Turkmenen gegen die Kurden in den kurdischen Gebieten, die nach Artikel 140 der irakischen Verfassung kurdische Gebiete sind, aber nicht der KRG (Regionalregierung Kurdistan), sondern der Zentralregierung in Bagdad unterstehen. Vor allem hat es die Türkei auf die Erdölstadt Kerkûk abgesehen. Der türkische Konsul in Hewlêr (Erbil) spricht in letzter Zeit sehr öffentlich von Kerkûk als turkmenischer Stadt.

Die Ermordung des êzîdischen Politikers Zekî Şengalî in Şengal (Sindschar) am 15. August 2018 war ein Resultat dieser Politik. Zekî Şengalî, der auch Mitglied im Vorstand der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) war, wurde durch einen türkischen Luftangriff ermordet. Der Angriff ereignete sich kurz nach dem Besuch des irakischen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi in Ankara.

Die Genehmigung für die Benutzung des Luftraums erhielt die Türkei sowohl von Bagdad als auch von den USA. Welche Gegenleistung sie dafür angeboten hat, ist bislang unklar. Allerdings hat es dazu geführt, dass vor allem das Vertrauen der êzîdischen Kurden in die Zentralregierung in Bagdad erschüttert worden ist. Die Türkei macht dem Irak Zugeständnisse für die Bombardierung der Stellungen der PKK in Südkurdistan/Nordirak. Der Grund, warum die arabische Führung Bagdads zu den grenzüberschreitenden Bombardierungen schweigt, ist der Umstand, dass die Türkei quasi auch im arabischen Interesse die Kurden zu schwächen sucht.

Mauerbau als Zeichen der Angst und Panik

Das Jonglieren der Türkei in Syrien zwischen Russland und den USA ist nicht mehr so einfach wie einst zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Mit Russland einigt sich die Türkei auf Kosten der Kurden. Mit den USA streitet sie sich auch auf Kosten der Kurden. Nur wer antikurdisch handelt, kann protürkisch sein. So offen und nackt ist die türkische Kurdenphobie. Die Türkei rächt sich an den Kurden, weil sie ihre Expansionspolitik im politischen Vakuum in Nordsyrien und im Nordirak behindert haben. Die Versprechungen Erdoğans, die Türkei bis zum 100. Jahrestag des Lausanner Vertrages zur Großtürkei zu machen, sind gescheitert. Sie sahen die Annexion der von Kurden besiedelten nördlichen Teile Syriens und des Irak vor.

Seit letztem Jahr allerdings klammert sich Erdoğan an die Bestimmungen des Lausanner Vertrages, um den türkischen Nationalstaat in seinen bestehenden Grenzen zu bewahren. An der Grenzlinie errichtet die Türkei jetzt eine Mauer. Zwischen Nordsyrien und der Türkei hat sie 800 km gebaut. Nun hat sie auch mit dem Mauerbau an ihrer Grenze zum Iran (Ostkurdistan) begonnen. Ihre Grenze zum Irak (Südkurdistan) versucht sie über den militärischen Gürtel zu schützen. Hier wurden im letzten Jahr neben den bereits existierenden 30 Militärkasernen weitere 22 gebaut.

Wer heute von einer starken Türkei spricht, sollte diese Mauer gesehen haben. Das Leben wird hinter den Mauern abgeschottet.

Autoritarismus als weitere Maßnahme zum Erhalt des Nationalstaats

Mit der absoluten Zentralisierung der Staatsmacht in Person Erdoğans hat die Türkei das Niveau eines totalitären faschistoiden Regimes erreicht. Sie befindet sich in ihrer Endphase als Nationalstaat, basierend auf »einer Nation, einer Flagge und einer Sprache«. Die Kurden drängen auf Demokratie, die arbeitenden Massen drängen auf Brot. Die USA drängen mit der Wirtschaftskrise auf Neoliberalismus. Der Staat bekämpft nicht nur die Kurden, sondern auch diejenigen, die nach Brot verlangen. Er droht den USA mit Deutschland, Russland und dem Iran als Partner. Mit Russland und dem Iran als Partner kann es die Türkei nicht weit bringen. Denn den Iran wird die Türkei nicht direkt gegen die USA unterstützen. Die Türkei wird es lediglich über den Kampf gegen die Kurden versuchen. Der Iran kann es sich aber nicht leisten, die Kurden gegen sich aufzubringen, da sie die Möglichkeit hätten, mit den USA in näheren Dialog zu treten. Außerdem hat der Iran auch ein großes Machtproblem mit der saudisch geführten arabischen Koalition. Diese hätte es auch lieber, wenn die Kurden ihr näherkämen. Nun stehen die Perspektiven eher besser für die Kurden als für die Türkei. Auch im Falle Russlands. Zwar ist Moskau bemüht, Ankara von Washington fernzuhalten, es muss jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die US-amerikanische Annäherung an die Kurden auch enger werden kann. Immerhin leben die Kurden vor allem in Syrien an den strategisch bedeutenden Stellen im Norden und Osten des Landes. Nicht nur die Flüsse, auch das meiste Erdöl und -gas sind gegenwärtig auf kurdisch kontrolliertem Territorium.

Da aber ganz offensichtlich die Astana-Partner Iran und Russland der Türkei bei dem von den USA begonnenen Wirtschaftskrieg nicht helfen können, bettelte Erdoğan nun in Berlin um Geld. Weder Russland noch der Iran sind in der Lage, die Türkei aus der Wirtschaftskrise zu befreien. Erdoğan, der noch bis vor einigen Monaten Frau Merkel und die Deutschen als Hitler und Nazis beschimpft hatte, war gezwungen, diese Peinlichkeit zurückzunehmen. Auch hatte er den USA im Falle des inhaftierten Pastors getrotzt. Mehrere hundert Male verkündete er, der Pastor werde in Haft bleiben, doch weil sich die Staatskassen aufgrund des steigenden US-Dollars und der sinkenden Türkischen Lira leerten, musste er auch hier einen Rückzieher machen. Der Staat hat in der Person Erdoğans tatsächlich sein Gesicht verloren. Selbst der Meister des Pragmatismus Machiavelli wäre über Erdoğans Prinzipienlosigkeit erstaunt gewesen.

Nun stellt auch die Bereitschaft der Bundesregierung, diesen prinzipienlosen Mann in Ehren zu empfangen, ihre eigene Politik infrage. Ein weiteres Mal ist es klar geworden, dass, wenn es um staatliche Interessen geht, die Demokratie zu kurz kommt. Die Mehrheit der Bürger in Deutschland lehnte den Erdoğan-Besuch ab, da sie nicht zu Komplizen eines Diktators werden wollten. Ferner hatte Erdoğan die Deutschen als Nazis beschimpft gehabt. Die Bürger Deutschlands haben mehr Rückgrat und Anstand gezeigt als der Staat. Da dürfen sich die SPD-Politiker wie Bundespräsident Steinmeier und Außenminister Maas nicht wundern, wenn die Menschen bei der Wahl in Bayern sie nicht mehr in der Politik haben wollen. Auch stellt sich die Frage, wie lange die Bundeskanzlerin mit der Linie des Pragmatismus noch weiterkann. Über die Wahlergebnisse in Bayern sollte doch viel debattiert werden. Deutschland steht vor einer Herausforderung. Zwischen Interessenpolitik und Demokratie. Wir hoffen doch, dass die Demokratie durchkommt. Nicht nur für die Deutschen, sondern auch für uns Kurden in Deutschland.


 Kurdistan Report 200 | November/Dezember 2018