Ein Rückblick auf das Jahr 2018

Die demokratische Moderne der Völker gegen die zunehmende Brutalität der kapitalistischen Hegemonie

Sinan Önal, kurdischer Politiker und Ko-Vorsitzender der HDP-Vertretung in Deutschland


In Jahresbewertungen werden im Allgemeinen verschiedene Aspekte beleuchtet, analysiert und in einer umfassenden sachlichen Analyse und Zusammenfassung dargelegt. Relevante Aspekte sind dabei unter anderem die Frage nach dem Erfolg bei der Umsetzung unserer Pläne und Ziele, die Intensität des Kampfes, der Wirkungsgrad der kämpfenden Kräfte und die Lage der passiven und aktiven Akteure. Die kurdische Freiheitsbewegung blickt zurück auf ein sehr ereignisreiches Jahr in Kurdistan, dem konfliktreichsten Gebiet zwischen den globalen Hegemonialmächten und den regionalen Nationalstaaten. In Kurdistan wurde ein Kampf um Hegemonie geführt, sei es durch die lokalen Nationalstaaten wie Syrien, die Türkei, Iran und Irak oder durch die USA und Russland mit ihren jeweiligen Verbündeten. Die Freiheitsbewegung führte in diesem Rahmen sowohl gegen die regionalen kolonialistischen Nationalstaaten einen sehr entschlossenen Widerstand als auch gegen den Islamischen Staat, den sie zurückdrängen und besiegen konnte.

Das vergangene Jahr ist Teil einer historischen Phase, in der die kapitalistische Moderne der Menschheit keinerlei Halt mehr bietet. Wir können diese Zeit auf kurze Sicht als die letzte Etappe des Arabischen Frühlings bezeichnen, die im Jahr 2010 in Nordafrika und dem Mittleren Osten begann. Mittelfristig können wir sie im Rahmen des Dritten Weltkriegs kontextualisieren, der mit dem Niedergang der Sowjetunion im Jahr 1989 seinen Anfang nahm. Langfristig, also im Kontext des ganzen Jahrhunderts betrachtet, können wir feststellen, dass die nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Ordnung und der Status quo Tag für Tag mehr zerbrechen und an deren Stelle ein großes Chaos zurückbleibt.

Zweifellos wurde die große Wirtschaftskrise von 2008 in den »entwickelten« zentralen kapitalistischen Ländern wie den USA und Europa ohne größere Umbrüche überwunden, wohingegen es in Nordafrika und dem Mittleren Osten zu gesellschaftlichen Aufständen kam. Die Krise wurde in den USA und der EU durch ihre ideologischen Manipulationen überwunden.

Der Beginn einer neuen Ära auf der Suche nach Wahrheit

Wenn wir auf das Jahr 2018 zurückblicken, können wir sehen, dass es sowohl der nationalistische Autokratismus der USA als auch der Liberalismus der EU-Länder schwer hat, gesellschaftliche Aufstände zu verhindern. Die Demonstrationen von Millionen Frauen in den USA im Frühjahr des Jahres, die Protestkundgebungen in Deutschland in den Sommermonaten gegen die Polizeigesetze, Rassismus und Umweltzerstörung und nun der Aufstand der »Gelben Westen« in Frankreich Ende des Jahres sind klare Beispiele für die sich vertiefende Krise in den kapitalistischen Nationalstaaten.

Dass Millionen Menschen sich trotz der herrschenden liberalen Ideologie gegen jede Art von Herrschaft zu organisieren beginnen und zu rebellieren, markiert den Beginn einer neuen Ära auf der Suche nach der Wahrheit. Es entsteht eine neue Massenbewegung gegen die männliche Herrschaft, die steigende Armut, die Zerstörung der Umwelt und gegen autoritäre und faschistoide Sicherheitsgesetze. Die verschiedenen Bewegungen, die die Hoffnungen von Millionen Menschen widerspiegeln und sich in verschiedenen Ländern bemerkbar machen, haben noch kein Manifest entwickelt, das ihrem Bestreben in einem Programm Ausdruck verleiht. Auch wenn die Widerstandsbewegungen von Pluralismus und Horizontalität bestimmt werden, verfügen sie außer kurzfristigen, taktischen Zielen über keinerlei Programm. Auch wenn die Proteste von unzähligen feministischen Kreisen, Umweltaktivisten, Menschenrechtsgruppen, antifaschistischen Gruppen und NGOs organisiert werden, ist bisher noch keine starke Leitung oder Koordinierung entstanden. All diesen Protesten werden mit dem demokratischen Konföderalismus in Nordostsyrien und Rojava ein alternatives Lebensmodell und ein universelles praktisches Modell aufgezeigt. Dieses System wird mitten im Dritten Weltkrieg in Syrien und Rojava umgesetzt. Tag für Tag wird es auch auf die Türkei/Nordkurdistan, Irak/Südkurdistan und Iran/Ostkurdistan auszuweiten versucht.

Die Nationalstaaten Syrien, Iran, Irak und vor allem die Republik Türkei sind homogenisierende, assimilierende und faschistoide Gebilde, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet und für die Entwicklung des Kapitalismus geformt wurden. Insbesondere der türkische Nationalstaat vernichtete mit seiner künstlichen Identität des Türkentums Dutzende Ethnien, Glaubensrichtungen und Kulturen und wurde zu einem brutalen Beispiel der kapitalistischen Moderne. Griechen, Armenier, Tscherkessen, Christen, Juden, Aleviten, Êzîden, Assyrer und viele andere wurden in diesem Rahmen physischem und kulturellem Genozid ausgesetzt.

Angst vor der kurdischen Revolution

Demonstration in Berlin »Der Wunsch nach Freiheit lässt sich nicht verbieten – Gemeinsam gegen Polizeigesetze, PKK-Verbot und Nationalismus«. Foto: ANFDie Kurden sind die einzige Gruppe, die gegen diese Situation Widerstand leistet und damit ihre Vernichtung verhindern konnte. Sie profitierten von ihrer kulturellen Kraft und den Vorteilen der Geographie Kurdistans. Über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Anfängen der 1970er stand die kurdische Gesellschaft angesichts der barbarischen Assimilation und des Genozids kurz vor ihrem Ende. Die offiziell im Jahr 1978 gegründete Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) führte zu einem nationalen Erwachen der kurdischen Gesellschaft. Die verschiedenen staatlichen Akteure in der Türkei, die im Jahr 2023 das hundertjährige Bestehen der Republik zu feiern planen, sind beunruhigt von der Revolution in Kurdistan und ihren Auswirkungen.

Wir wurden im Januar 2018 Zeugen des antikurdischen Syndroms der Türkei und der damit verbundenen Hysterie. Der türkische Staat begann damals seinen Besatzungsangriff auf Efrîn. Der nordsyrische Kanton war eine Region, die nach der Besetzung von Cerablus und al-Bab im Jahr 2016 den demokratischen Konföderalismus weiterentwickelte. Efrîn wurde nach 58 Tagen entschlossenen Widerstands von der zweitgrößten NATO-Armee mithilfe offener Unterstützung Russlands und des Schweigens der USA besetzt. Obwohl die Option bestand, die Besetzung zu verzögern, beschlossen die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die demokratische Selbstverwaltung einen Rückzug aus dem Stadtzentrum, um ein Massaker zu verhindern.

An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass es den Verteidigungskräften der YPG/YPG gelang, die türkische Armee und deren dschihadistische Verbündete zwei Monate lang aufzuhalten, trotz des unverhältnismäßigen Einsatzes von Gewalt, hochentwickelten Drohnen und massiven Luftangriffen. Die Menschen weltweit strömten hingegen auf die Straße, um die Utopie zu verteidigen. Die internationale Solidarität wuchs mit dem Verteidigungskampf von Efrîn und der Rojava-Revolution. Selbst die größten Verbündeten der Türkei haben die Besatzung offiziell verurteilt oder diskutieren ernsthaft über eine Einstellung der Waffenexporte in das Land.

Vor allem in Deutschland ist ein Widerstandsnetzwerk entstanden, das es wert ist, thematisiert zu werden. Zum ersten Mal nach Jahren haben achtzig Prozent der deutschen Öffentlichkeit von der Bundesregierung gefordert, die Beziehungen zu Erdoğan abzubrechen. Diese Forderung der Gesellschaft trug zu einer Krise der Bundesregierung bei, die seit zweihundert Jahren auf ihre kapitalistischen Beziehungen mit der Türkei setzt. In allen 16 Bundesländern und der Hauptstadt Berlin stand die Besatzung von Efrîn ganz oben auf der Tagesordnung. Es zeigte sich, dass die durch die deutsche Staatspolitik betriebene Unterdrückung, die vom Staat konstruierte Angst vor Armut und Unsicherheit sowie die Tendenz zum Rassismus, die mit der Flüchtlingsdebatte gefördert wird, nicht die Solidarität mit der kurdischen Gesellschaft eindämmen konnte. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die kurdische Freiheitsbewegung in Deutschland de facto seit 1986 und offiziell seit 1993 kriminalisiert wird bzw. verboten ist. Dieses Jahr jährte sich das Verbot zum 25. Mal.
Die Türkei setzte aufgrund ihrer umfassenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und diplomatischen Krise infolge des Efrîn-Widerstands mit einer plötzlichen Entscheidung das Vorziehen der Parlamentswahlen am 24. Juni auf die Tagesordnung (gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl). Obwohl die vorangegangenen Wahlen erst anderthalb Jahre zurücklagen, wurde die Abstimmung aus Angst vor gesellschaftlichem Widerstand wie während des Gezi-Aufstands 2013 oder der Kobanê-Aufstände 2014 vorzeitig angesetzt. Ziel war es, den freiheitlichen linken Flügel innerhalb der CHP (Republikanischen Volkspartei) zu schwächen und einzuschüchtern sowie die feministische, demokratisch-sozialistische Perspektive der HDP aus dem Parlament zu verdrängen. Trotz starker Repression und Massenverhaftungen sowie ungleichen Wahlbedingungen hat es die HDP geschafft, ins Parlament einzuziehen. Dies war der Erfolg der Solidarität der Menschenmengen, die an eine demokratische Türkei und ein freies Kurdistan glauben. Auch wenn der AKP-MHP-Faschismus und die Diktatur Erdoğans offiziell gewannen, unterstreichen die Manipulationen bei den Wahlen die Unrechtmäßigkeit der Diktatur. Aufgrund der Furcht vor einer demokratischen Revolution in der Türkei, wie zuvor der Tahrir-Revolution in Ägypten, erkannten die NATO-Staaten, die EU und hegemoniale Kräfte wie Russland die neue Diktatur an. Die kurdische Freiheitsbewegung besiegte als einzige alternative Kraft im syrischen Bürgerkrieg den IS und entwickelte mit der Rojava-Revolution ein Modell für ganz Syrien. Aufgrund der Furcht, diese Revolution könne sich auf die Türkei ausweiten, wurde entschieden, die Türkei auch als eine offizielle Diktatur zu unterstützen.

Grünes Licht für schmutzigen Spezialkrieg

So sehr die Türkei auch versuchte, sich im Herbst dieses Jahres in der Welt Legitimität zu verschaffen und sich in Astana oder Genf, auf dem NATO-Gipfel und dem G20-Treffen als Vertreterin der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten zu präsentieren – ihr eigenes Ende wird sie nicht verhindern können. Sowohl das kapitalistische Weltsystem, dessen Teil sie ist, als auch die unaufhaltsame Widerstandswelle bringen das Ende der Diktatur mit jedem Tag näher. Das ist auch der Grund für die unvergleichliche Repressions- und Angriffspolitik der Türkei.

Abdullah Öcalan, Vordenker der Revolution und nicht mehr nur Anführer der kurdischen Gesellschaft, sondern aller Völker des Mittleren Ostens, wird seit April 2015 mit seiner Totalisolation bestraft. Der Europarat, die EU und die UN unterstützen die Türkei mit ihrem Schweigen zur Inhaftierung Öcalans. Grund dafür ist, dass die Friedensgespräche zwischen Öcalan und dem türkischen Staat von 2013 und 2015 nicht im Sinne des modernen kapitalistischen Systems verliefen. Das wesentliche Konzept hinter den Friedensgesprächen war das Pax-Romana-Verständnis: Man erwartete während der Friedensgespräche den Zerfall der gegen den Nationalstaat kämpfenden Bewegung und ihre Integration in den Kapitalismus. Als genau gegenteilige Entwicklungen ihren Lauf nahmen und das Paradigma des demokratischen Konföderalismus von Öcalan nicht nur in Kurdistan, sondern als umsetzbare Utopie in der ganzen Region und Welt wahrgenommen wurde, gab die Türkei unter Führung Erdoğans grünes Licht für die Totalisolation Öcalans und den schmutzigen Spezialkrieg.

Während Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı mit einer Totalisolation und einem Foltersystem bestraft wird, sind die kurdische Gesellschaft und die Guerilla mit einem Krieg konfrontiert, der hauptsächlich mit modernsten Drohnen aus der Luft geführt wird und vollständig gegen die Genfer Konventionen verstößt. Die Türkei agiert weltweit als einziger kolonialistischer Staat im klassischen Sinne und ist nun offen dazu übergegangen, in ganz Kurdistan eine Kolonialpolitik durchzusetzen.

Selbstverständlich wird auf Grundlage der 40-jährigen Erfahrung der Guerilla und der Gesellschaft mit der Strategie des revolutionären Volkskriegs der Widerstand gegen die Kräfte der kapitalistischen Moderne fortgesetzt werden. Im 50. Jahr der Jugendrevolte von 1968 stellt die kurdische Freiheitsbewegung die Bedingungen und die Grundlage für einen internationalistischen und globalen demokratisch-sozialistischen Kongress bereit. Die freiheitlichen Ideen und die damalige Suche nach neuen Paradigmen der Revolutionäre der 1968er, finden nun mit dem demokratischen Konföderalismus in Rojava eine praktische und hoffnungsvolle Umsetzung. Die Völker der Welt stehen heute nicht mehr ohne Hoffnung und Programm da. Jetzt fehlt nur noch die entschlossene Organisierung und die notwendige Bereitschaft Opfer zu geben, um das neue gesellschaftliche Paradigma gegen die alte Herrschaftsordnung durchzusetzen.


 Kurdistan Report 201 | Januar/Februar 2019