Auf Abdullah Öcalan bestehen, auf einer anderen Welt bestehen

»Warum Öcalan?«

Dilar Dirik

Als vor über 20 Jahren eine von der NATO eingeleitete Verschwörung gegen Abdullah Öcalan zu seiner Entführung, Geiselnahme und eventuellen Gefangenschaft führte, war der kurdischen Freiheitsbewegung bewusst, dass es sich hierbei ebenfalls um eine ideologische Kampfansage der hegemonialen Staatsmächte gegen den möglichen Gewinn des Sozialismus handelte.

Mit dem historischen Hungerstreik zur Durchbrechung der langjährigen Totalisolation von Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı begann eine neue, radikale Phase der Mobilisierung nicht nur in der kurdischen politischen Gesellschaft, sondern auch innerhalb internationaler Kreise. Betrachtet man die Formen und Inhalte der vielen Aktionen, die den von Leyla Güven begonnenen Widerstand begleitet haben, näher, kann man behaupten, dass die Haltung der vielen Gruppen, Bewegungen und Individuen, die sich mit den Hungerstreikenden und ihren Forderungen solidarisierten, die Isolation Abdullah Öcalans nicht nur legal und politisch brach. Der Widerstand stellte sich vor allem auch gegen die gedankliche, emotionale und gesellschaftliche Normalisierung des Faschismus, der sich in höchster Form im Imralı-Gefängnis/Folter-Komplex als Prototyp sowohl symbolisch, als auch strukturell und ideologisch manifestiert.

Aktion in Magdeburg gegen die Isolation Öcalans. | ANF

Den türkischen Staatsfaschismus durch Imralı verstehen

Mit der menschenrechtsverachtenden Isolationsfolter Öcalans besteht der türkische Staat auf einer faschistischen Regierungsform. Wie die Anwält*innen Öcalans oft unterstreichen, ist das Isolationssystem auf Imralı eine Verwaltungsform, die seit 2016 auf die gesamte Türkei angewendet wird. Die Insel fungierte über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg als eine Art Staatslabor zum Experimentieren mit Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen und stellt nun die Stammzelle für das rechte, autoritäre System im Lande dar. Durch Kontrolle, Beobachtung und Autorität ist Isolation zudem ein Projekt des Nationalstaates, eine eindimensionale Gesellschaft zu erschaffen, was Öcalans Paradigma der demokratischen Nation, basierend auf dem demokratischen Zusammenleben vieler Identitäten, Gruppen und Kulturen, entgegensteht.

In der Person Öcalans wird nicht nur der kurdische Freiheitskampf, sondern auch jegliche Form der internationalen Solidarität isoliert. Dies geschieht vor allem durch Kriminalisierung, die im Rahmen des Terrorismusparadigmas, das die letzten Jahrzehnte der internationalen Realpolitik bestimmt, zu verstehen ist. Um ihre Vernichtungspolitik legitimieren zu können, definieren Herrschaftssysteme bestimmte Personengruppen bekannterweise zunächst als »nicht menschlich«, bevor sie zu materieller Gewalt und Unterdrückung greifen. Der heutige Terrorbegriff ähnelt nicht nur einer Art moderner Version der Hexenjagd, sondern ist ebenfalls ein Schritt in Richtung Entmenschlichung gewisser politischer Gruppen, um diese als »tötbar«, also vogelfrei, zu erklären. Das Schweigen des türkischen Staates gegenüber dem Hungerstreik war somit eine Form der Gewalt, basierend auf der Logik: »Das sind Terroristen, keine Menschen. Wenn sie sterben, findet kein Verlust statt«, eine Haltung, die gleichzeitig die Isolation der Demokratie im Lande legitimieren sollte.

Menschenrechtsdiskurs oder Widerstand für Menschlichkeit?

Obwohl die Forderung, die Isolation zu durchbrechen, legitim und legal ist, nahmen europäische Menschenrechtsinstitutionen, neoliberale nichtstaatliche Organisationen, Zivilrechtsgruppen und Medien über einen Zeitraum von fast sieben Monaten hinweg ihre eigenen Missionen und Aufgaben strategisch und bewusst nicht wahr – und nahmen somit den Tod Tausender Menschen im Hungerstreik in Kauf. Obwohl es selbstverständlich wichtig ist, in unserer heutigen Welt über einen internationalen Rahmen zur Verteidigung von Menschenrechten zu verfügen, damit diktatorische Regimes – wenn auch oft nur symbolisch – zur Rechenschaft gezogen werden können, ist es problematisch, wenn der Diskurs um Menschenrechte von Prinzipien wie Ethik und Gerechtigkeit getrennt und somit auf einen bürokratisch-legalen Rahmen reduziert wird.

Diese skandalöse Haltung von respektierten Organisationen wie Amnesty International (AI) zeigte auf konkrete Art und Weise nicht nur, inwiefern in der Person Öcalans die kurdische Bevölkerung einer Isolation unterworfen wird, sondern ebenfalls, wie der heutige Menschenrechtsdiskurs oft gegen den realen Widerstand der Basisgesellschaften für ihre Menschlichkeit mobilisiert wird.

Hungerstreik als Kapitalismuskritik

Vor allem zu Beginn des Hungerstreiks wurde oft gefragt, weswegen denn so viele Menschen sich für eine einzige Person aufopfern und ob nicht andere Aktionsformen infrage kämen. Jedoch ist es wichtig, die Aktionsform des Hungerstreiks ebenfalls als eine antikapitalistische Kritik zu verstehen. Die Neigung, Prinzipien und Werte wie Gesellschaftlichkeit und Aufopferungsbereitschaft dem individuellen Glück entgegenzusetzen, besteht in der kapitalistischen Moderne ebenfalls in linken Gruppen, vor allem an Orten, wo Kollektivität durch bewusste Staatspolitik Angriffen ausgesetzt wurde.

Der Hungerstreik kann als eine Kritik am kapitalistisch-liberalen Demokratieverständnis gesehen werden, als eine Ablehnung eines Politikbegriffs, der den Willen des Individuums und der Gesellschaft – und somit auch ihr Schicksal – an bürokratische und staatliche Institutionen abgibt. Dass Demokratie in einem kapitalistischen und oftmals faschistischen Zusammenhang keine Bedeutung trägt, wird deutlich, wenn man sich die Gefängnisbevölkerung der Türkei betrachtet. Darüber hinaus wird durch die Legitimierung der liberalen Ideologie durch internationale NGOs, die im Namen der Gesellschaft mit dem Staat verhandeln, die Gesellschaft immer mehr vom Zugang zu Gerechtigkeit entfernt.

Aus diesen Gründen griffen Tausende von Menschen zur direkten Aktion und zur letzten friedlichen Waffe, die ihnen zur Verfügung stand, nämlich ihren Körpern. Vor allem mit dem Todesfasten zweier Gruppen von politischen Gefangenen verdeutlichten die Aktivist*innen, dass ihr Verständnis vom Leben nicht nur aus der Erhaltung körperlicher, biologischer Existenz besteht. Ein bedeutungsvolles, gerechtes und hoffnungsvolles Leben würden sie sich durch Widerstand erkämpfen.

Internationalistischer Widerstand im Sinne der demokratischen Nation

Entgegen der Teile-und-herrsche-Logik der Isolation, die sich mit dem erklärten Ausnahmezustand im ganzen Land institutionalisiert hatte und die auf der Vernichtung des individuellen Willens beruht, bauten allen voran Frauen auf der ganzen Welt Brücken, um durch Solidarität, Zusammenhalt und Widerstand ihre kollektive Willenskraft in der Hungerstreikphase auszudrücken. Durch die Mobilisierung für die Hungerstreikenden und ihre Forderung, die Isolation zu durchbrechen, kam eine Art internationalistische, gesellschaftliche Bewegung im Sinne der demokratischen Nation zustande. Bekannte progressive Schriftsteller*innen, Philosoph*innen, Künstler*innen und Politiker*innen solidarisierten sich weltweit öffentlich mit dem Hungerstreik und seiner Forderung.

Mit der Zeit hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass die Möglichkeit, sich im Kapitalismus demokratisch auszudrücken, eingeschränkt ist, weshalb einige internationale Solidaritätsaktionen sich der Seele des Hungerstreiks als Aktionsform annäherten. Dies wurde vor allem durch Aktionen wie der Besetzung des Gebäudes von Amnesty International in London deutlich, nach der die kurdischen Aktivist*innen – darunter Hungerstreikende und ehemalige politische Gefangene – mit Polizeigewalt aus dem Gebäude entfernt wurden. Man könnte die Aktion in London ebenfalls als eine widerständige Intervention der Gemeinde verstehen, Menschenrechtsgruppen wie AI vor Vereinnahmung und Bedeutungsverlust zu schützen. Jugendliche unterbrachen Seminare in europäischen Universitäten.

Mit der internationalen Fraueninitiative für Leyla Güven solidarisierten sich Tausende Frauen, die Aufrufe unterzeichneten, Kampagnen unterstützten, Demonstrationen veranstalteten und die Hungerstreikenden besuchten, darunter auch bekannte feministische Aktivistinnen wie die iranische Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die indische Autorin Arundhati Roy und die südafrikanische Abgeordnete und Aktivistin Ela Gandhi. In der Schweiz und in Deutschland erstellten Frauen 7000 Plakate und Banner für die 7000 Hungerstreikenden. Im südafrikanischen Cape Town veranstalteten Frauen ihre 8. März Frauenkampftagsdemonstration in Solidarität mit Leyla Güven und den Hungerstreikenden vor dem türkischen Konsulat. Lateinamerikanische Frauen sandten Botschaften an den Widerstand und trugen die Forderungen in ihre regionalen Regierungsstrukturen. Personen wie die palästinensische Aktivistin Leila Chaled, die argentinische Mitgründerin der Plaza de Mayo Mütter Nora de Cortiñas und die irische ehemalige politische Gefangene und Abgeordnete des europäischen Parlaments Martina Anderson besuchten Leyla Güven im Hungerstreik in Amed (Diyarbakır). Die weltbekannte schwarze feministische, antikapitalistische und antirassistische Aktivistin und Professorin Angela Davis schrieb einen Brief an die Redaktion der New York Times, um auf die Situation von Leyla Güven aufmerksam zu machen.

Durch diese Kombination verschiedener Aktionsformen überall auf der Welt, angetrieben von der Willenskraft der Hungerstreikenden und der Friedensmütter, die sich gegen die türkische Polizeigewalt ununterbrochen im Widerstand befanden, war es möglich, sich von der erstickenden Normalisierung des Faschismus zu scheiden. Die Frage »Warum Öcalan?«, die sich die Mächte des kapitalistischen Nationalstaatssystems seit 1998 stellen, wurde diesmal nicht nur von der kurdischen Freiheitsbewegung, sondern auch von Tausenden von Internationalist*innen durch ihre Unterstützung des Hungerstreiks als Aktionsform und der Durchbrechung der Isolation als Forderung kollektiv beantwortet: Auf Öcalan bestehen heißt, auf radikaler Demokratie, auf Frauenbefreiung und auf der Möglichkeit einer alternativen Welt zu bestehen.


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019