Plädoyer für einen radikalen Wandel der europäischen und deutschen Türkei- und Kurdenpolitik

Dialog statt Kriminalisierung

Rolf Gössner


Zur Kriminalisierung und Ausgrenzung von Kurdinnen und Kurden, ihren Organisationen und Medien in der Bundesrepublik. Der folgende Beitrag von Dr. Rolf Gössner ist ein Auszug aus einem Referat, das der Autor zuletzt zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes Ende Mai 2019 in Nienburg/Weser gehalten hat.

(...) Drei Relikte sollen im Folgenden behandelt werden – fatale Überreste einer vergangenen Zeit, die Kurdinnen und Kurden in der Bundesrepublik Deutschland heute noch kriminalisieren und ausgrenzen sowie einem anzustrebenden offenen Dialog mit der kurdischen Seite diametral entgegenstehen: 1. das PKK-Verbot und dessen Ausweitung, 2. die »Terroristen«-Prozesse gegen kurdische Aktivisten und Vereinigungen, und 3. der Eintrag der PKK in die EU-Terrorliste. Insgesamt ein kontraproduktives Repressionsinstrumentarium, das jeden Kurswechsel behindert und das die hier lebende kurdische Bevölkerung, ihre Grundrechtssituation und ihre Integration schwer beeinträchtigt.

1. Zum ersten Relikt: PKK-Verbot und dessen Ausweitung

1.1. Das vor 25 Jahren von der Bundesregierung erlassene Betätigungsverbot für die kurdische Arbeiterpartei PKK und weitere kurdische Organisationen hat hierzulande viel Unheil gestiftet. Mit diesem Verbot folgte die Bundesrepublik seinerzeit dem Drängen des NATO-Partners Türkei. Doch trotz des Wandels, den die einst gewaltorientierte Kaderpartei PKK in Europa längst in Richtung einer friedlich-demokratischen Lösung des Konflikts vollzog, besteht das Verbot bis heute fort. Dies hat Zigtausende politisch aktiver Kurden hierzulande stigmatisiert und kriminalisiert – oft genug nur wegen verbaler oder symbolischer »Taten« –, hat sie unter Generalverdacht gestellt, zu potentiellen Gewalttätern und gefährlichen »Terroristen« gestempelt, zu innenpolitischen Feinden und Sicherheitsrisiken erklärt und ausgegrenzt. Offizielle Begründung: Die PKK, die sich in der Türkei gegen die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung auch militant zur Wehr setzt, nutze Deutschland »als Raum des Rückzugs, der Refinanzierung und Rekrutierung« (Mitteilung des Bundesinnenministeriums vom 12.02.19).

PKK-Verbot aufheben, Heilbronn 2015

Die Kriminalisierung hatte zeitweise eine dramatische Dimension erreicht: Für Kurden, die zumeist aus der Türkei vor Verfolgung und Folter geflohen waren, war es besonders in den 1990er Jahren fast unmöglich, hierzulande von ihren elementaren Menschenrechten ohne Angst Gebrauch zu machen. Durch das Betätigungsverbot wurden und werden nach wie vor die Grundrechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit und damit die freie politische Betätigung massiv beschränkt. Demonstrationsverbote und Razzien, Durchsuchungen von Privatwohnungen, Vereinen, Druckereien, Redaktionen und Verlagen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen waren und sind immer wieder an der Tagesordnung, genauso wie geheimdienstliche Ausforschung und Infiltration durch Staats- und Verfassungsschutz. Im Februar 2019 sind der Mezopotamien-Verlag und der MIR Multimedia-Musikverlag (beide in Neuss) wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK und als deren »Teilorganisationen« verboten und aufgelöst, Tausende von Büchern – kurdische Kinder-, Sprach- und Geschichtsbücher – sowie CDs mit kurdischer Musik beschlagnahmt worden. Ein »Akt staatlicher Zensur«, wie Die Linke im Bundestag dieses Verbot nennt, ein »Angriff auf die Meinungsfreiheit und ein trauriger Tag für Literatur und Buchbranche«, so der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in einer Protesterklärung. Damit seien zwei Verlage zerstört worden, »die wesentlich zum Verständnis von kurdischer Kultur beigetragen haben«.

Auf Grundlage des europaweit einmaligen PKK-Verbots werden im Übrigen Geld- und Freiheitsstrafen verhängt, Einbürgerungen abgelehnt, Staatsbürgerschaften aberkannt, Aufenthaltserlaubnisse nicht verlängert und Asylanerkennungen widerrufen.

1.2. Mit Runderlass vom 2. März 2017 an sämtliche Sicherheitsbehörden hat das Bundesinnenministerium (BMI) noch nachgelegt und eine »Neubewertung« der von Kurden aktuell benutzten Organisationsbezeichnungen und Kennzeichen vorgenommen. Das bedeutet eine Ausweitung des PKK-Verbots. In einer 6-seitigen BMI-Anlage mit 33 Symbolen wird behauptet, die PKK weiche mehr und mehr auf andere Symbole aus – wie etwa auf solche der syrischen Kurdenorganisationen, die aber hierzulande nicht verboten sind: z. B. PYD (kurdische Partei der Demokratischen Union, Rojava/Syrien), YPG (Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Frauenverteidigungseinheiten), die im Sommer 2014 Tausende von Jeziden in Syrien vor den mörderischen Angriffen des sog. IS retteten – oder aber Fahnen mit dem Abbild des als »Kurdenführer« immer noch hoch verehrten Abdullah Öcalan auf gelbem oder grün-gelbem Grund unterfallen als »Verkörperung der PKK« bzw. als »politischer Anführer der PKK« dem Verbot von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Mit Rundschreiben vom 29.01.2018 hat das Bundesinnenministerium abermals nachgelegt: Danach soll schon das bloße Zeigen eines jeden Bildes von Öcalan – als »Führungs- und Identifikationsfigur der PKK« – gegen das PKK-Kennzeichenverbot verstoßen.

Mit diesen exekutiven Interventionen, die objektiv dem Interesse der kurdenfeindlichen Politik des türkischen Erdoğan-Regimes entsprechen, hat das PKK-Verbot in der Bundesrepublik eine letztlich unkalkulkierbare Ausweitung erfahren. Dies hat zum einen dazu geführt, dass die Versammlungsbehörden das Zeigen solcher Fahnen und Symbole mit der Begründung untersagen, diese würden unter das PKK-Verbot fallen. Zwar wird dies nicht einheitlich so gehandhabt, aber es hat die Situation erheblich verschärft und lässt die Situation vor Ort insbesondere bei Demonstrationen und Kundgebungen nicht selten eskalieren. Zum anderen führte dies dazu, dass sich die Bundesanwaltschaft und die Gerichte deshalb immer häufiger mit angeblichen Anhängern und Unterstützern der PKK befassen müssen. Auch wenn etliche der Gerichtsverfahren wieder eingestellt werden, so bedeuten diese vermehrten Verfahren eine erhebliche Ausweitung der Kriminalisierung von Kurden und ihren Vereinigungen.

Manche Versammlungsbehörde, wie etwa in Nordrhein-Westfalen (speziell Köln und Düsseldorf), ist sogar noch ein Stück weiter gegangen und behauptet, der Dachverband der kurdischen Vereine in Deutschland NAV-DEM (Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurd*innen in ­Deutschland e. V.) sei Teil der PKK bzw. von deren Nachfolgeorganisationen; daher sei NAV-DEM das Versammlungsrecht abzusprechen. Doch manche Klage hiergegen hatte 2018/2019 schon Erfolg (Verwaltungsgericht Hannover bzgl. Newroz; VG Köln; VG Düsseldorf 2/2019 bzgl. NAV-DEM), so dass Totalverbote und Beschränkungsverfügungen letztlich – zumindest im Nachhinein – für rechtswidrig erklärt und gekippt werden konnten.

Der Berliner Strafverteidiger Peer Stolle, Bundesvorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsvereins (RAV), kommt angesichts der neueren Klagen, Verfahren und Urteile zu dem Schluss: Mittels juristischer Gegenwehr habe immerhin verhindert werden können, dass die exzessiven Vorgaben der Bundesregierung vollständig in die Praxis umgesetzt werden. Diese »erfolgreiche rechtliche Einhegung von Repression« sollte zu weiterer rechtlicher Gegenwehr motivieren – schließlich geht es im Kern um nicht weniger als um das unveräußerliche Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 5 GG.

Wie kritisch auch immer man zur PKK, ihrer Politik und ihren Aktionen stehen mag: Mit solchen Verboten werden jedenfalls keine Probleme gelöst, sondern weitere produziert. Längst ist das PKK-Betätigungsverbot zum kontraproduktiven Anachronismus geworden und gehört schon deshalb und auch nach Auffassung namhafter Bürger- und Menschenrechtsorganisationen schleunigst aufgehoben.

2. Zum zweiten Relikt: »Terrorismusverfahren«. Strafermittlungsverfahren wegen Terrorismusverdachts gegen zahlreiche politisch aktive Kurden im mutmaßlichen Umfeld der PKK (auch der türkischen kommunistischen Parteien DHKP-C oder TKP/ML) wurden eingeleitet und werden immer noch geführt ‒ früher nach §§ 129, 129a (Kriminelle oder terroristische Vereinigung), seit 2002 nach § 129b StGB (= kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland). Mit diesen Organisationsstraftatbeständen sind zahlreiche Kurden nicht etwa nur wegen Mitgliedschaft oder eigener gewalttätiger Aktionen belangt, verurteilt, teils mit Isolationshaft und nach Entlassung mit »Führungsaufsicht« belegt worden, sondern vielfach wegen angeblicher Unterstützungsaktionen zugunsten der PKK, wie friedlicher Proteste, rein verbaler Äußerungen, also gewaltfreier politischer Betätigungen oder wegen Spendensammelns.

Mit der Einführung von § 129b StGB wurde die Strafbarkeit der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung einer »terroristischen Vereinigung« (§ 129a) auf Gruppen im Ausland ausgedehnt, ohne den Betroffenen konkrete strafbare Handlungen hierzulande nachweisen zu müssen. Seitdem können kurdische Aktivisten als mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer für die politische und militärische Betätigung der PKK in der Türkei mitverantwortlich gemacht und strafrechtlich verfolgt werden – selbst wenn sie sich in der Bundesrepublik gewaltfrei und legal verhalten. Falls es sich – wie im Fall der PKK in der Türkei – um Gruppen außerhalb der EU handelt, ist eine Strafverfolgung allerdings nur dann möglich, wenn das Bundesjustizministerium dazu ermächtigt: Entgegen dem Prinzip der Gewaltenteilung wird damit die Exekutive praktisch zum Richter über politische Bewegungen und Organisationen gemacht.

Deutschen Botschaften, Geheimdiensten und der Bundesanwaltschaft fiel damit die schwierige Aufgabe zu, verdächtige Vereinigungen in aller Welt einzuschätzen: Handelt es sich um eine terroristische Vereinigung oder um legitime Formen des Widerstands gegen Diktaturen oder um eine Befreiungsbewegung? Ein schwieriges Unterfangen, ist doch der Terrorist des einen nicht selten der Freiheitskämpfer des anderen und umgekehrt – was sich erfahrungsgemäß rasch ändern kann. Die Strafverfolgung hängt also erheblich von außenpolitischen, militärischen und ökonomischen Opportunitätsaspekten und geopolitischen Interessen ab.

Diese exekutive Ermächtigung durch die Bundesregierung zur Strafverfolgung von mutmaßlichen Mitgliedern oder Unterstützern der PKK (und anderer kurdischer Vereinigungen) als ausländischer »terroristischer/krimineller Vereinigung« nach § 129b StGB sollte schleunigst hinterfragt und widerrufen werden. Denn sollte es im konkreten Fall etwa um Propagierung und eigenhändige Ausübung von Gewalttaten gehen, so reichen zur Ahndung die traditionellen Strafnormen völlig aus.

Erst im September 2017 hat übrigens ein belgisches Berufungsgericht entschieden, dass die PKK keine terroristische Organisation sei, sondern legitime Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in der Türkei; die PKK kämpfe für die Rechte der Kurden und terrorisiere keine Zivilisten – auch wenn es bei Angriffen auf militärische Ziele mitunter zivile Opfer gebe. Die PKK könne deshalb auch nicht als Terrororganisation eingestuft und mit Antiterror-Gesetzen verfolgt werden, genauso wenig wie deren Mitglieder und Unterstützer.

Dieses Urteil des Berufungsgerichts ist im März 2019 vom belgischen Revisionsgericht in Brüssel letztinstanzlich bestätigt worden – und alle Angeklagten wurden von sämtlichen Anklagepunkten freigesprochen. Dieses Urteil hat über Belgien hinaus auch europäische Bedeutung: Kurdinnen und Kurden dürften staatlicherseits, legt man diese gerichtlichen Kriterien zugrunde, nicht länger als Terrorist*innen bekämpft und verfolgt werden. Und dieses Urteil sendet auch die Botschaft aus: Der Konflikt zwischen Türkei und Kurden kann letztlich nicht polizeilich und strafrechtlich, sondern allein durch Verhandlungen und auf politischem Wege gelöst werden, so wie es u. a. die PKK schon seit Längerem fordert.

3. Zum dritten Relikt: EU-Terrorliste – noch ein Hindernis, das den Weg zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage versperrt. Auf dieser EU-Terrorliste sind Einzelpersonen und Organisationen gelistet, die in der EU als terroristisch gelten. Seit 2002 finden sich darauf unter anderem die PKK und Nachfolgeorganisationen – obwohl diese Organisationen seit Jahren keine Gewalttaten in Europa verüben, sich für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Türkei einsetzen und sich sogar für frühere Gewalt in Europa entschuldigt haben.

Mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste entsprach die EU seinerzeit dem Wunsch des NATO-Partners Türkei – ausgerechnet eines Landes, das sich selbst gravierender Menschenrechtsverletzungen und des Staatsterrors schuldig machte und macht. Durch die rein politisch motivierte Listung fühlte sich der türkische Staat zusätzlich legitimiert, im eigenen Land mit Unterdrückung und Staatsterror gegen angeblich »terroristische« Kurden, ihre Organisationen und angeblichen Unterstützer vorzugehen und die zivile Lösung der Kurdenfrage immer wieder zu torpedieren. Mit dieser willfährigen EU-Politik und unter Verweis auf die EU-Terrorliste sind Abertausende von Kurden in Europa als »Terrorhelfer« kriminalisiert worden, denn gerade auch die Listung bildet die Grundlage für Prozesse gegen kurdische Aktivisten in unterschiedlichen europäischen Ländern, in denen es kein PKK-Betätigungsverbot gibt.

Für betroffene Gruppen und Personen hat die Aufnahme in die Terrorliste existentielle Folgen: Sie sind quasi vogelfrei, werden politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert – oder wie der EU-Sonderermittler Dick Marty sagte: »Wer einmal draufsteht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben« – das sei »zivile Todesstrafe«, oder anders ausgedrückt: Existenzvernichtung per Willkürakt.

Vermögen der Betroffenen können eingefroren, Konten und Kreditkarten gesperrt, Bargeld beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge aufgehoben werden. Hinzukommen Passentzug, Ausreisesperren, Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen, Wohnungsdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Festnahmen. Alle EU-Staaten, Banken, Geschäftspartner und Arbeitgeber, ja alle EU-Bürger sind auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 des Rates vom 27.12.2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. L 344 vom 28.12.2001, S. 70) und nach dem Außenwirtschaftsgesetz verpflichtet, die Sanktionen gegen Gelistete durchzusetzen, weil sie sich sonst womöglich strafbar machen. Zu den Fernwirkungen zählen Kündigungen und Entlassungen, die Verweigerung von Einbürgerungen und Asylanerkennungen sowie der Widerruf des Asylstatus.

Die Terrorliste wird von einem geheim tagenden Gremium des EU-Ministerrats erstellt, wobei die für eine Listung vorgebrachten Verdachtsmomente nicht selten auf schwer überprüfbaren Geheimdienst-Informationen einzelner Mitgliedstaaten beruhen, zum Teil auch auf erfolterten Hinweisen etwa aus der Türkei. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle aufgrund gesicherter Beweise findet nicht statt. Diese Prozedur, die alle sechs Monate stattfindet, ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie demokratischer Kontrolle.

Die EU greift damit im »Kampf gegen den Terror« gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument aus dem Arsenal des »Feindstrafrechts« – eines Sonderrechts gegen angebliche »Staatsfeinde«, die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich geächtet werden. Ihre drakonische Bestrafung wird quasi im rechtsfreien Raum exekutiert – also ohne Gesetz, ohne überprüfbare Beweise, ohne Urteil und ohne Rechtsschutz.

Trotz Entrechtung der Gelisteten hat das Gericht der EU inzwischen jedoch für Rechtsschutz gesorgt und die Aufnahme in die Terrorliste und das Einfrieren der Gelder in einzelnen Fällen für rechtswidrig erklärt. Der Anspruch der Betroffenen auf Begründung der Maßnahme, auf rechtliches Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei eklatant missachtet worden. Daraufhin musste das Listungsverfahren geändert werden. Zwar sind die Betroffenen daraufhin pro forma benachrichtigt und angehört worden, doch konkrete Abhilfe wurde nicht geschaffen – schließlich seien die gerügten Verfahrensfehler jetzt behoben und Begründungen nachgeliefert worden. Die Verfemten blieben also verfemt – unter Verstoß gegen Unschuldsvermutung und Europäische Menschenrechtskonvention.

Mittlerweile ist auch die Aufnahme der kurdischen PKK/Kadek in die Terrorliste wegen Verfahrensfehler für rechtswidrig erklärt worden – zumindest für die Zeit von 2014 bis 2017, wie das EU-Gericht im November 2018 festgestellt hat. So seien die Gründe und Vorfälle, die zur Listung der PKK in jenem Zeitraum geführt hatten, nicht ausreichend belegt worden; außerdem sei weder der zeitweise Friedens- und Verhandlungsprozess zwischen Kurden und türkischer Regierung noch der Transformationsprozess und die neue Rolle der PKK im Mittleren Osten – etwa im Kampf gegen den IS – beachtet und berücksichtigt worden. Diese Entscheidung gilt jedoch nur für die Listung der PKK bis Ende 2017. Da sie auch nach 2017 bis heute gelistet ist, muss auch noch dagegen geklagt werden. (...)

Fazit und Auswege:

1. Im türkisch-kurdischen Konflikt beschreiten die EU mit ihrer Terrorliste und die Bundesrepublik mit ihrem PKK-Verbot und der daraus resultierenden Kriminalisierung nach wie vor den Weg der Repression und Ausgrenzung, obwohl sich die PKK sowie die politische Situation in Europa, der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten grundlegend geändert haben. Die immer noch vorherrschende Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurden, die im Nahen und Mittleren Osten als Stabilisatoren und im Kampf gegen den »IS«-Terror eine wichtige Rolle spielen, ist damit vollends zum Anachronismus geworden, der eine friedliche, gerechte und demokratische Lösung der türkisch-kurdischen Frage schwer behindert.

2. Angesichts des menschenrechtlich inakzeptablen Flüchtlingsdeals der EU mit der Türkei, angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs des NATO-Staats Türkei gegen Afrin/Syrien und der faktischen türkischen Annexion dieser kurdisch-selbstverwalteten Region, angesichts des Kriegs und der Repression gegen die kurdische Bevölkerung, auch mit deutschen Waffen sowie angesichts der katastrophalen Menschenrechtslage in der gesamten Türkei, kommen der EU und Deutschland eine gesteigerte Verantwortung für die weitere Entwicklung in dem NATO- und Europarats-Mitgliedsstaat Türkei zu – insbesondere hinsichtlich einer friedlichen und gerechten Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts.

3. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, bedarf es eines radikalen Wandels der europäischen Türkei- und Kurdenpolitik. Dazu gehört: endlich die Kriminalisierung, Verfolgung und Ausgrenzung von Kurden, ihren Organisationen und Medien in Europa und Deutschland zu beenden sowie die Menschenrechtslage in der Türkei und die kurdische Frage als historische Herausforderungen unverzüglich und mit Nachdruck auf die Agenda der EU zu setzen.

Einstweilen gilt: Reduzierung der deutsch-türkischen »Sicherheitskooperation« von Polizei, Geheimdiensten, Justiz und Militär auf ein Minimum, Aufhebung des PKK-Verbots und Löschung der PKK von der EU-Terrorliste, keine Auslieferung von Kurden und Regimegegnern sowie sofortiger Stopp aller deutschen Rüstungs- und Waffenexporte in die Türkei, die im türkischen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung bereits eine verheerende Rolle spielten.

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Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin). Mitherausgeber des »Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland« (Fischer-TB). Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik und dem Bremer Kultur- und Friedenspreis. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Beiträge zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte.
Neuere Publikationen zu deutsch-türkischer Sicherheitskooperation, PKK-Verbot, türkischem Agentennetz und Interpol:
Gössner, Heikle »Sicherheitskooperation“ mit der Türkei, in: WESER-KURIER v. 12.01.2018: https://www.weser-kurier.de/deutschland-welt/deutschland-welt-politik_artikel,-heikle-sicherheitskooperation-mit-der-tuerkei-_arid,1688907.html
Gössner, Klima der Angst. Türkisches Spitzelsystem zerschlagen! In: FRANKFURTER RUNDSCHAU v. 19.01.2018: www.fr.de/politik/meinung/gastbeitraege/erdogan-gegner-das-tuerkische-spitzelsystem-zerschlagen-a-1429044
Kontrolliert Interpol! Der Missbrauch von Interpol durch Diktaturen muss gestoppt werden, sagt Rolf Gössner, in: DIE TAGESZEITUNG (taz) v. 8.01.2018: http://www.taz.de/!5472306/
Das PKK-Verbot hat viel Unheil gestiftet und muss aufgehoben werden, sagt Rolf Gössner, in: DIE TAGESZEITUNG (taz) v. 30.01.2018: https://www.taz.de/!5477919/


 Kurdistan Report 205 | September/Oktober 2019