Ein Blick auf die Lage im Nahen und Mittleren Osten

Die USA mussten ständig für Gründe sorgen, die weitere Interventionen im Mittleren Osten rechtfertigten

Interview mit Cemal Şerik, Mitglied im PKK-Zentralkomitee


Cemal Şerik, Mitglied im PKK-ZentralkomiteeDie USA rüsten sich für einen Krieg gegen Iran. Ist das zu erwarten, während sich die Situation in Syrien noch nicht beruhigt hat?

Mit dem Niedergang des Realsozialismus begann im Mittleren Osten eine neue Phase. Der Erste Golfkrieg [im Sinne des Ersten Irakkriegs] war im Grunde der erste wichtige Schritt dahin. Es war klar, welche Ziele die USA mit dem Krieg verfolgten. Der Realsozialismus war zusammengebrochen und hinterließ ein Machtvakuum im Mittleren Osten. Russland, als Nachfolger der Sowjetunion, verfügte nicht über das Potenzial, um es zu füllen. Auch China war für wirksame Schritte im Mittleren Osten unvorbereitet. So machten sich die USA daran, diese Lücke zu füllen. Durch den Zusammenbruch und Rückzug der Sowjetunion fühlten sie sich zu dieser Intervention berechtigt, um deren aufgegebene Positionen zu übernehmen, mussten jedoch nach außen vertretbare Gründe für die Intervention schaffen. Die irakische Besetzung Kuwaits war einer davon. Die USA stimmten dieser Besetzung zu und ebneten Saddam den Weg nach Kuwait, nur um dann anschließend die irakische Invasion als eine Rechtfertigung für die eigene Intervention zu nutzen.

Der Beginn des Ersten Golfkrieges war wegweisend für die weiteren Entwicklungen im Mittleren Osten. Damit die USA dort ihren Einfluss und die Kontrolle ausweiten konnten, mussten sie verschiedene Probleme lösen. Zum einen war dies das Bestreben Russlands, seinen Einfluss zu behalten. Zum anderen waren es die Machtansprüche der Regionalstaaten.

Bei Letzteren muss man unterscheiden zwischen einerseits den Nationalstaaten Iran und Türkei, die beide nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaut wurden und ein klar imperiales Erbe trugen, und andererseits den Regionen in Irak, Syrien, Jordanien, Libanon und Jemen, in denen Araber lebten, die zuvor über keine eigenen Staaten verfügt hatten. Ihre Staaten entstanden zumeist erst nach dem Ersten Weltkrieg. Bei der damaligen Neustrukturierung des Mittleren Ostens spielten England und Frankreich, als Siegermächte des Weltkrieges, eine zentrale Rolle, während der Einfluss der USA dabei nachrangig war.

Mit dem Zweiten Weltkrieg jedoch übernahmen die USA die Rolle des Gendarmen des Kapitalismus. Der britische und französische Einfluss in der Region blieb aber bestehen. Die USA konnten erst in den siebziger Jahren Beziehungen mit dem Irak aufbauen. Ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zu Syrien reichten jedoch zu keinem Zeitpunkt an die der Sowjetunion bzw. Russlands heran. Die einzigen engen Verbindungen in der Region bestanden zu Israel und der Türkei. In den Tiefen des Mittleren Ostens war der US-Einfluss also sehr begrenzt.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich der Einfluss der USA in der Region zunächst nicht maßgeblich. Erst nach dem Ende der Sowjetunion machten die USA mit der Intervention in Irak den ersten Schritt, ihre Präsenz und ihren militärischen Einfluss auszuweiten. Dabei sollte es nicht bleiben.

Die USA intervenierten am Golf gegen Irak, verschoben das Ende des Krieges aber auf einen späteren Zeitpunkt. Damit wurden auch die Weichen gestellt für das spätere Wiederaufflammen des Konflikts mit Irak. Mit dem Ersten Golfkrieg hatten die USA den 36. Breitengrad unter ihre Kontrolle gebracht. Sie waren jedoch weit entfernt davon, ganz Irak zu kontrollieren. Das Regime von Saddam blieb intakt. Die USA planten, den Krieg gegen Irak weiterzuführen, suchten jedoch auch nach Möglichkeiten, dabei ihren Einfluss in Syrien, Libanon und Iran zu verstärken. Mit Ägypten gab es bereits aus der Mubarak-Zeit enge Beziehungen und die Türkei war der wichtigste Stützpunkt der USA. Zudem bestanden enge Beziehungen zwischen Ägypten und Israel.

Die USA mussten ständig für Gründe sorgen, die weitere Interventionen im Mittleren Osten rechtfertigten. Dafür organisierten sie verschiedene radikale Gruppen. Die Anschläge vom 11. September 2001 fielen in eine solche Phase. Al-Qaida bekannte sich zu den Attentaten. Eine Organisation, bei deren Gründung die CIA bekanntermaßen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Auf die Anschläge vom 11. September folgten die Intervention der USA in Afghanistan und der Zweite Golfkrieg mit dem Sturz Saddams. Zur Rechtfertigung dienten fadenscheinige Argumente wie das Vorhandensein chemischer Waffen.

Warum hatten die USA nicht Anfang 1991 Saddam Hussein gestürzt, sondern erst 2003? Die notwendigen Vorbereitungen zum Füllen des Machtvakuums brauchten ihre Zeit. 1991 wäre Irak in einzelne Teile, mit jeweils verschiedenen Regierungen, auseinandergebrochen. Dies hätte die Arbeit der USA sehr erschwert, deren Ziel die Zentralregierung war. In Südkurdistan hatten sie sowieso schon einen gewissen Einfluss, daher warteten sie bis 2003 mit der entscheidenden Intervention zum Sturze Saddam Husseins.

Im Jahr 2010 begannen dann militärische Operationen der USA in den Staaten, die bereits zuvor im Fadenkreuz US-amerikanischer Geopolitik gestanden hatten. Gegen Libyen, Syrien und Iran hatten sie bereits ausreichend Propagandafeldzüge geführt. Nachdem auf diese Weise die Grundlage für Militär­interventionen geschaffen worden war, mussten sie nur den richtigen Zeitpunkt abpassen. Der kam 2011, als die Massendemonstrationen in Tunesien begannen, die sich über Ägypten auf die arabische Welt ausbreiteten und als »Arabischer Frühling« bekannt wurden. Infolgedessen wurde Ben Ali in Tunesien gestürzt. In Kairo protestierte vor allem die Jugend auf dem Tahrir-Platz, bis auch die Mubarak-Regierung gestürzt wurde. Auch wenn ihm der von den Muslimbrüdern unterstützte Mursi nachfolgte, war es die gesellschaftliche Opposition, die den Sturz verursacht hatte.

In Libyen verliefen die Entwicklungen jedoch anders als in Ägypten und Tunesien. Hier wurde der Sturz Gaddafis durch internationale Eingriffe, der USA, der CIA und der Türkei, erreicht. Nachdem bewaffnete Kräfte die Regierung Gaddafis angegriffen hatten, wurde dieser mit Unterstützung des internationalen Kapitals ermordet. Nach dem Sturz Gaddafis ist die Lage in Libyen nicht besser geworden. Die Gefechte und die Ungewissheit dauern weiter an.

Auch in Syrien wurden ähnliche Interventionen durchgeführt. Hier gab es bereits seit den siebziger Jahren Probleme, die in der Zusammensetzung des Regimes begründet lagen. Die Regierung vertrat nicht die Mehrheit der Syrer. Die konfessionelle Mehrheit bildeten die Sunniten. Die Muslimbrüderschaft wurde nach einem gescheiterten Aufstand gegen das Assad-Regime massiv verfolgt. Ihre Führungskräfte gingen in die Türkei, wo sie von der Regierung materiell und organisatorisch unterstützt wurden, um das Regime Assads zu schwächen. Die Muslimbrüder versuchten erfolglos, sich im Namen der Freien Syrischen Armee (FSA) zu organisieren. Das Assad-Regime leistete Widerstand. Anders als in Libyen verfolgten im Syrienkonflikt Russland als auch Iran ihre Interessen offensiv und unterstützten das Regime. So dauert der Krieg dort bis heute an und infolgedessen änderte sich die Machtkonstellation in der Region.

Als sich die Gleichgewichte in Syrien zu ändern begannen, spielte der Widerstand in Rojava eine entscheidende Rolle. Denn al-Nusra und Islamischer Staat (IS) wollten das in die Enge getriebene Assad-Regime zerschlagen und ihre eigenen Machtstrukturen aufbauen. Den Nordosten des Landes hatten sie bereits unter ihre Kontrolle gebracht und die wollten sie nun auch auf Rojava ausweiten. Der Widerstand in Rojava hat das verhindert. Nicht nur die Ziele von al-Nusra und IS wurden so vereitelt, sondern auch die Pläne des türkischen Staates.

Somit haben die internationalen Mächte, wie die USA, ihre Ziele in Syrien nicht erreichen können. Doch sind sie von ihrem Ziel, den Mittleren Osten unter ihre Kontrolle zu bringen, nicht abgerückt. Ihre Politik gegen die Rojava-Revolution macht dies deutlich. Sie versuchen, den radikalen und revolutionären Charakter der Revolution zu reformieren. Sie wollen die Revolution unter ihre Kontrolle bringen, indem sie diese von innen aufweichen. In Südkurdistan verfolgen sie dasselbe Ziel, doch dort sind ohnehin schon Kollaborateure an der Macht.

Es ist fraglich, ob der Krieg in Syrien in der Weise fortgesetzt werden kann. Wenn die USA und Russland sich miteinander verständigen, dann könnte der Krieg in Syrien ein Ende finden. Doch das ist bisher nicht der Fall. Ohne offene Konfrontation zwischen ihnen versuchen die beiden Staaten ihre Interessen stellvertretend durch andere Kräfte durchzusetzen. Diese Situation wird wohl noch eine Weile so bestehen bleiben. Es werden Gespräche in Genf geführt, deren Ergebnisse noch unklar sind. Die Gespräche zwischen Russland, Türkei, Iran und Syrien in Astana und später Sotschi sind hingegen ins Leere gelaufen. Im Moment versuchen auch diese Staaten, die Probleme über die Genfer Gespräche zu lösen.

Die USA erhalten ihr Wirtschaftsembargo gegen Iran aufrecht und wollen es schrittweise in ein politisches Embargo überführen. Das zeigt, dass die USA den entscheidenden Schlag für ihre Herrschaft im Mittleren Osten vorbereiten. Doch dafür gibt es verschiedene Wege. Die militärische Intervention ist ein Weg. Embargo, Einkreisung und diplomatische Angriffe ein anderer.

Die USA halten sich beide Optionen offen. Denn sie haben in Iran keine regimefeindlichen Kräfte zur Hand wie in Syrien und Libyen. Von Zeit zu Zeit hatten sie erfolglos versucht, im Inneren des Landes Probleme zu schüren, um gesellschaftliche Proteste zu entfachen. Der politische Ansatz des iranischen Regimes verhinderte jedoch, dass die gesellschaftlichen Bewegungen in eine Revolte mündeten. Die USA versuchten dabei, einige kurdische Gruppen auszunutzen. Iran ist zudem kein homogener Staat, hier leben Bellutschen, Araber, Kurden, Assyrer, Turkmenen u. a. Trotzdem hat der iranische Staat ein Gleichgewicht geschaffen und behauptet sich. Die USA versuchen sowohl auf dem Wege der gesellschaftlichen Opposition Druck auf das Regime auszuüben, als auch die genannten Volksgruppen aufzustacheln. Bislang waren sie damit erfolglos. Langfristig könnte es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Iran kommen, doch gegenwärtig ist das eher unwahrscheinlich. Es gibt zurzeit auch keinen Staat, den die USA gegen Iran vorschieben könnten. Von Saudi-Arabien und Israel werden immer wieder Drohungen ausgestoßen, aber sie haben nicht die Kraft für einen Frontalkrieg.

In Sudan und Algerien wurden Diktatoren wie al-Baschir und Bouteflika durch gesellschaftlichen Widerstand gestürzt. Warum dauern die Proteste an?

Der Arabische Frühling war zu Beginn nicht auf nur zwei Länder begrenzbar und weitete sich bald auf den gesamten Mittleren Osten, Ost- und Zentralafrika aus. Auch in verschiedenen arabischen Staaten der Region kam es zu Unruhen. Die USA wollten dies für ihr Greater Middle East Project ausnutzen und so kamen Libyen und Syrien auf die außenpolitische Agenda.

In Sudan und Algerien war die Situation eine andere. Al-Baschir war über dreißig Jahre an der Macht. Ein enger Freund und Verbündeter al-Baschirs war der Kopf der türkischen AKP, Erdoğan. Es gab etliche Gemeinsamkeiten zwischen al-Baschir und Ben Ali, dem gestürzten Machthaber Tunesiens. Ben Ali hortete sein Gold und seine Juwelen in Säcken und auch al-Baschir soll seine Dollarscheine in Säcke gestopft haben. Er war ein Diktator, der jederzeit mit der Angst lebte, gestürzt zu werden.

In Algerien war die Lage etwas anders. In den achtziger und neunziger Jahren war die islamische Bewegung in Algerien stärker geworden. In den Sechzigern hatte Algerien einen antikolonialen Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich geführt. Es gab in dieser Zeit auch kleinbürgerliche, linke und radikale Kreise, die von der Sowjetunion unterstützt wurden. Doch es war eine muslimische Gesellschaft. Die antiimperialistische Haltung der Gesellschaft wurde dadurch gestärkt, dass Frankreich christlich war und die Araber muslimisch. Der Einsatz für die eigenen Werte wurde als Bewahrung des muslimischen Glaubens zum Ausdruck gebracht. In gewissem Sinne drückte die islamische Identität in Algerien den Widerstand gegen den französischen Kolonialismus aus.

In Algerien siegte die nationale Befreiungsbewegung und es entstand die Regierung von Ahmed Ben Bella. Die Nationale Befreiungsfront Algeriens blieb bis in die Neunziger an der Macht. Mit dem Niedergang des Realsozialismus wuchsen auch die Probleme in Algerien. Die islamischen Bewegungen konnten zunehmend Erfolge verbuchen. Bei den Wahlen konnte die Islamische Heilsfront die Mehrheit erzielen. Trotzdem unterdrückte die amtierende Regierung die Islamische Heilsfront. Auf diese Art und Weise wurde Algerien bis heute laizistisch regiert.

Dass es eine laizistische Regierung gab, bedeutet nicht, dass der Glaube der Gesellschaft unterdrückt wurde. Sowohl die Verwandlung der laizistischen Struktur in ein autokratisches System als auch das Ignorieren von Demokratisierungsforderungen führten zu heftigem gesellschaftlichen Widerstand. Am Ende musste Bouteflika seine Macht abgeben.

Auch in Sudan gingen die Menschen auf die Straße und stürzten die Regierung von al-Baschir. Die Armee hat nun entscheidenden Einfluss im Land. In Algerien hat sich Bouteflika aus dem Präsidentenamt zurückgezogen, doch sein Platz konnte nicht wieder gefüllt werden. Weder in Sudan noch in Algerien konnten die demokratischen Bedürfnisse erfüllt werden. Von daher hat auch die gesellschaftliche Dynamik in Richtung weiterer Demokratisierung Bestand. So wird es auch bleiben, bis die Forderungen der Menschen nach Demokratie umgesetzt werden. Sie können immer wieder unterdrückt werden, aber sie werden sich immer wieder bemerkbar machen.

Werden die Diskussionen über die künftigen Regierungen zu Lösungen im Sinne der Gesellschaft führen?

Nein, das ist nicht möglich. Bouteflika hat sich zurückgezogen, doch das alte Regime nicht. Al-Baschir wurde verhaftet, aber auch er hat ein politisches System hinterlassen. Obwohl er gestürzt wurde, verfügt er nach wie vor über Einfluss in der Armee und pflegt internationale Beziehungen mit Staaten wie der Türkei.

Lässt sich nun sagen, dass der Putsch der Armee das Vakuum gefüllt hat, das al-Baschir hinterließ? Ist nicht dasselbe auch in Ägypten passiert? Die Jugend hat rebelliert und Mubarak besiegt. Mursi kam an die Macht, nur um dann wiederum von der Armee bzw. von as-Sisi gestürzt zu werden. Hat dies die gesellschaftlichen Probleme gelöst? Nein, die Regierungen bestehen weiter wie zuvor. Die neuen Gesichter haben ihre Verbindungen zum alten System nicht gekappt und setzen deren Politik fort. Um zu verhindern, dass die Revolten das System als Ganzes verändern, wurden Entscheidungen getroffen, um die Gesellschaft an einem bestimmten Punkt zu halten. Die Diskussionen über die Übergangsregierung mit fünf zivilen und fünf Armeevertretern ist ein Resultat dessen. Die Probleme wären erst dann gelöst, wenn die Gesellschaft ihre eigene Selbstverwaltung schaffen würde. Die Gesellschaft müsste das Potenzial erreichen, alle sie selbst betreffenden Bereiche selbst zu regeln. Von der Wirtschaft über die Politik, Justiz und Kultur bis zur Gesundheitsversorgung. Erst dann werden die Probleme in Algerien, Sudan und Tunesien lösbar. Abdullah Öcalan hat dies als die Lösung der demokratischen Moderne formuliert, als demokratische Nation und demokratischen Konföderalismus. Das sind im Grunde die zentralen Argumente und Vorschläge, um die gesellschaftlichen Probleme zu lösen.


 Kurdistan Report 205 | September/Oktober 2019