Women Defend Rojava – den Frauenwiderstand zur Verteidigung Rojavas bündeln!

Die Errungenschaften der Frauenrevolution an jedem Ort der Welt verteidigen

Andrea Benario

Als Frauen schauen wir nicht zu, wie der türkische Faschismus die Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien angreift. Wir haben uns entschieden, einen internationalen Frauenwiderstand zu koordinieren, und im September 2019 die Kampagne Women Defend Rojava ins Leben gerufen. Einerseits wollen wir Informationen zur aktuellen Situation und zum Widerstand der Frauen hier in Rojava international verbreiten, andererseits wollen wir die gegenwärtigen Kämpfe von Frauen gegen patriarchale Gewalt und Besatzung in verschiedenen Teilen der Welt stärker miteinander verbinden, um zu einer gemeinsamen Kraft zu werden.

 Frauen in Şehba rufen in einer Erklärung zum Widerstand gegen den türkischen Faschismus auf.»Der Grad der Freiheit einer Gesellschaft hängt vom Grad der Freiheit ab, den Frauen in eben dieser Gesellschaft genießen« (Abdullah Öcalan)

Der Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien gelang es durch einen gemeinsamen Widerstand, sich von der Gewaltherrschaft des Assad-Regimes und des Islamischen Staates (IS) zu befreien. Dabei spielten vor allem der entschlossene Kampf von Frauen und der Zusammenhalt unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine zentrale Rolle. Aufbauend auf der Philosophie Abdullah Öcalans und den Erfahrungen dieses Widerstandes fand in Rojava eine demokratische und soziale Revolution statt, die sich mittlerweile auf ein Drittel des syrischen Staatsgebietes ausgebreitet hat. Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft organisieren sich basisdemokratisch in Räten und Kommunen und sind konföderal miteinander verbunden. In allen Bereichen der Gesellschaft wie Bildung, Gesundheit, Ökonomie, Presse, Gerechtigkeit, Kunst und Kultur, Wissenschaft, Verteidigung oder Ökologie verfolgen Frauen alternative Ansätze, die nicht auf der patriarchalen Mentalität basieren. Anstelle einer Aufteilung der Welt in herrschende Subjekte und auszubeutende Objekte wird ein ganzheitliches, auf Freiheit basierendes Weltbild zur Grundlage genommen. Das neu aufgebaute System, das den demokratischen Konföderalismus zum Ziel hat, sieht die Vielfalt der Bevölkerung als Stärke an und verteidigt die Rechte und den freien Willen aller Frauen sowie aller nationalen und religiösen Gruppen.

In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Revolution als funktionierende Alternative zum System der Nationalstaaten und des Patriarchats erwiesen. Die demokratische Selbstverwaltung ist zu einem Lösungsmodell für politische Konflikte geworden und stellt eine friedliche Perspektive für einen freien und demokratischen Mittleren Osten dar. Gerade das erweist sich als Problem für das wirtschaftliche, politische und soziale System des Kapitalismus. Der Mittlere Osten ist seit jeher Schauplatz des internationalen Kampfes um die globale Vormachtstellung. Der Ölreichtum gibt der Region außerdem eine strategische und wirtschaftspolitische Bedeutung. Der seit Hunderten von Jahren nicht endende Krieg in dieser Region wurde zu einer profitablen Quelle und gleichzeitig zum endlosen Absatzmarkt für die Kriegsindustrie. Eine friedliche und freie – das heißt von außen nicht kontrollierbare – Gesellschaft würde die Grundlage für die Monopolisierung der Macht zerstören.

Aufgrund dessen haben die Angriffe verschiedenster regionaler und imperialer Staaten und paramilitärischer Gruppen auch nicht lange auf sich warten lassen. Die sieben Jahre der Revolution wurden dadurch auch sieben Jahre der ununterbrochenen Selbstverteidigung. Im Frühling 2019 gelang es den Verteidigungskräften YPG/YPJ (Volks-/Frauenverteidigungseinheiten) und den QSD (Demokratischen Kräften Syriens), weite Territorien Nord- und Ostsyriens von der Gewaltherrschaft des IS zu befreien. Noch immer gehen Operationen gegen Schläferzellen des IS weiter, die Anschläge auf die Zivilbevölkerung durchführen. Millionen von Flüchtlingen warten innerhalb Syriens und im Ausland darauf, sich unter menschenwürdigen Bedingungen und in Sicherheit endlich ein neues Leben in ihrer Heimat aufbauen zu können. Die Hoffnungen der Menschen auf Frieden und ein neues demokratisches Syrien, die mit dem militärischen Sieg über den IS realisierbar erscheinen, werden nun jedoch erneut durch die militärische Aggression des türkischen Staates zunichtegemacht.

Dieser hatte im Januar 2018 mit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Rojavas westlichsten Kanton Efrîn begonnen, Teile der selbstverwalteten Gebiete zu besetzen. Tagtäglich erreichen uns neue Meldungen und AugenzeugInnenberichte über schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Türkische Soldaten entführen gemeinsam mit ihren islamistischen Verbündeten jeden Tag Dutzende Menschen, stellen Lösegeldforderungen an deren Verwandte oder foltern diese Menschen brutal zu Tode. Kurdische Dörfer werden mit Mörsergranaten beschossen und der Gebrauch der kurdischen Sprache ist verboten und kann den Tod zur Folge haben. Die Gewalt, mit der Frauen heute unter dem türkischen Besatzungsregime in Efrîn konfrontiert sind, ähnelt der frauenverachtenden Mentalität des IS: Unter Gewaltandrohung werden Frauen unter schwarze Schleier gezwungen. Es herrschen durch den türkischen Staat und dschihadistische Gruppen diktierte »Scharia-Gesetze«, die so gut wie jede Lebensäußerung von Frauen zur Sünde erklären und bestrafen. Um sich vor Misshandlungen in der Öffentlichkeit zu schützen, wagen sich viele Frauen nicht mehr vor die Tür und werden so zu Gefangenen in ihren eigenen Häusern. Doch sind sie auch hier nicht sicher, da sie jederzeit durch offizielle oder inoffizielle bewaffnete Banden des türkischen Staates überfallen werden können. Frauen berichten von systematisch angewandten Entführungen, Vergewaltigungen, Zwangsheirat und Menschenhandel. Frauen, die sich weigerten, das »Eheangebot« von Dschihadisten anzunehmen, wurden vor den Augen von Familienangehörigen vergewaltigt und verschleppt. Die Angriffe des türkischen Staates richten sich auch auf andere Weise gegen die Identität der Frau: So wurde während des Krieges unter anderem auch der Ain-Dara-Tempel in Efrîn zerstört – ein Artefakt der vorislamischen Muttergöttinnenkultur, der Symbol einer matrizentrischen Gesellschaft war. Mit dieser Zerstörung, die an die massive Vernichtung archäologischer Stätten und Fundstücke durch den IS erinnert, versuchen die Besatzer jegliche Geschichte auszulöschen, die nicht in ihr faschistisches Weltbild passt.

Gleichzeitig hat der türkische Staat begonnen, eine Grenzmauer um Efrîn zu errichten, um das von ihm besetzte Gebiet offiziell an das Staatsterritorium der Türkei anzugliedern. Damit verbunden sind demographische Veränderungen, was ein Euphemismus ist für die gewaltsame Vertreibung der dort lebenden Menschen und ihren Austausch durch eine protürkische Bevölkerung. Unter den neu angesiedelten Menschen befinden sich zum Großteil Familien der dschihadistischen Kämpfer.

Erdoğan will seinen Traum eines neoosmanischen Reiches nun noch weiter ausbreiten: In Nordkurdistan ließ er gewählte kurdische BürgermeisterInnen und Stadträte in einem politischen Putsch durch ihm wohlgesonnene Zwangsverwalter ersetzen. Verhaftungswellen gegen PolitikerInnen, JournalistInnen, Aktivistinnen der Frauenbewegung, Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) sowie Mitglieder anderer demokratischer Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften dauern an. Das Vorgehen des türkischen Staates richtet sich auch hier gegen freiheitliche Bestrebungen und die Selbstbestimmung der Frau. Denn das Zwangsverwaltersystem richtet sich unter anderem auch gegen das von der HDP vertretene Prinzip der Doppelspitze, durch das jedes politische Gremium sowohl von einem Mann als auch einer Frau repräsentiert wird. Mit diesen Methoden beabsichtigt Erdoğan, von den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Miseren abzulenken, die seine Politik der letzten Jahre verursacht hat. Aus demselben Grund weitet er nun die Besatzungskriege der türkischen Armee in Nord- und Südkurdistan auch auf Westkurdistan und Nord- und Ostsyrien aus.

Vertreter der türkischen Regierung haben wiederholt offiziell verkündet, dass das Ziel ihrer Invasion in Nord- und Ostsyrien sei, eine internationale Anerkennung und einen politischen Status der KurdInnen und die demokratische Selbstverwaltung der Völker in der Region zu verhindern. Obwohl der türkische Staat mit diesem Ziel seit Jahren einen ökonomischen, politischen und psychologischen Krieg gegen die Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien führt, ist es ihm bislang nicht gelungen, das alternative System der Selbstverwaltung zu schwächen. Deshalb sucht Erdoğan nun auf internationaler Ebene Unterstützung für einen weiteren Besatzungskrieg und rüstet mit neuen Waffensystemen sowohl aus der NATO als auch aus Russland auf. Mit den propagandistischen Argumenten, eine »Sicherheits«- oder »Friedenszone« errichten zu wollen oder »die Rückkehr der Flüchtlinge aus Syrien« anzustreben, plant die Türkei weitere Kriege, Besetzungen und demographische Veränderungen. Im Rahmen dieses Plans beabsichtigt sie, ihre Soldaten und von ihr unterstützte und ausgebildete Dschihadisten im gesamten Grenzgebiet Nord- und Ostsyriens zu stationieren.

680 KR demo DerikFrauen in Dêrik demonstrieren unter dem Motto »Verteidigen wir unser Land und unsere Würde gegen Besatzung und den IS«.

Die Verbindung der Türkei zu islamistischen Gruppen wie dem IS wird auch im aktuellen Krieg sichtbar. Die autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sie im Falle eines neuen Angriffs ihre militärischen Kräfte auf die Verteidigung der Gesellschaft konzentrieren würde und somit die Sicherung der Gefängnisse und Camps, in denen zurzeit Zehntausende IS-Mitglieder und deren Familien untergebracht sind, eventuell nicht mehr gewährleisten könne. Dennoch startete die Türkei ihren Angriffskrieg und bombardiert und lässt Panzer rollen.

Auch die internationale Staatengemeinschaft weigert sich, produktive Schritte für einen Friedensprozess in Syrien einzuleiten und eine klare Haltung gegen die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik der Türkei einzunehmen. Da ihre Profit- und Machtinteressen mehr zählen als Menschenleben oder internationales Recht, wurde sie zur Komplizin der völkerrechtswidrigen Besetzung der allesamt auf dem Territorium Nordsyriens liegenden Gebiete Efrîn, Azaz, al-Bab und Cerablus durch die türkische Armee – und nun auch der anderen Territorien entlang der Grenze zur Türkei.

Verteidigen wir unser Land und unsere Würde gegen die türkische Besatzung und den IS

Seit dem 8. August 2019 mobilisiert die Frauenbewegung Kongra Star unter dem Motto »Verteidigen wir unser Land und unsere Würde gegen die türkische Besatzung und den IS« Frauenräte und Frauen in allen Städten und Dörfern Nord- und Ostsyriens zum Widerstand gegen den Krieg der Türkei. Frauen aller Bevölkerungsgruppen sind entschlossen, nicht zuzulassen, dass ein neues Osmanisches Reich auf ihrer Erde errichtet wird und Frauen erneut versklavt werden. Als Women Defend Rojava sind wir Teil dieser Kampagne und arbeiten als Internationalistinnen mit Aktivistinnen der Frauenbewegung Kongra Star, Frauen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und den Frauenräten zusammen.

Im Rahmen der Kampagne hat es mit dem Beginn der Kriegsdrohungen fast täglich Demonstrationen und Aktionen in ganz Nord- und Ostsyrien gegeben. Die breite gesellschaftliche Organisierung der Frauenbewegung wurde auch in diesen Protesten sichtbar: Die jungen Frauen der Jugendbewegung zogen spontan durch Stadtzentren, um gegen die türkischen Kriegsvorbereitungen zu demonstrieren, die Frauenkulturbewegung zog mit Instrumenten und in traditioneller Kleidung protestierend durch die Straßen, die zivilen Verteidigungskräfte bekräftigten ein weiteres Mal ihren Willen zur Selbstverteidigung der Gesellschaft durch die Gesellschaft und sowohl kurdische als auch arabische Frauengruppen verlasen gemeinsam beschlossene Erklärungen. In Serê Kaniyê, direkt an der Grenze zur Türkei, fand wochenlang eine sogenannte »Lebende-Schutzschilde-Aktion« statt, bei der sich rund um die Uhr hunderte Menschen im gefährdeten Gebiet nahe der Grenze einfanden, um sich der auf der anderen Seite der Grenze stationierten türkischen Armee in den Weg zu stellen. Auch in Şehba – dem Gebiet, in dem sich Tausende der aus Efrîn vertriebenen Familien befinden – versammelten sich Frauen, um sich dem Motto der Kampagne anzuschließen.

Nun hat eine neue Phase der Kampagne begonnen, in der die Inhalte noch breiter und tiefer im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert werden sollen. Unter anderem werden in Volksversammlungen, Seminaren und Bildungsveranstaltungen einerseits die Auswirkungen des Patriarchats auf den Willen der Frau und andererseits die Errungenschaften der Frauenrevolution analysiert, um geeignete und notwendige Schritte zur Verteidigung herauszuarbeiten und durchzusetzen.

Dabei wird deutlich, dass Frauen nicht nur Widerstand gegen die äußeren Gefahren wie die drohenden Angriffe der türkischen Armee oder auch die Liberalisierungsversuche der USA organisieren müssen, sondern dass sie auch die patriarchale Mentalität in der eigenen Gesellschaft überwinden müssen: sei es patriarchale Unterdrückung in der eigenen Familie oder andere hierarchische Macht- und Gewaltverhältnisse und sozialen Sexismus. Um uns effektiv und nachhaltig verteidigen zu können, brauchen wir einen eigenen, starken Willen und ein Frauenbild, das eine selbstbewusste Persönlichkeit in den Vordergrund stellt und eine falsche, verinnerlichte Minderwertigkeit nicht mehr akzeptiert.

»Ich würde mir wünschen, dass es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen würden. Einfach den Nachschub kappen.« (Andrea Wolf, Şehîd Ronahî)

Als Frauen sind wir global mit Angriffen auf unseren Willen, unsere Geschichte und unsere Identität konfrontiert. Doch bleiben diese zunehmenden Angriffe nicht unbeantwortet. Weltweit sind Frauen auf der Suche nach Kampf- und Organisierungsformen, mit denen sie sich den aktuellen faschistischen Bedrohungen entgegenstellen und gleichzeitig Lösungen für gesellschaftliche Probleme finden können. Die Frauenbewegung in Rojava ist weltweit zum Beispiel einer Organisierungskraft geworden, die reale Antworten auf die Frage liefern kann, wie eine Gesellschaft aussehen kann, die auf dem freien Willen der Frau aufgebaut ist.

Erdoğan hat seine Kriegs- und Besatzungsdrohungen gegen die Rojava-Revolution wahrgemacht. Dies bedroht ganz unmittelbar das Leben und die Existenz der Menschen in den selbstverwalteten Gebieten in Nord- und Ostsyrien. Zugleich ist dies ein Angriff auf die Errungenschaften und die Ausbreitung der Frauenrevolution. Es sind Angriffe, die sich gegen die Hoffnungen der Menschheit auf ein freies Leben richten. Daher ist uns bewusst, dass die Angriffe auf uns alle abzielen, d. h. auf all diejenigen, die auf der Suche nach einem freien Leben sind.

Die Frauen in Nord- und Ostsyrien sehen in den weltweiten feministischen, sozialistischen, demokratischen und allen antisystemischen Kräften ihre Verbündeten. Da das Kriegsinteresse Erdoğans nur mit internationaler Unterstützung durchführbar ist, kommt diesen Verbündeten die Aufgabe zu, die Revolution auch auf internationaler Ebene zu verteidigen und in den Ländern Widerstand zu leisten, aus denen der militärische Nachschub und die politische Rückendeckung kommen.

Ob Erdoğans Vorhaben gelingen wird oder nicht, hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, einen breiten, internationalen Widerstand zu organisieren. Mit der Parole Women Defend Rojava wollen wir als gemeinsame Kraft auftreten, um den Frauenwiderstand zur Verteidigung Rojavas zu bündeln. Wir rufen dazu auf, die Errungenschaften und Werte, die durch den Frauenkampf in der Rojava-Revolution geschaffen wurden, an jedem Ort der Welt zu verteidigen. Die beste Verteidigung der Frauenrevolution ist es, die gesellschaftlichen Alternativen auf der Grundlage der Frauenbefreiung an jeden Ort der Welt zu tragen.

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Homepage: www.womendefendrojava.net
Twitter: @starrcongress
Facebook: Kongra Star Diplomacy
Youtube: Women Defend Rojava


 Kurdistan Report 206 | November/Dezember 2019