Völkerrechtswidrig, aber im Sinne geostrategischer Interessen

Erdoğans Krieg gegen die Kurden

Norman Paech, Völkerrechtler und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht


Erdoğans Krieg gegen die KurdenAm 20. Januar 2018 machte der türkische Präsident Ernst mit dem, was er seit langem angekündigt hatte, er schickte seine Armee unter der zynischen Bezeichnung »Operation Olivenzweig« über die Grenze nach Syrien, um den kurdischen Kanton Efrîn zu erobern. Es folgte ein Krieg gegen die sich wehrenden Kurden mit vielen Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung, mit Vertreibungen, Flüchtlingen und wahllosen Zerstörungen. Die Besatzung hält bis heute an und wird begleitet von der Ansiedlung anderer Flüchtlinge aus dem vom Krieg schwer heimgesuchten Syrien, vornehmlich aus der Provinz Idlib, der letzten umkämpften Hochburg der sog. Rebellen.

Knapp zwei Jahre später machte Erdoğan eine weitere Ankündigung wahr und startete am 9. Oktober 2019 eine neue Militäroffensive »Friedensquelle« in den Norden Syriens östlich des Euphrats, nachdem die USA ihre dort stationierten Truppen abgezogen hatten. Mit dieser Aggression zielte er auf eine 30 km breite »Sicherheitszone« entlang der syrischen Grenze bis zum Tigris in einer Länge von ca. 450 km. Aus dieser Zone sollten sich die kurdischen Truppen der YPG [Volksverteidigungseinheiten] zurückziehen und durch türkisches Militär ersetzt werden. Nach einer Übereinkunft mit Präsident Putin wurden die Patrouillen um russische Soldaten ergänzt. Zugleich kündigte Erdoğan ein massives Ansiedlungsprogramm von Flüchtlingen aus der Türkei an, die zuvor aus Syrien gekommen waren.

Beide Invasionen waren offensichtlich ein flagranter Verstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UN-Charta und die durch Art. 2 Z. 7 UN-Charta geschützte territoriale Integrität Syriens und eindeutig völkerrechtswidrig. Alle Regierungen von Washington über Berlin bis Moskau waren lange vorher gewarnt und hatten genügend Zeit, sich auf diese Provokationen vorzubereiten. Aber außer medialer Kritik auch von Regierungsseite in den westlichen Hauptstädten passierte nichts. Moskau legte am 10. Oktober sein Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Verurteilung der türkischen Invasion ein. Kein politischer Druck auf die Regierung in Ankara, keine spürbaren Sanktionen, mit denen die USA und die EU sonst problemlos umgehen, man war offensichtlich mit der Veränderung des strategischen Kräfteverhältnisses und der Kontrolle der Kurden zufrieden. Die Türkei ist schließlich ein NATO-Partner, dem ein massiver Verstoß gegen das Selbstverständnis der NATO als Verteidigungsbündnis großzügig nachgesehen wird, denn schon lange hat sich die Organisation in ein Interventionsbündnis gewandelt.

Selbstverteidigung?

Die Invasion wäre nur dann gerechtfertigt, wenn ein Mandat des UN-Sicherheitsrats nach Art. 39 und 42 UN-Charta, die Einwilligung Syriens oder ein Recht auf Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta gegeben wäre. Da aber weder ein Mandat noch eine Einwilligung vorliegen, beruft sich Erdoğan auf das Selbstverteidigungsrecht des Art. 51 UN-Charta. Raketenangriffe aus der Region Efrîn auf Ziele in den türkischen Provinzen Hatay und Kilis hätten zugenommen. »Die nationale Sicherheit der Türkei ist unter der direkten Bedrohung von den aus Syrien operierenden terroristischen Organisationen Daesch [Islamischer Staat, IS] und dem syrischen Ableger der PKK/KCK [Arbeiterpartei Kurdistan/Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans], der PYD/YPG [Partei der Demokratischen Einheit/Volksverteidigungseinheiten]«, heißt es in der türkischen Begründung. Artikel 51 UN-Charta findet seinem Wortlaut nach nur auf Angriffe von Staaten Anwendung. Seit dem Krieg der USA gegen Al-Qaida in Afghanistan nach dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 hat sich jedoch die Meinung durchgesetzt, dass auch gegen militärisch agierende Organisationen ein Selbstverteidigungsrecht besteht. Allerdings durften die USA gleichzeitig die territoriale Souveränität Afghanistans verletzen, weil die afghanische Taliban-Regierung Al-Qaida und deren Führer Bin Laden in den Bergen einen sicheren Unterschlupf gegeben hatte. Der Angriff von Al-Qaida wurde somit auch als Angriff Afghanistans gewertet, gegen den die USA ihr Verteidigungsrecht geltend machen konnten. Angriffsziel waren jetzt die PYD/YPG, die trotz ihrer Opposition der Regierung in Damaskus zuzurechnen sind. Die Türkei könnte daraus die Berechtigung ableiten, auf syrisches Territorium vorzudringen.

Doch ehe es zu dieser rechtlichen Streitfrage kommt, sind massive Zweifel angebracht, ob der behauptete Raketenbeschuss überhaupt als Angriff im Sinne des Art. 51 UN-Charta angesehen werden kann. Es kann sich allenfalls um vereinzelte Raketen gehandelt haben, die in dem Kampf um Efrîn auf türkischem Boden gelandet sind. Die Kurden haben auf jeden Fall das Recht auf Selbstverteidigung gegen den türkischen Angriff auf ihrer Seite. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass Daesch gerade das Land angegriffen hätte, von dem sie in der Vergangenheit immer wieder Unterstützung erlangt hatten. Die These von der »direkten Bedrohung« entbehrt jeder Beweiskraft, so dass auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages in ihrem Gutachten vom 7. März 2018 (WD 2 – 3000 – 023/18) erhebliche Zweifel äußerten.

Dies gilt auch für die zweite Militäroffensive »Friedensquelle« vom Oktober 2019. Erdoğan beruft sich auch hier auf eine allgemeine Bedrohungslage durch kurdische Milizen, ohne aber konkrete und ernsthafte Angriffshandlungen angeben zu können. Er spricht in seinem Schreiben vom 9. Oktober 2019 an den UN-Sicherheitsrat von einer »Brutstätte für verschiedene terroristische Organisationen« und »einer direkten und unmittelbaren Bedrohung durch terroristische Organisationen«, womit er ohne Zweifel die YPG meint. Nun umfasst der Begriff der Selbstverteidigung gemäß Art. 51 auch die Präventivverteidigung gegen einen bevorstehenden Angriff. Dieser muss jedoch unmittelbar und konkret sein, was die türkische Regierung bisher nicht belegen konnte. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wiesen in einem neuen Gutachten vom 17. Oktober 2019 (WD 2 – 3000 – 116/19) zu Recht darauf hin, dass punktuelle Übergriffe und Grenzverletzungen nur dann ein Recht auf Selbstverteidigung eröffnen, wenn sie zu einer »Angriffsserie kumulieren«. Die Kurden in Rojava haben bestritten, überhaupt türkisches Gebiet je angegriffen zu haben. Welches Interesse sollten sie auch haben, gegen einen militärisch übermächtigen Gegner zu Felde zu ziehen, während die Bedrohung durch den IS immer noch präsent ist und sie ihre ganze Aufmerksamkeit der internen Konsolidierung ihres Autonomiestatus in Syrien widmen müssen?

Das Adana-Abkommen und die Zerstörung Rojavas

Die Türkei ist offensichtlich ebenfalls nicht von einem Recht auf Selbstverteidigung überzeugt und beruft sich für ihre zweite Offensive auf das Adana-Abkommen. »Das von der Republik Türkei und der Syrischen Arabischen Republik am 20. Oktober 1998 unterzeichnete Adana-Abkommen begründet für mein Land eine vertragliche Basis, alle Arten des Terrorismus zu bekämpfen, die aus den Verstecken vom syrischen Territorium kommen, und zwar in effektiver und zeitnaher Weise«, heißt es in dem Brief Erdoğans vom 9. Oktober 2019. Damals richtete sich das Abkommen eindeutig gegen die PKK und führte zu der Ausweisung von Abdullah Öcalan, der in der Nähe von Damaskus lebte. Das Abkommen verpflichtete die beiden Staaten zwar zur Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung, wie auch immer sie den Terrorismus definierten. Es ermächtigte aber keine der Parteien, einseitig in das Land der anderen Partei einzumarschieren. Das hatte der ehemalige Leiter der Nachrichtenabteilung des Generalstabs der Türkei, Ismail Hakki Pekin, noch am 8. Februar 2019 gegenüber der Deutschen Welle bestätigt. Alle Versuche, sich auch für diese grobe Verletzung der territorialen Integrität Syriens ein Mäntelchen der Legalität umzuhängen, sind gescheitert. Das sieht so auch die überwiegende Zahl der Medien und der NATO-Staaten, einschließlich der USA. Ausdrücklich als völkerrechtswidrig verurteilt hat die Militäroffensive aber nur Griechenland, während der UN-Sicherheitsrat keinen Beschluss fasste.

Die türkische Invasion ist auf Dauer angelegt, die Armee will eine 30 km breite sog. Sicherheitszone vor der Nordgrenze Syriens zwischen Euphrat und Tigris kontrollieren. Das ist ein ebenso völkerrechtswidriges Unterfangen wie die Invasion selbst und die Besetzung Efrîns. Sie wird auch dadurch nicht rechtmäßig, dass Erdoğan offensichtlich mit Putin übereingekommen ist, die militärischen Kontrollen mit türkischen und russischen Soldaten gemeinsam durchzuführen. Kann sich Russlands Präsenz in Syrien auch auf die Einwilligung von Damaskus berufen, so ermächtigt diese Putin doch nicht, entgegen dem ausdrücklichen Widerspruch des immer noch legal amtierenden Regierungschefs Baschar al-Assad den Türken die Grenze zu Syrien zu öffnen. Auch die Tatsache, dass sich die kurdischen Kämpfer freiwillig aus der 30 km-Zone zurückgezogen haben, vermag der Invasion keine Rechtmäßigkeit zu verschaffen. Die Invasion hat eine Flüchtlingswelle von nach UN-Angaben über 190.000 Menschen erzeugt. Diese Flucht will Erdoğan zugleich dazu benutzen, bis zu zwei Millionen Menschen, die zuvor vor dem IS und dem Krieg gegen ihn in die Türkei geflohen waren, in den leer gewordenen Dörfern und Ortschaften neu anzusiedeln. Ein derartiger Bevölkerungsaustausch in einem besetzten Gebiet ist absolut völkerrechtswidrig. Das ist seit den Haager Konventionen von 1907 verboten. Einen Völkermord (Art. 6 Römisches Statut), den manche Kritiker in der Vertreibung und Neuansiedlung sehen, kann man allerdings kaum begründen. So brutal und menschenfeindlich der Plan auch ist, den Willen zur Vernichtung des kurdischen Volkes – ein Tatbestandsmerkmal des Straftatbestandes – wird man ihm nicht nachweisen können.

Ist die ganze Operation, mit der Erdoğan nichts anderes verfolgt, als die militärische Kontrolle über die Kurden in Syrien zu bekommen und ihren bisher so erfolgreichen Aufbau einer autonomen Selbstverwaltung in Syrien zu zerstören, völkerrechtswidrig, so bleibt dennoch die Frage nach den Konsequenzen eines derart eindeutigen Verstoßes gegen das Völkerrecht. Nachdem das Römische Statut auch das Verbrechen der Aggression in seine Straftatbestände aufgenommen hat und dies seit Dezember 2017 vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verfolgt werden kann, steht einer Strafverfolgung Erdoğans juristisch nichts mehr im Wege. Die Türkei hat allerdings das Römische Statut nicht ratifiziert. Deswegen müsste der UN-Sicherheitsrat den Fall dem IStGH überweisen (Art. 13 lit. b Römisches Statut) – und das wird an dem Veto der drei NATO-Staaten, zumindest der USA, wahrscheinlich aber auch Russlands, scheitern. Wie so oft scheitert das Recht an den geostrategischen Interessen der großen Mächte. Kriege sind immer auch ein Mittel, interne Schwierigkeiten wie den Verlust der Dominanz und die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Erdoğan hat es offensichtlich verstanden, durch die ständige Beschwörung einer terroristischen Gefahr durch PKK und YPG, die Mehrheit der Bevölkerung hinter seinen Feldzug in Syrien zu bringen, wie sie schon vorher den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im eigenen Land unterstützt hat. Der Kampf um die Mehrheit in der Türkei bleibt die vordringliche Aufgabe des kurdischen Volkes.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020