Ein kurzer politischer Ausblick in Nordkurdistan

»Mit vorgezogenen Neuwahlen wird das politische Dasein der AKP enden«

Interview mit dem Ko-Vorsitzenden der HDP, Sezai Temelli


Die Demokratische Partei der Völker (HDP) rief am 20. November in einer Erklärung zu vorgezogenen Parlamentswahlen auf. In dem Positionspapier wird bekräftigt, alle Errungenschaften verteidigen und den demokratischen Kampf gegen das Regime der Zwangsverwaltung fortsetzen zu wollen. Altan Sancar sprach mit dem Ko-Vorsitzenden der HDP, Sezai Temelli, über eine Bilanz der aktuellen Lage und über die Position der HDP zu den Geschehnissen seit den Kommunalwahlen und zu den vom türkischen Innenministerium eingesetzten Zwangsverwaltern in kurdischen Städten und Kommunen.

»Mit vorgezogenen Neuwahlen wird das politische Dasein der AKP enden«Warum haben Sie als HDP zu vorgezogenen Neuwahlen aufgerufen?

Die Kommunalwahlen vom 31. März 2019 und die wiederholte Istanbul-Wahl haben von selbst die Atmosphäre für vorgezogene Wahlen geschaffen. Es hing nur von den Entwicklungen ab, wann sie stattfinden können und wann entsprechend aufgerufen werden kann. Wir haben erkannt, dass die Regierung, die am 31. März eine Niederlage erlitten hat, nicht in der Lage ist, das Land zu regieren. Der klarste Ausdruck dessen war der politische Putsch am 19. August. In von uns geführten Rathäusern wurden Zwangsverwalter eingesetzt, viele unserer Freunde und Freundinnen wurden verhaftet und die Repression gegen unsere Partei dauert an. Angesichts all dessen können wir eine tiefgreifende Krise erkennen. Es gibt sowohl eine wirtschaftliche, gesellschaftliche als auch eine politische Krise, die nicht gehandelt werden können. Es gibt also eine Regierung, die mit diesen Krisen nicht umgehen kann, und daraus schlussfolgern wir, dass in der Türkei das Klima für vorgezogene Wahlen herrscht.

ieser Zustand kann nicht andauern und vorgezogene Wahlen sind unumgänglich. Das versucht eine zunehmende Politik der Gewalt, der Repression und des Krieges zu vertuschen. Die der Regierung verbliebenen Argumente sind ihre Kriegspolitik, ihr Zwangsverwaltungsregime, die Verteufelung der HDP, die Repression gegen die Gesellschaft und Angriffe auf die nicht mehr vorhandene Pressefreiheit. Das alles zusammengenommen zeigt, dass die Regierung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) bröckelt. Der Weg, um diese Situation zu überwinden, sind vorgezogene Wahlen.

Haben Sie einen Terminvorschlag für vorgezogene Wahlen?

Die vorgezogenen Wahlen sind ein uns vorgelegtes Produkt der Politik. Kein Politiker wird hingehen und den Wahltermin festlegen. Den wird die Politik bestimmen, doch dieses Thema steht nun auf der Tagesordnung. Wir werden dafür arbeiten, dass die Wahlen früh stattfinden.

Verfügt die HDP über eine Roadmap?

Die vorgezogenen Wahlen sollten als eine Phase verstanden werden. Vorher und nachher muss eine Vereinbarung getroffen werden. Es wird insbesondere von Bedeutung sein, dass die Kreise, die in einem Demokratiebündnis zusammenfinden, eine gesellschaftliche Vereinbarung treffen. Dass die Türkei jetzt an dem Punkt steht, nicht mehr verwaltet werden zu können, hängt mit den heutigen Systemproblemen zusammen.

Gegen die in den letzten fünf Jahren aufgezwungene Isolationsjustiz, das Zwangsverwaltungsregime und die Kriegspolitik bedarf es einer demokratischen Verfassung, der zufolge eine gesellschaftliche Vereinbarung für die Türkei getroffen werden muss. Wir werden zu genau diesem Punkt unsere Roadmap bestimmen. Wir werden sowohl zu vorgezogenen Neuwahlen aufrufen als auch eine Roadmap herausbringen.

Veröffentlichten Umfragen zufolge sind die Menschen der Wahlen überdrüssig. Insbesondere bei SAMER heißt es, dass die HDP-Wählerschaft den Glauben an den Urnengang verloren habe. Wie wollen Sie dieses Problem überwinden?

Die alltäglichen Auswirkungen der Regierungspolitik halten die Gesellschaft von den Wahlurnen fern. Aus der Umfrage von SAMER kann man sehr wichtige Lektionen ziehen. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass mit einem Konsens aller gesellschaftlichen Kreise eine Einigung über die Themenkomplexe Demokratie, kurdische Frage und Menschenrechte erzielt werden kann und sich mit einem so gestärkten parlamentarischen System auch das fehlende Vertrauen in die Wahlen auflöst.

Wenn wir auf Bündnisse zu sprechen kommen ... Was für eine Politik werden Sie bei möglichen vorgezogenen Wahlen verfolgen?

Die Menschen, die zur Gestaltung einer Roadmap und zur Organisierung zusammenkommen, werden das Demokratiebündnis realisieren. Das Bündnis mit politischen Parteien ist sekundär. Zuallererst ist es wichtig, dass die Gesellschaft im demokratischen Widerstand gegen den Faschismus zusammenkommt und sich der Kampf entsprechend den vorgezogenen Wahlen politisch orientiert. Es sind die natürlichen Folgen des Demokratiebündnisses, dass die kurdischen Parteien, alle gesellschaftlichen Kreise und eine Vielzahl politischer Parteien inner- und außerhalb des Parlaments um ein entsprechendes Programm herum zusammentreffen.

Wie wird dieses Zusammenkommen aussehen?

Die Forderung der Gesellschaft nach einem Zusammenkommen muss sich herausbilden und diese Forderung braucht ein politisches Programm. Dieses Programm bedarf eines Zusammentreffens der gesellschaftlichen Opposition in einer demokratischen Verfassung und sie muss sich auf einen Systemwechsel einigen. Es ist sehr wichtig, in der Gesellschaft genau dafür politisch tätig zu sein.
Als HDP gehen wir in die Richtung einer großen Konferenz. Wir werden uns selbst wie auch die Gesellschaft organisieren. Nach den Kommunalwahlen am 31. März hatten wir viele Gespräche und Treffen mit dem Ziel der Gründung eines Demokratiebündnisses. Mit dem Aufruf zu vorgezogenen Neuwahlen wird diese Arbeit intensiv weitergehen.

Können in ein solches Bündnis auch Babacan und Davutoğlu integriert werden, die sich von der AKP losgesagt haben und eigene Parteien gründen wollen?

Wir haben das Programm dieser Parteien und ihre Pläne für die Gegenwart und Zukunft noch nicht gesehen. Wir werden selbstverständlich die Gründung dieser Parteien und die Äußerungen ihrer Mitglieder verfolgen. Wir müssen auch sehen, wie sich ihre Trennung von der AKP gestalten wird.

Die gerechte Repräsentation in Demokratien hängt nicht nur von der steigenden Zahl politischer Parteien ab, sondern auch von deren pluralistischen Charakter. Es ist für uns auch wichtig, dass sie auf der politischen Bühne repräsentiert werden.

Andererseits kann man die heutigen Krisen der Türkei und die Verbrechen an der Gesellschaft auch nicht von diesen Personen getrennt sehen. Sie müssen Selbstkritik üben für die Vergangenheit. Wenn sie sich gegen die Zwangsverwaltung und die Kriegspolitik positionieren und bei den Themen lokale Demokratie und gestärktes Parlamentssystem zusammenkommen können, dann wird sich unser Ruf nach einem Demokratiebündnis auch an diese Parteien und ihre Anhängerschaft richten.

Ihre Annäherung an die kurdische Frage, an die Frage der Arbeit und der Frauen wird von Bedeutung sein. Dafür müssen sie ihre Programme vorlegen. Heute gibt es nicht genug Informationen, um sie richtig bewerten zu können.

Sie sprachen von einem »Bröckeln« der AKP. Wohin bewegt sie sich?

Die AKP hielt sich mit Unterstützung der Partei für eine Nationalistische Bewegung (MHP), doch nun hat auch die begonnen zu schrumpfen. Die Erwartungen beider Parteien bei den Wahlen am 24. Juni 2019 lagen bei 66 Prozent, doch sie erreichten nur knapp 52 Prozent. Am 31. März 2019 hatten sie kritische Kommunen für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Türkei verloren, all das infolge unserer politischen Strategie.

Wir sehen also das Wachsen der HDP-Politik und ein Bröckeln der von der AKP verfolgten. Dieser Zustand wird für die AKP weiter anhalten. Um ihr Zusammenzufallen zu verhindern, zwingt sie die Gesellschaft zum Krieg und kennt beim Vorgehen gegen die demokratische Politik kein Gesetz und Recht. Auch wenn sie übergangsweise durchatmen konnte, kann sie ihrem Niedergang nicht entgehen, ihr Dasein wird mit den nächsten Wahlen ein Ende finden. Sie hatte sich mit Wahlerfolgen konsolidieren können, doch bei den Wahlen am 31. März und am 24. Juni 2019 sahen wir einen fortdauernden Verfall. Sie wird nun eine absolute Wahlniederlage erleben und ihre politische Existenz wird enden.

Sie nannten die Politik der AKP als Hindernis für die HDP und sprachen von der Repression gegen Ihre Partei. Könnte diese Repression bis zu einem Parteiverbot reichen?

In der Vergangenheit ist diese Frage bereits oft gestellt worden. Es ist nicht abzusehen, was die AKP in ihrer ausweglosen Lage tun wird. Sie kann alle illegalen Wege gehen; so verhält es sich mit dem Zwangsverwaltungsregime. Die AKP will alle demokratischen Institutionen im Land schließen und mit dem Ausnahmezustand regieren. Der einzige Weg, sich zu halten, ist es, vor dem Recht zu fliehen.

Wir sagen immer, dass die HDP kein Gebäude ist und nicht einfach geschlossen werden kann. Die HDP zu schließen bedeutet nicht einfach, ein Gebäude mit einem Schloss abzusperren. Die Politik der HDP ist keine Politik, die mit einem Verbot beendet werden kann.

Die Türkei erlebt auch eine Wirtschaftskrise. Welche wirtschaftlichen Folgen hat diese Politik?

Die Türkei hat das S-400-Raketensystem gekauft, wofür sie keinen Bedarf hat. Sie hat auch nicht das Bedürfnis nach so viel Aufrüstung. Wäre die Türkei ein Land mit einer Friedenspolitik, dann wären all die Probleme gelöst. Doch sie kauft weiterhin Dinge, für die sie keinen Bedarf hat, und setzt ihre Kriegspolitik fort.

Dafür trifft sie mal mit Russland, mal mit den USA Vereinbarungen. Die Türkei ist dazu gezwungen, die Kosten für das alles der Gesellschaft aufzubürden. Es gibt einen Mindestlohn, der unterhalb der Armutsgrenze liegt, und verhandelt wird über Zahlen, die der Menschenwürde unwürdig sind. Warum sollte der Mindestlohn nicht die Hälfte der Armut tilgen? Anstatt dass das den Werktätigen gerechterweise Zustehende an die S-400, die F-35 oder die Munition geht.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020