Mit »Soziologie der Freiheit« erscheint der dritte Band von Abdullah Öcalans »Manifest der demokratischen Zivilisation«

Bildungs- und Gesundheitsprobleme der Gesellschaft

Leseprobe aus dem im Mai erscheinenden Buch »Soziologie der Freiheit« von Abdullah Öcalan


Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. III, Soziologie der Freiheit, aus dem Türkischen von Reimar Heider und Mehmet Salih Akın | mit einem Vorwort von John Holloway, ISBN 978-3-89771-077-1, Erscheinungsdatum: Mai 2020, Seiten: 488, Ausstattung: softcover»Die Basis, Existenz und Freiheit einer Gesellschaft, die ihre Gesundheit mit ihren eigenen Ressourcen nicht schützen kann, sind entweder bedroht oder gänzlich verloren«, stellt Abdullah Öcalan in seinem Buch »Soziologie der Freiheit« fest. Wir veröffentlichen vorab ein Kapitel zu den Bildungs- und Gesundheitsproblemen der Gesellschaft.

Im Mai erscheint mit »Soziologie der Freiheit« der dritte Band von Abdullah Öcalans »Manifest der demokratischen Zivilisation« im Unrast Verlag. Übersetzt wurde das Werk aus dem Türkischen von Reimar Heider, dem Sprecher der »Internationalen Initiative: Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan«, und Mehmet Salih Akın. Wir veröffentlichen vorab ein Kapitel (Seite 169 bis 173) zu den Bildungs- und Gesundheitsproblemen der Gesellschaft:

Bildungs- und Gesundheitsprobleme der Gesellschaft

Obwohl es wie ein zusätzliches Thema erscheint, ist es wichtig, die Probleme zu begreifen, die aus der Monopolisierung der Bildungs- und Gesundheitsbereiche durch die Macht und den Staat erfolgten. Genauso wie die verstaatlichte Wissenschaft das effektivste Mittel der ideologischen Hegemonie bildet, weisen die mit der Macht eins gewordene Bildung und Gesundheit den gleichen Charakter auf.

Bildung lässt sich als der Versuch der Gesellschaft definieren, ihre Mitglieder, vor allem die jungen darunter, gesellschaftliche Erfahrungen in Form theoretischen und praktischen Wissens verinnerlichen zu lassen. Die Sozialisation von Kindern erfolgt durch gesellschaftliche Bildungstätigkeit. Die Bildung von Kindern ist die wichtigste Aufgabe nicht der Macht und des Staates, sondern der Gesellschaft selbst; denn Kinder und Jugendliche gehören zu der Gesellschaft. Ihre eigenen Kinder und Jugendlichen ihren eigenen Traditionen und den Eigenschaften ihrer gesellschaftlichen Natur entsprechend zu erziehen und zu bilden und sie in sich selbst zu verwandeln, ist – sowohl als Recht als auch als Aufgabe – ein lebenswichtiges Thema, eine Frage der gesellschaftlichen Fortexistenz. Keine Gesellschaft kann ihr Existenzrecht und die Aufgabe, dazu ihre Kinder zu erziehen und zu bilden, mit einer anderen Kraft teilen oder ihr überlassen. Die Gesellschaft kann dieses Recht und diese Aufgabe nicht delegieren, selbst wenn es dabei um den Staat oder diverse Machtapparate handelt. Sonst ergäbe sich die Gesellschaft den Herrschaftsmonopolen.

Die Heiligkeit des Rechts auf Bildung beruht auf der Existenz. Keine Kraft, nicht einmal die der Eltern, kann ihren Kindern und Jugendlichen so nahe stehen wie die Gesellschaft und keine Kraft spürt das Bedürfnis, es zu tun. Eine der gesellschaftsfeidlichsten Taten der Zivilisationen in der Geschichte ist, dass sie die Gesellschaft ihrer Kinder und Jugendlichen berauben. Das etatistische Zivilisationssystem verwirklicht diese Tat auf zwei Wegen: Entweder, indem es die Erwachsenen vernichtet und die Kinder und Jugendlichen versklavt, oder indem es sie zu sich nimmt, um sie angeblich zu erziehen, zu bilden oder auszubilden, um sie auf der Ebene der Macht zu verwerten.

Eines der Hauptziele von Kriegen ist die Errichtung von Dewschirmestätten, um Mädchen und Jungen durch diese beiden Methoden zu assimilieren. Während dies den Ursprung der Bürokratie bildet, stellt die Zivilisationsgeschichte den Akt dar, mit dieser Methode sowohl die Gesellschaft zu schwächen als auch die Stärke bürokratischer Apparate zu entwickeln: die Errichtung einer Gesellschaft gegen die Gesellschaft, der Gesellschaft des Staates. In dieser Einrichtung wird Kindern und Jugendlichen, die aus ihrer eigenen Gesellschaft herausgerissen wurden, eine ganz andere Sprache, Kultur und Geschichte gelehrt. Die Entfremdung der Kinder und Jugendlichen von sich selbst ist das Hauptziel dieser (Aus-)Bildung und Erziehung. Sowohl im ideologischen als auch im materiellen Sinne wird ihnen die etatistischste Identität aufoktroyiert. So wird ihnen ein Leben ohne Macht verunmöglicht und der Staat und die Macht werden für sie zum einzig gangbarem Weg ihrer Existenz gemacht. Diese assimilierten Gruppen halten sich selbst einerseits für den Staat und die Macht, geraten andererseits dadurch in einen Widerspruch mit der Gesellschaft. Manchmal werden die Staatsgesellschaft und die gesellschaftliche Natur gleichgemacht. Das ist ein Fehler, ein Widerspruch. Die Zivilisationsgeschichte wurde auf diesem Widerspruch aufgebaut. Diese historischen Tatsachen stecken hinter der Usurpierung der Bildung durch die Mächte, die ansonsten der Bildungsaufgabe an der Gesellschaft völlig gleichgültig gegenüberstehen. So wie der Kapitalist seine Arbeiter (aus-)bildet, bilden sie die von ihnen Beherrschten der gleichen Logik entsprechend als Untertanen-Arbeiter (aus). Selbst wenn es Bürokratie heißt, werden ihre Mitglieder von der untersten bis zur obersten Stufe zu Untertanen (aus-)gebildet und erzogen.

Insbesondere nationalstaatliche Mächte errichten ihr Monopol über den Kindern und Jugendlichen der Gesellschaft vor allem durch Bildung. Die Personen, die von diesen Mächten mit ihrem eigenen Geschichts- und Kunstverständnis, ihrer religiösen und philosophischen Mentalität bearbeitet wurden, sind nicht mehr ihrer ehemaligen Familien, sondern der Machthaber Kinder und Eigentum. So wird die große Entfremdung institutionalisiert. Die Bourgeoisie stellt diejenige Klasse dar, die über der Gesellschaft das intensivste Bildungsmonopol errichtet hat. Wenn die Grund- und Mittelschulbildung zur Pflicht erklärt und Arbeitssuchende auf das Universitätsdiplom hingewiesen werden, erlangt der auf die Jugend einwirkende, aus Entfremdung und Abhängigkeit bestehende Einklemmungs- und Einschließungsprozess Zwangscharakter, und Gewalt, materielle Kraft und Bildung/Erziehung werden zu Waffen der Kolonialisierung der Gesellschaft, denen nur schwer zu widerstehen ist.

Folglich kann man jedenfalls behaupten, dass es die Gesellschaft ist, die den größten Schaden des Kriegs erlitt, den der Staat und die Macht im Laufe der Geschichte gegen sie führten. Das gesellschaftliche Recht auf Bildung stellt das am schwersten umzusetzende Recht dar. Die Gesellschaft, die ihre Existenz unbedingt durch Bildung gewährleisten muss, ist angesichts der unheimlichen Stärke des Nationalstaats und der wirtschaftlichen Monopole in die schwierigste Phase ihrer Geschichte eingetreten. Der Nationalstaat, der seine ideologische Hegemonie errichtet hat, kolonialisiert, im Zuge der jüngsten Kommunikationsrevolution, mit einem medialen Krieg die ganze Gesellschaft in kultureller Hinsicht und führt erfolgreich eine unauffällige kulturelle Kolonialisierung durch, die genauso intensiv, vielleicht noch intensiver als die militärische und wirtschaftliche Kolonialisierung ist. Gegen diese kulturelle Eroberung und Kolonialisierung ist ein Widerstand der Gesellschaft mit ihren Existenzmitteln, ihrer eigenen Moral und ihrem politischen Kampf, der einzige Weg der Emanzipation und Befreiung. Eine Gesellschaft, die ihre Jugendlichen verloren hat, oder eine Jugend, die ihre Gesellschaft verloren hat, haben über eine Niederlage hinaus ihr Existenzrecht verloren und verraten. Das Einzige, was ihnen bleibt, sind Verderbnis und Untergang. Die Hauptaufgaben der Gesellschaft sind deshalb, ihre eigenen Bildungsinstitutionen als grundsätzliche Mittel ihrer Existenz zu errichten, ihre wissenschaftlichen, philosophischen, künstlerischen und sprachlichen Interpretationen von der Wissenschafts- und Machtstruktur inhaltlich zu trennen und die Bedeutungsrevolution zu verwirklichen. Ansonsten wird es ihr nicht gelingen, die moralischen und politischen Gewebe ihres Gesellschaftswesens dazu zu bringen, ihre Funktion zu erfüllen.

So macht einerseits die Bildungsfrage im Wesentlichen die moralischen und politischen Institutionen (Gewebe) der Gesellschaft unabdingbar, andererseits stellt die Verwirklichung der gesellschaftlichen Bildung die Hauptaufgabe von Moral und Politik dar. Eine Gesellschaft, die sich selbst nicht bilden und erziehen kann, verliert die Möglichkeit, ihre eigene Moral und politischen Institutionen zu entwickeln und am Leben zu halten. Eine solche Gesellschaft kommt nicht umhin, stets in der Gefahr zu leben, zu verderben und sich aufzulösen.

Auch die gesellschaftliche Gesundheitsfrage ist ein äußerst sensibles Thema. Es ist von ebenso großer Bedeutung wie die Bildung. Die Basis, Existenz und Freiheit einer Gesellschaft, die ihre Gesundheit mit ihren eigenen Ressourcen nicht schützen kann, sind entweder bedroht oder gänzlich verloren.

Die Abhängigkeit vom Gesundheitsbereich ist ein Indikator für allgemeine Abhängigkeit. Eine Gesellschaft, die ihre physischen und geistigen Gesundheitsprobleme gelöst hat, hält die Emanzipationsmöglichkeit in ihren eigenen Händen. Verbreitete Krankheiten in kolonialisierten Gesellschaften hängen mit dem Kolonialregime zusammen. Die eigenen Gesundheitsinstitutionen zu errichten und -experten auszubilden, ist als grundsätzliches Recht und Aufgabe der Gesellschaft anzusehen. Dass die Macht und der Staat diese Aufgabe der Gesellschaft entreißen, in ihre eigenen Hände nehmen und monopolisieren, ist ein heftiger Schlag auf die gesellschaftliche Gesundheit. Der Kampf für das Recht auf Gesundheit ist die Sensibilität der Gesellschaft gegenüber ihrem Selbstrespekt und ihrer Freiheit.

Die kapitalistische Moderne hält die Vernationalstaatlichung von Bildung und Gesundheit für lebenswichtig. Ohne diese beiden Bereiche, von denen die existenzielle, gesunde und aufgeklärte Entwicklung der Gesellschaft abhängt, unter Kontrolle zu bringen, ohne über ihnen eine monopolistische Herrschaft zu errichten, ist die Aufrechterhaltung der allgemeinen Herrschaft und Ausbeutung äußerst schwierig. Da die Monopole sich dessen bewusst sind, dass sie die Gesellschaft nicht alleine durch nackte militaristische Gewalt enteignen könnten, ist für sie die Kontrolle über Bildung und Gesundheit von unglaublicher Wichtigkeit.

Wir sehen noch einmal, dass allen existenziellen Gesellschaftsfragen der monopolistische Staat und die Macht zugrunde liegen. Der Profit und das Kapital könnten ohne dieses Machtmonopol nicht weiterexistieren. Und ohne systemischen Kampf der demokratischen Zivilisation dagegen kann keine Gesellschaftsfrage nachhaltig gelöst werden.

Abdullah Öcalan
Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. III
Soziologie der Freiheit
aus dem Türkischen von Reimar Heider und Mehmet Salih Akın | mit einem Vorwort von John Holloway
ISBN 978-3-89771-077-1
Erscheinungsdatum: Mai 2020
Seiten: 488
Ausstattung: softcover