Die aktuelle Koalitionsregierung im spanischen Staat: Ein Zeitfenster für die Bask*innen?
Oihana Etxebarrieta, Mitglied des baskischen Parlaments, EH Bildu (Koalition für Unabhängigkeit)
Lassen Sie mich zunächst sagen, dass dieser Artikel aus dem Baskenland stammt. Wir haben seit 2010 einige bedeutsame Veränderungen erlebt und mir ist es sehr wichtig, über den Friedensprozess und die aktuelle Situation zu informieren.
Das Baskenland:
Das Baskenland (Euskal Herria) erstreckt sich über zwei Staaten und ist in drei institutionelle Verwaltungsgebiete unterteilt: Die Autonome Gemeinschaft des Baskenlandes (CAV) und die Foral Community of Navarre (CFN) auf der spanischen Seite und die Kommunen der Baskischen Gemeinschaft auf Seiten des französischen Staates.
Beide Regionen innerhalb des spanischen Staats haben mehr Selbstständigkeit als die übrigen spanischen Regionen und sind die einzigen, die fiskalische Rechte besitzen. Ihnen wurde die Zuständigkeit in einer Reihe von Fragen übertragen, ausgenommen Verteidigung, Außenbeziehungen, Gefängnisse, Forschung und Entwicklung und spezielle andere Bereiche.
Währenddessen bilden die drei historischen Provinzen im Baskenland unter französischer Herrschaft, im Volksmund Iparralde (baskisch für Nordseite), seit dem 1. Januar 2017 die Kommunen der Baskischen Gemeinschaft (baskisch: Euskal Hirigune Elkargoa; französisch: Communauté d´Agglomeration du Basque). Bis 2017 hatten diese Gebiete keinen offiziellen Status. Die Kommunen der Baskischen Gemeinschaft sind Teil des 64. französische Departements (Pyrénées-Atlantiques) in der Region Aquitanien und verfügten nur über begrenzte Befugnisse.
Auf jeden Fall müssen wir feststellen und betonen, dass weder Spanien noch Frankreich unser Recht auf Selbstbestimmung anerkennen und dass auf spanischer Seite unsere Autonomie, obwohl ausgeprägter als die anderer Regionen, ständig von Madrid beeinträchtigt wird. Unser Volk und sein Selbstbestimmungsrecht werden dauerhaft geleugnet.
Der Konflikt:
Die dauerhafte Verleugnung der Existenz des Baskenlandes durch Frankreich und Spanien hat zu unterschiedlichen Reaktionen und Formen von Vorstellungen nationaler Selbstbestimmung geführt. Die Antwort reichte von kollektivem Ungehorsam bis zu einer bewaffneten Antwort auf die spanische und französische strukturelle Gewalt. Vor diesem Hintergrund hat der politische Konflikt seit Generationen Formen offener und blutiger Konfrontation angenommen. Ab 1959 hat die ETA einen bewaffneten Kampf für Unabhängigkeit und Sozialismus für das Baskenland geführt.
Nach mehr als 50 Jahren bewaffneter Konfrontation und drei gescheiterten Friedensprozessen (Algier 1989, Lizarra-Garazi 1999 und Loiola 2007) beschloss die baskische Bewegung im Jahr 2009, einen einseitigen Prozess einzuleiten, um einen dauerhaften und gerechten Frieden zu erreichen. Infolge dieser Entscheidung erklärte die ETA einen Waffenstillstand und kündigte später die endgültige Einstellung ihrer bewaffneten Aktivitäten an. Dieser Prozess wurde von Vertretern der baskischen Gesellschaft und internationaler Akteure unterstützt.
Einerseits hat die baskische Gesellschaft den Prozess unterstützt: Bei jeder Wahl seit 2011 (mit Ausnahme der spanischen Parlamentswahlen 2015 und 2016) hat die linksgerichtete Koalition für Unabhängigkeit EH Bildu rund 25 % der Stimmen erhalten und ist damit die zweitstärkste politische Kraft im Land. Es gab große Demonstrationen gegen Repressionen und für die baskischen politischen Gefangenen. Seit 2011 findet jährlich eine Demonstration für die Rechte der Gefangenen statt, an der sich seitdem um die 100.000 Menschen oder mehr beteiligten; im Januar 2014 war sie mit 130.000 Teilnehmer*innen die größte Demonstration im Baskenland überhaupt.
Auf der anderen Seite hat die internationale Gemeinschaft eine sehr wichtige Rolle gespielt. Am 17. Oktober 2011 präsentierten Kofi Annan, Gro Harlem Bruntland, Bertie Ahern, Gerry Adams, Pierre Joxe und Jonathan Powell die Erklärung von Aiete, die später von Tony Blair, Jimmy Carter und George Mitchell unterstützt wurde.
Die Erklärung enthielt vier Empfehlungen zur Lösung des Konflikts: In der Erklärung wurde die ETA aufgefordert, die bewaffnete Kampagne zu beenden. Dies setzte die ETA drei Tage später um. Die spanische und die französische Regierung wurden aufgefordert, mit der ETA über die Folgen des langjährigen Konflikts zu sprechen. An die baskische Gesellschaft ging der Appell, das Leid aller Opfer aufzuarbeiten und die baskischen Parteien sollten sich um die Wurzeln des Konflikts bemühen.
Trotz der Entscheidung der ETA, den bewaffneten Kampf zu beenden, weigerte sich sowohl die spanische als auch die französische Regierung, einen Dialog über die Folgen des Konflikts aufzunehmen. Stattdessen versuchten sie, den Prozess zu blockieren und zu behindern, indem sie Druck auf die Gefangenen ausübten und Solidaritätsinitiativen und politische Aktivist*innen verfolgten.
Die spanische Regierung benutzte die baskischen politischen Gefangenen als politische Geiseln und trotz der positiven Entwicklung im Land verschlechterten die spanischen Behörden deren Haftbedingungen. Gesetze wurden uminterpretiert, einschließlich der Anwendung des Gerichtsbeschlusses 197/2006 [auch bekannt als Parot Doktrin; die Parot Doktrin verweigerte bestimmten Gefangenen – besonders den Gefangenen aus der ETA – das Recht auf Reduzierung ihrer Haftstrafen; Anm.], um die Haftdauer der Gefangenen zu verlängern. Diese Entscheidung wurde später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als nicht gesetzeskonform verworfen.
Die spanische Regierung weigerte sich sogar, einen Dialog über den Entwaffnungsprozess der ETA zu führen und behinderte diesen aktiv, indem sie Teile der Führung der ETA verhaftete. Darunter diejenigen, die dafür zuständig waren, die Waffen gebrauchsunfähig zu machen.
ETA Abrüstung & Auflösung:
Angesichts der Haltung Spaniens und Frankreichs waren die baskische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft gezwungen, sich zu engagieren und neue einseitige Schritte zu unternehmen, um die Blockade zu überwinden. 2017 übergaben Peace Artisans (Vertreter*innen der baskischen Zivilgesellschaft) der Internationalen Verifikationskommission (IVC) die Liste der acht Waffenlager, die das gesamte Arsenal der ETA enthielten. Der Erzbischof von Bolognia, Matteo María Zuppi, und Reverend Harold Good waren Zeugen der Übergabe. Das IVC übergab die Daten den zuständigen französischen Behörden und forderte die Überprüfung der Vollständigkeit der Entwaffnung der ETA. Trotz des spanischen Widerstandes gelang es der ETA mit Unterstützung der baskischen Zivilgesellschaft den Entwaffnungsprozess voranzubringen.
Während einer offiziellen Zeremonie am 3. Mai 2018 im Zentrum für Humanitären Dialog (HD) in Genf, Schweiz, bestätigte dessen Exekutivdirektor, David Harland, die Organisation habe die offizielle Erklärung der ETA über deren endgültige Auflösung erhalten.
In ihrer Auflösungserklärung betonte die ETA, sie habe »beschlossen, ihr 60-jähriges Bestehen zu beenden«, und dass diese Entscheidung »von allen Mitgliedern der Organisation getroffen wurde«.1 Die Gruppe bestätigte auch, dass sie infolge dieser Entscheidung »alle ihre Strukturen vollständig abgebaut und alle politischen Aktivitäten beendet habe«. Ebenso verkündete sie, dass »keine politischen Positionen mehr zum Ausdruck gebracht, Initiativen gefördert oder mit anderen Akteuren interagiert« werde.
Am Freitag, den 4. Mai 2018, fand in der Villa Arnaga in Cambo-les-Bains das »Internationale Treffen zur Förderung der Lösung des Konflikts im Baskenland« statt. Die Konferenz wurde von der Internationalen Kontaktgruppe, BakeBidea und dem Ständigen Sozialforum organisiert und durchgeführt. Das Treffen fand im Beisein von Michel Camdessus, Bertie Ahern, Cuauhtémoc Cárdenas Solórzano, Gerry Adams und Jonathan Powell statt. Fast 100 Vertreter*innen der baskischen Gesellschaft aus dem Norden (Frankreich) und Süden (Spanien) waren in der Villa Arnaga anwesend. Darunter befanden sich politische Parteien, Gewerkschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft, Wirtschaftsverbände und Geistliche.
Die Konferenz endete mit der Erklärung von Arnaga, die drei Herausforderungen für die Zukunft betonte: Eine Lösung für das Problem der Gefangenen und der sich noch auf der Flucht befindlichen ETA-Akteure zu suchen, auf Versöhnung hinzuarbeiten und die Notwendigkeit eines politischen Dialogs zwischen den Gegnern zur Lösung politischer Probleme und Widersprüche.
Die Auflösungserklärung der ETA und die Deklaration von Arnaga markierten den Beginn einer neuen politischen Ära für Euskal Herria. Es gibt noch offene Fragen, die dringend angegangen werden müssen, wie etwa die Situation der Gefangenen, aber die Auflösung der ETA und ihre Entschuldigung bei den Opfern des Konflikts sowie die Deklaration von Arnaga haben eine gute Grundlage für die Zukunft geschaffen.
Es gibt immer noch fast 240 baskische politische Gefangene in Spanien und Frankreich und wir müssen im Auge behalten, dass ihre Situation derzeit noch von zwei großen Problemen belastet ist: Die in Spanien angewandte Vereinzelungspolitik (Gefangene werden isoliert und so weit wie möglich von ihren Herkunftsorten entfernt inhaftiert) und die Weigerung, schwerkranke Gefangene freizulassen.
Das Wahljahr 2019 und die aktuelle neue Regierung
Das Jahr 2019 war im spanischen Teil des Baskenlands von verschiedenen Wahlen geprägt: Wahlen zum spanischen Parlament im April, Regionalwahlen, Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai sowie eine Wiederholung der Parlamentswahlen im November. Diese war die 4. spanische Parlamentswahl in ebenso vielen Jahren und ist ein Hinweis auf die Krise, die den spanischen Staat erfasst hat, und zwar auf wirtschaftlicher, finanzieller, territorialer Ebene und der der Legitimität.
Die von Präsident Pedro Sanchez (PSOE) im April anberaumten vorgezogenen Wahlen fanden inmitten einer wachsenden Rechts-Links-Polarisierung und der Bedrohung durch eine rechtsgerichtete Regierung statt, die von PP, Ciudadanos und VOX angestrebt wurde. Obwohl die Wahlergebnisse eine progressive Mehrheit ermöglicht hätten, verzögerten sich die Verhandlungen zur Regierungsbildung zunächst aufgrund der Kommunal- und Regionalwahlen Ende Mai und gingen dann schnell in eine im Fernsehen übertragene Seifenoper zwischen der PSOE von Premierminister Sanchez und Podemos über.
Die Unfähigkeit zur Regierungsbildung führte uns zur Wahlwiederholung am 10. November, bei der die Parteien angesichts einer geringeren Wahlbeteiligung Schwierigkeiten hatten, ihren Stimmenanteil zu halten oder gar zu erhöhen. Die wichtigste Konsequenz, die aus den Ergebnissen gezogen werden könnte, ist, dass die Position sowohl der PSOE als auch von Podemos geschwächt war, während diese Wahl dem rechten Flügel eine Gelegenheit zur Konsolidierung bot. Besonders besorgniserregend ist der Aufstieg der ultrarechten Vox-Partei, der vor allem dem Zusammenbruch der rechtsliberalen Partei Ciudadanos zu verdanken ist.
In der Wahlnacht schien es zwei zentrale Tendenzen zu geben – eine PSOE-Regierung mit Stimmenthaltung der PP oder eine PSOE und Podemos-Regierung. Eine PSOE-Podemos-Vereinbarung wurde allgemein als unwahrscheinlich angesehen, aber eine »Vorvereinbarung« wurde weniger als 48 Stunden nach Abschluss der Umfragen angekündigt.
PSOE und Podemos verfügten im spanischen Kongress nicht über die Mehrheit und mussten sich auf regionale Parteien verlassen, um deren Unterstützung zu erhalten, sowie auf die Stimmenthaltung der katalanischen und baskischen Unabhängigkeitsparteien, um eine Regierung zu bilden. Am 7. Januar 2020 waren alle Hindernisse beseitigt und Pedro Sanchez wurde zum Regierungschef gewählt.
Pro Unabhängigkeits-Parteien werden zu Hauptakteuren
Die Unabhängigkeits-Parteien aus den drei staatenlosen Nationen2 innerhalb des spanischen Staates, die die Erklärung von Llotja del Mar3 unterstützen, erhielten mehr als 2 Millionen Stimmen und 29 Sitze [ERC: 13, Junts per Cat: 8, EH Bildu: 5, CUP: 2 BNG: 1]. Diese Parteien sind in einer starken Position, um an einer gemeinsamen Lösung für die Territorialkrise im spanischen Staat zu arbeiten, da die Regierung ihre Stimmen oder ihre Stimmenthaltung benötigt. Grundlage der Zusammenarbeit sind die Minimalforderungen, die in der obigen Erklärung festgelegt sind.
Und diese Regierung wird sie brauchen, wenn sie sich ihrer vielfachen Krise stellen will, lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Krise nicht kurzfristig gelöst werden kann und wir mit herausfordernden Zeiten rechnen können. Infolge der wachsenden Präsenz der Rechten und des oben erwähnten Versuchs, den Status quo zu sichern, hat sich die Mehrheit der politischen Kräfte im spanischen Staat insgesamt nach rechts verschoben und die Tendenz zur Rezentralisierung hat zugenommen Diese Tendenzen kollidieren mit dem Willen zu mehr Selbstverwaltung in den staatenlosen Nationen des spanischen Staates.
Der spanische Staat befindet sich weiterhin in einer schweren politischen, wirtschaftlichen und territorialen Krise. Die Staatsverfassung von 1978, jenes Modell, das während des Übergangs nach dem Tod von Franco aufgestellt wurde, kann den Forderungen der Bevölkerung nicht gerecht werden. Dieses Wahlergebnis kann als Bestätigung dafür gelten.
Um den Status quo zu sichern, hatte der spanische Staat bislang darauf gesetzt, eine umfassende Gegenreform einzuleiten, welche die Einschränkung der Freiheiten, die Verletzung nationaler und sozialer Rechte und die Missachtung demokratischer Grundsätze enthielt. Ebenso wurde versucht, durch die dauerhafte Anwendung von Zwang und Androhung von Gewalt nationale, republikanische, Souveränitäts- und andere fortschrittliche Bestrebungen zu unterdrücken.
Die derzeitige Koalitionsregierung hat erklärt, dass sie all diese Probleme auf andere Weise angehen will und hat damit ein schmales Zeitfenster eröffnet, um die strukturellen Probleme im spanischen Staat auf vorausschauende, demokratische und nachhaltige Weise anzugehen.
Es gibt jedoch eine Lücke zwischen Worten und Taten. Diese Regierung muss ihren wahren Willen erst noch beweisen. Wenn sie wirklich bereit ist, auf eine vorausschauende, demokratische und nachhaltige Art und Weise zu arbeiten, werden die Frauen und Männer der Unabhängigkeits-Linken offen und bereit sein, ihr bei der Demokratisierung des Staates zu helfen. Sie sollte sich aber auch im klaren darüber sein, dass es keine Lösung für die aktuelle Staatskrise gibt, ohne das Recht auf Selbstbestimmung anzuerkennen.
Es scheint ein offenes Zeitfenster zu geben, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Fußnoten:
1 - Nach Angaben der ETA wurden während der Debatte fast 3000 Personen konsultiert, 1335 hatten ein Stimmrecht, 1077 stimmten ab: 997 mit Ja, 47 mit Nein, 33 enthielten sich.
2 - Gemeint sind die Nationalitäten Basken, Katalanen und Galizier
3 - (https://declaraciollotjademar.eu/english2/)