Wenn wir streiken, steht die Welt still. Wenn wir kämpfen, verändern wir die Welt!

Jeder Tag ist ein 8. März

Cenî – kurdisches Frauenbüro für Frieden


Demonstration in Istanbul mit Parolen wie: Es lebe der feministische Kampf!, Männer, geht nach Hause, kümmert euch um die Kinder!, Transfrauen sind Frauen!, Unsere Solidarität mit den Migrantinnen ist grenzenlos! Foto: anfDer 8. März wurde dieses Jahr mit der Kraft des letzten Jahres, in dem Millionen von Frauen und queers mit ihrer Energie die Straßen geflutet und den patriarchalen Normalzustand stillgelegt hatten, begangen. Besonders eindrücklich war dieses Jahr der Streik gegen den Feminizid in Mexiko. Am »Tag ohne Frauen« verweigerten Frauen ihre Beteiligung am patriarchalen System und blieben einen Tag lang dem öffentlichen Leben fern. Sie zeigten der mexikanischen Gesellschaft, wo statistisch gesehen jeden Tag 101 Frauen umgebracht und nur ein Fünftel der Täter verurteilt werden, wie es ist, »wenn ihr uns alle umbringt«. Und tatsächlich, in Fernsehsendungen traten nun anstatt der knapp bekleideten Frauen Männer in Anzügen auf, Männer bedienten, verkauften, putzten oder schlossen ihre Betriebe. Die Hauptstadt war im Ausnahmezustand, für die gesamte Gesellschaft war spürbar, dass etwas nicht stimmt, und das Thema Feminizid wurde (nicht nur an diesem Tage) heiß diskutiert. Dieser Streik war mit der Beteiligung von 22 Mio. Frauen, etwa 40 % der erwerbstätigen Bevölkerung in Mexiko,2 der größte Streik in der Geschichte Mexikos!

Auch andernorts in Lateinamerika und vielen Ländern Europas waren wieder Millionen von Frauen und queers auf den Straßen statt an ihren Arbeitsstätten oder bei der unbezahlten Sorgearbeit. Unter dem Motto »Wenn wir streiken, steht die Welt still!« demonstrierten sie einmal mehr, wie sehr sie das Leben der Gesellschaft prägen – und wie es aussähe, wenn sie nicht mehr wollen. Weltweit nutzten sie den internationalen Frauenkampftag, um ihren Forderungen an öffentlichen Plätzen mit vielfältigen Aktionen Ausdruck zu verleihen.

Möglichkeiten einer Alternative aufzeigen

Mit dem Motto »Frauen werden die Welt verändern!« hat sich auch die kurdische Frauenbewegung an vielen Orten der Welt selbstbewusst und bunt an den Protesten zum 8. März beteiligt und eine starke Perspektive gegeben. Der Widerstand der Frauen weltweit zeigte vor allem in den letzten Jahren die große Kraft von Frauen. Doch neben der Demonstration der eigenen Stärke in Form von Streiks und Massendemonstrationen, dem Lahmlegen des bestehenden Systems, braucht es eine Suche nach Lösungen. Es reicht nicht aus, gegen Feminizide, gegen die Abtreibungsgesetzgebung, gegen die Ausbeutung der Natur zu sein. Die Kämpfe der organisierten Frauen in Kurdistan zeigen eben diese Möglichkeit einer Alternative auf. Der Aufbau einer demokratischen, geschlechterbefreiten und ökologischen Gesellschaft unter Vorreiterinnenschaft der Frauen hat eine unglaubliche Kraft freigesetzt, und mittlerweile beziehen sich viele feministische Kämpfe weltweit auf die kurdische Frauenbewegung und lassen sich für ihre eigenen Kämpfe inspirieren. Damit bekommt die aktuelle Phase eine neue Ausrichtung: Wenn wir streiken, steht die Welt still – Wenn wir uns organisieren, verändern wir die Welt!

Auch in Deutschland standen die Themen Streik und Feminizid in den Aktionen und Demonstrationen im Vordergrund. 2019 war zum ersten Mal seit dem großen feministischen Streik 1994 wieder eine bundesweite Koordination von über 35 lokalen Streikkomitees aufgebaut worden, die auch 2020 ihre Aktivitäten fortgesetzt hat. Im Rahmen des feministischen Streiks wird nicht nur die viel zu schlecht bezahlte Arbeit niedergelegt, sondern vor allem auch unsichtbare, unbezahlte, als selbstverständlich angesehene Arbeit wie Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege von Angehörigen oder emotionale Unterstützung von Lebenspartnern bestreikt und damit sichtbar gemacht.

Ein weiteres Thema war die Gewalt gegen Frauen. Mit der seit dem internationalen Tag zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen am 25.11.2019 von Las Thesis in Chile in alle Welt ausgebreiteten Performance wurde das Thema Gewalt gegen Frauen von einer breiten Masse und mit einer ideologischen Tiefe wieder an prominente Stelle der feministischen Tagesordnung gesetzt. Im Text der Performance wird auf die Verantwortlichkeit der Nationalstaaten für Feminizide hingewiesen, ein Zusammenhang, der vor allem in den europäischen Ländern oft nicht mehr thematisiert wird. Der Text wurde von vielen Kollektiven aufgegriffen und den eigenen Lebensumständen angepasst. So wurde zum Beispiel der Text in Hinsicht auf die Kämpfe der kurdischen Frauen mit den Worten »Der Staat schützt mich nicht, meine Schwestern schützen mich!« und »Wir werden kämpfen, bis wir frei sind, bis wir alle frei sind!« ergänzt und zu einer kollektiv-ermächtigenden Ansage an alle patriarchalen Kräfte.

Eine weitere Besonderheit war die Beteiligung zahlreicher Christinnen, die im Rahmen der Kampagne Maria 2.0 mehr Gleichberechtigung in der Kirche ‒ unter anderem die Zulassung von Frauen zu allen Weiheämtern und die Aufhebung des Pflichtzölibats – fordern.

Einigkeit der Vielheit im Kampf

Wenn wir uns die Proteste der vergangenen Jahre vor Augen führen, können wir feststellen, dass die Kämpfe zum 8. März vielfältiger, bunter, kreativer, solidarischer, internationalistischer und vernetzter geworden sind. Wenn Millionen in Chile auf die Straßen strömen, verbreitet sich die Nachricht innerhalb von Sekunden in der ganzen Welt. Frauen und queers interessieren sich wieder mehr füreinander, beobachten sich, teilen sich mit und spüren sich überall auf der Welt. Der Schmerz der Unterdrückung, die alltägliche Erniedrigung, die Trauer um ermordete Freundinnen und die Wut über all dies sind zutiefst menschliche Gefühle, die keine Grenzen kennen. Genauso verhält es sich mit der Freude über Etappensiege wie den Streik in Mexiko, deren immense Bedeutung jedem*jeder Kämpfer*in klar ist und auch (noch) nicht aktive Frauen und queers mitreißt. Überall sind Bilder von Ketten bildenden, sich die Hände reichenden, tanzenden, schreienden, kämpfenden Frauen und queers zu sehen, welche unsere Herzen mit Begeisterung und Zuversicht erfüllen. Besonders der Zusammenhalt, die Einigkeit der Vielheit im Kampf ist das, was diese neue Bewegung so stark macht. Das jahrzehntelange Ringen um das feministische Subjekt trägt heute die Früchte der teilweise erbittert geführten Auseinandersetzungen auf die Straße. Die Erkenntnis, dass wir alle verschieden sind und dennoch in dieser Verschiedenheit alle unter dem gleichen System von Unterdrückung, Ausbeutung, Erniedrigung, Gewalt – kurz dem Patriarchat – großes Leid erfahren und in vielerlei Hinsicht unsere Lebendigkeit verlieren, entfaltet nun ihre Wirkung. In den vielen Auseinandersetzungen und Kämpfen wurde das System von Herrschaft mit seinen Methoden der Spaltung, Zerstückelung, Assimilation und Verinnerlichung von Herrschaft erkannt, und es werden neue Methoden der Organisierung entwickelt. Der Gleichmachung als Herrschaftsprinzip wird das Prinzip der organisierten Vielfalt entgegengesetzt, die eine viel größere Stärke und Dynamik entwickeln kann. Mit diesen Erkenntnissen können wir auch sagen, dass die Kämpfe radikaler geworden sind, sie stoßen immer weiter an die Wurzel der Probleme vor. Die Radikalität der feministischen Kämpfe zeigt sich auch an der Zunahme der Polizeigewalt gegen sie. Wurden sie anfangs noch unterschätzt und eher belächelt, wird auch den Hütern der bestehenden Ordnung langsam klar, dass Frauen und queers nicht aufzuhalten sind, wenn sie einmal Feuer gefangen und die Schönheit des Kampfes kennengelernt haben.

Auch in Deutschland sind diese positiven Entwicklungen zu beobachten. Wir können auch hier eine Zunahme der Internationalität der Proteste, eine größere Vielfalt an beteiligten Gruppen und damit Themen und eine stärkere Bezugnahme auf Widerstände weltweit sowie insgesamt eine bessere Vernetzung untereinander, regional wie überregional und international, erkennen. Auch in Deutschland werden die Kämpfe wieder radikaler, wird zunehmend die Systemfrage gestellt, werden ökologische, antirassistische und antifaschistische Kämpfe als Teil des feministischen Kampfes wahrgenommen.

Dennoch bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung und Verbesserung in einigen Punkten. Es wurde erkannt, dass wir alle mit unserer Unterschiedlichkeit unterdrückt werden und dass das Prinzip und die Methoden der Herrschaft das Problem sind. Es ist wichtig, auf dieser Grundlage zusammenzukommen und anhand der unterschiedlichen Erfahrungen das Prinzip Herrschaft besser und noch tiefer zu verstehen. Paradoxerweise kommt der frauenfeindliche Charakter von Herrschaft dabei häufig zu kurz, weil er zu biologistisch verstanden wird. Gewalt gegen Frauen und die (ideologische) Abwertung alles Weiblichen müssen unbedingt zusammen als grundlegend für das Patriarchat verstanden werden. Das Patriarchat ist ein Gesellschaftssystem, das auf der Ausbeutung der Fähigkeiten von Frauen beruht und alle zu vernichten sucht, die sich nicht zum ausbeutbaren Objekt degradieren lassen. Frauen, die Leben geben und erhalten, wurden (und sind) die notwendige Ressource für den Erhalt und die Fortführung von Herrschaft. Deshalb mussten ihre Sexualität und ihr freier Wille unbedingt unter Kontrolle gebracht werden. Das geschah zum einen mit der furchtbarsten Gewalt, der Auslöschung der matriarchalen Lebensweise durch unzählige Feminizide, »Hexen«verfolgungen und systematischen Frauenmorden. Zum anderen wurde ein immer ausgefeilteres ideologisches Legitimationssystem aufgebaut, das die Unterwerfung von Frauen, die Kontrolle der Sexualität zur Reproduktion des Patriarchats, die damit verbundenen vorherrschenden Geschlechterverhältnisse und die starren Geschlechterrollen rechtfertigt und aufrechterhält. Das Patriarchat ist nicht der Kampf von Mann gegen Frau. Es ist ein System, das sich ständig mit ideologischer und physischer Gewaltanwendung aufrechterhält.

Bewusstsein und eine neue Lebensweise entwickeln

Frauenmorde passieren meist dann, wenn Frauen sich trennen und nach ihrem eigenen Willen leben (wollen). Frauen, die wie Ursula von der Leyen zum Teil des Systems geworden sind und sich alle widerständigen »weiblichen« Eigenschaften abtrainiert haben, dürfen existieren und sind sogar die beste Propaganda für das liberalisierte Patriarchat. Männer, die mit ihren »weiblichen« Seiten das dichotome System in Frage stellen, werden bis ins Unvorstellbare erniedrigt. Manchmal merken wir gar nicht, wie sehr wir dieses System verinnerlicht haben und reproduzieren. Wir führen unsere Auseinandersetzungen oft mit einer dogmatischen und zerstörerischen Härte und emotionalen Kälte, die kennzeichnend für das patriarchale System sind. Die dominante Männlichkeit ist eben keine biologische Eigenschaft, sondern ist in uns allen zu finden – und zu überwinden. Deshalb ist es auch notwendig, diejenigen Kräfte in uns wiederzuentdecken, die nicht auf Zerstörung und Ausbeutung beruhen, sondern auf gegenseitiger Förderung, gemeinsamem Lernen, Kämpfen und Wachsen, Zusammenhalt und Liebe für das Schöne in unseren Weggefährt*innen. Kräfte, die wir für den Aufbau einer anderen Welt einsetzen – und eben nicht für die eigene Überlegenheit oder den eigenen Erfolg innerhalb des patriarchalen Systems. Feministisch kämpfen heißt eben auch, ein neues Bewusstsein und eine neue Lebensweise zu entwickeln und die Definitionen dessen, was als weiblich und männlich gilt, was als Sinn unserer Leben gilt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, wer das Recht zu sprechen und zu entscheiden hat, nicht länger anderen zu überlassen. Die tiefere Auseinandersetzung mit der Entstehung des Patriarchats und des Widerstands dagegen sowie seiner Aktualisierungen im Monotheismus, Kolonialismus und Kapitalismus würde einen großen Gewinn für den Aufbau eines neuen Bewusstseins und einer neuen Lebensweise darstellen.

Jeder Tag ist ein 8. März

Angesichts des Ausmaßes unseres Vorhabens, die Welt zu verändern, fällt auf, dass die feministischen Kämpfe sich noch zu sehr auf Aktionen zum 8. März begrenzen. Der 8. März wird mit einer unermüdlichen Begeisterung liebevoll und kreativ vorbereitet und sehr viele junge Frauen und queers entdecken dabei ihre Fähigkeiten und den Spaß am kollektiven Gestalten und Organisieren. Doch oftmals scheint nach dem 8. März erst einmal alle Kraft aufgebraucht zu sein und lange Zeit passiert nicht mehr viel. Öffentlich kommunizierte Analysen und Auswertungen des 8. März gibt es nur in wenigen Städten, auf bundesweiter Ebene fehlen sie vollständig und werden damit den gängigen Medien mit ihrer antifeministischen Berichterstattung überlassen. Bislang wurden nur an sehr wenigen Orten feministische Komitees oder Frauenräte aufgebaut, welche die Erkenntnisse und vielfältige Kraft der breiten Bündnisse für die Verteidigung von Frauen und queers und die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens vor Ort einsetzen. Damit bleibt der Eindruck, dass trotz der immer tiefer gehenden Kritik am patriarchalen System die Suche und der Aufbau von Alternativen noch nicht ernsthaft aufgenommen wurden. Der 8. März erlebt zwar seit einigen Jahren ein Revival, aber diese Kraft gemäß der Devise »Jeder Tag ist ein 8. März!« auf das ganze Jahr zu übertragen und in alle Gesellschaftsbereiche organisiert einzubringen, ist bislang noch nicht zufriedenstellend gelungen. Das patriarchale System als ein System zu identifizieren, das unsere gesamte Lebensweise prägt und uns alle unterdrückt, würde auch bedeuten, sich nicht nur auf sogenannte Geschlechterfragen begrenzen zu lassen (die im frauenfeindlichen, dichotomen, heteronormativen Patriarchat nie gelöst werden können!), sondern den Aufbau einer alternativen Gesellschaft in allen Bereichen mitzugestalten. Politisches Subjekt zu sein statt sexuelles Objekt. Gerade Migrant*innen und Frauen aus dem globalen Süden und v. a. den Gebieten, in denen die Hegemonialmächte ihre Kriege führen, sehen eine große Notwendigkeit, schnell, organisiert und entschlossen zu handeln. Die Morde in Hanau, die Organisierung der sog. neuen Rechten auch in staatlichen Strukturen wie Polizei, Militär und Verfassungsschutz können nicht mehr ignoriert werden und brauchen eine starke Antwort. Eine entschlossene und tragfähige Organisierung ist notwendig, und sie muss im alltäglichen Leben begonnen werden. Denn noch immer setzen die meisten Frauen den Großteil ihrer Energie und Anstrengungen für andere – den Arbeitgeber, den Partner, die Familie, die Kinder – ein, anstatt für sich und den gemeinsamen Kampf für eine andere Welt. So bleiben wenig Zeit und Kraft für Organisierung und gegenseitige Solidarität. Ein wichtiger Schritt wäre also, wenn sich alle Frauen und queers, die für eine Alternative zum Patriarchat auf die Straße gehen, sich ihrer eigenen Ressourcen bewusster werden und sie nicht mehr unbewusst und aufopferungsvoll der Aufrechterhaltung des patriarchalen Systems frei zur Verfügung stellen, sondern entsprechend ihrem eigenen Willen zur Veränderung der Welt einsetzen. Es braucht mehr Frauen und queers, die entschlossene Schritte aus dem System gehen und die Welt verändern. Die dafür nötige Kraft kommt aus unserer Lebensweise, aus der Energie, die wir für den Aufbau einer neuen Welt geben und die Tag für Tag und mit jedem*jeder Weggefährt*in neue, schöne Züge annimmt. So können die dringend notwendigen Analysen, Bewertungen und vor allem gelebte Solidarität, der Aufbau von Alternativen realisiert werden, und die am 8. März aufkeimenden Träume und Hoffnungen können zur gelebten Utopie werden. Denn jeder Tag ist ein 8. März!

Fußnoten:
1 - 2018
2 - Unternehmerverband Coparmex